Afghanistan: Zwischen zwei Monstern

Nr. 36 –

Lokale Aufstände gegen die Herrschaft der Taliban werden von der afghanischen Regierung instrumentalisiert. Die anfängliche Hoffnung auf Befreiung hat sich zerschlagen. Die Bevölkerung gerät zwischen die Fronten.

Der Fünfzehnjährige wedelt mit den Armen, als wir von Mirai aus nach Süden ins nächste Dorf fahren wollen: «Seid ihr neu in der Gegend? Fahrt nicht direkt ins Dorf, nehmt die Umleitung hinten herum. Die Arbaki belästigen Durchreisende und könnten euch was tun.» Mirai ist eine Kleinstadt, die zum Distrikt Andar und zur Provinz Ghazni gehört. Die Arbaki gelten als regierungstreue Milizen.

Schon Hadschi Saifullah, ein 55-jähriger Ladenbesitzer in Mirai, hatte uns vor der Fahrt durch Andar gewarnt: «Du musst eine Karte in deinem Kopf haben, die zeigt, welches Dorf den Taliban gehört und welches den Arbaki.» Unterscheiden kann man beide Gruppen kaum, denn sie tragen die gleiche ortsübliche Zivilkleidung.

Im Distrikt Andar, der rund zwei Stunden Autofahrt südlich von Kabul liegt, hatten seit Jahren die Taliban geherrscht. Die Regierung hatte wenig zu sagen. Doch im April übernahm eine Gruppe bewaffneter junger Leute aus der Gegend die Macht. Hoffnung auf eine Befreiung von der puritanischen und selbst in dieser konservativen Gegend als bedrückend empfundenen Talibanherrschaft machte sich breit. Doch ein paar Monate später zerschlug sich diese.

Der angeblich spontane Aufstand der Arbaki könnte Vorbote einer neuen Unübersichtlichkeit sein, die sich nach dem Abzug der westlichen Kampftruppen gegen Ende 2014 in Afghanistan einstellen könnte. Es besteht die Gefahr, dass im Land bald eine Vielzahl autonomer bewaffneter Gruppen in wechselnden Allianzen operieren wird.

Hilfe der US-Truppen

Andar war einst ein beliebtes Ausflugsgebiet für die BewohnerInnen der nahe gelegenen Provinzhauptstadt Ghazni. Mitte August, zum festlichen Ende des Fastenmonats Ramadan, zeigt sich besonders eindrücklich, wie tief greifend die Taliban das Leben dort verändert haben. Einst lebendige Basare sind verwaist, nichts ist mehr zu sehen von picknickenden Familien und von Männern, die zum Klang der Trommeln den Paschtunentanz Atan aufführen. Es gibt auch keine Reiterspiele und Ringkämpfe mehr. In einige Dörfern, durch die wir fuhren, war es so ruhig, als ob gar kein Feiertag wäre.

Der Aufstand der Arbaki scheint die Unsicherheit und das Misstrauen in der Bevölkerung eher noch verstärkt zu haben. «Zuerst waren sie wirklich populär», sagt Muhammad Wasir, Automechaniker in der Kleinstadt Tschardiwal, über die Aufständischen. «Ich kenne ein paar von den Jungen als ehrliche Leute. Es begann als eine gute Sache, aber dann haben frühere Kommandanten und die Regierung daraus Fraktionsmilizen gemacht.»

Der Anführer des Aufstands, der 35-jährige Rahmatullah, gehörte früher selbst zu den Taliban. Erst war er ein örtlicher Kommandant, dann arbeitete er in der Bildungsverwaltung der Taliban für die Provinz. Freunde Rahmatullahs, mit denen die WOZ in Kabul sprach, erzählen, dass er mit den Taliban brach, als sie begannen, Schulen zu schliessen und Entwicklungsprojekte zu verhindern. Auch missfiel Rahmatullah, dass die Taliban den BewohnerInnen Andars untersagten, nach Kabul und sogar in die Nähe von Ghazni zu fahren – sie befürchteten Spitzeltätigkeit.

Rahmatullahs Kämpfer nahmen in einer ihrer ersten Aktionen eine Gruppe durchziehender pakistanischer Taliban gefangen. Ihre Popularität stieg weiter, als sie die Schulen wieder öffneten. Weitere Kämpfer schlossen sich ihnen an. Rahmatullahs Aufständische wollten anfänglich mit der afghanischen Regierung nichts zu tun haben. Doch als die Taliban begannen zurückzuschlagen, nahmen sie doch Hilfe aus Kabul an und liessen sich sogar von US-Truppen mit Waffen und Munition versorgen. Das liess ihre Popularität schrumpfen.

Alte Machthaber übernehmen

Als Rahmatullah während der Kämpfe mit den Taliban verwundet wurde und sich in Kabul behandeln lassen musste, stiess eine Gruppe von früheren Lokalpolitikern in das Machtvakuum. Als Mitglieder der Islamischen Partei (IP) hatten sie Andar vor der Machtübernahme der Taliban beherrscht. Auf nationaler Ebene ist ihre Partei in zwei Flügel gespalten: Die eine Fraktion ist mit Präsident Hamid Karzai verbündet, stellt sogar einige seiner engsten Berater, während die andere mit Waffen gegen Karzai kämpft. Viele AfghanInnen argwöhnen jedoch, dass beide Flügel in Wirklichkeit immer noch am gleichen Strang zögen. «Die wollen wieder die Macht in Kabul übernehmen», sagt der Vorsitzende einer prodemokratischen Partei in Kabul, der lieber ungenannt bleiben will.

Zu einer Schlüsselfigur in Andar wurde Faisanullah Faisan, der ehemalige Gouverneur von Ghazni. «Ich selbst habe Rahmatullah ermutigt, mit den Taliban zu brechen», behauptet Faisan heute. Und er sagt, dass er die Unterstützung von Stammesminister Assadullah Chaled gewonnen habe, der eng mit den USA kooperiert. Faisan stellt sich heute als Kommandant der bewaffneten Gruppen in Andar dar, die er nun «Nationale Aufstandsbewegung» nennt. «Wir nennen uns national, weil wir Afghanen sind und die Taliban von Pakistan unterstützt werden», sagt er.

Auf dem Buckel der Leute

Inzwischen werden ähnliche Aufstände wie in Andar aus mindestens sechs weiteren Provinzen Afghanistans gemeldet, aus Laghman und Nangrahar im Osten, Paktia und Logar im Südosten, Kandahar im Süden, Farjab im Norden. In Badghis und Ghor im Westen und Nuristan im Osten ging die örtliche Bevölkerung, angeführt von StudentInnen, gegen Schulschliessungen der Taliban auf die Strasse. Doch Kommandant Faisan hat damit höchstens indirekt zu tun. In einigen Fällen reiten frühere Mudschaheddinkommandanten auf der Anti-Taliban-Welle.

Der Vorbeter einer Dorfmoschee in Andar, der seinen Namen nicht sagt, fühlt sich inzwischen wie zwischen Hammer und Amboss. Neulich sollte er die Gebete für ein Arbaki-Mitglied lesen, das von Taliban getötet worden war. «Ich habe ihnen gesagt, ich wäre krank», erzählt er. «Ich hätte sonst den Befehl der Taliban verletzt, den Arbaki kein islamisches Begräbnis zu geben», begründet er sein Vorgehen. Doch er weiss, dass ihm das auch nicht hilft: «Die Arbaki bedrohen uns als Talibanfreunde, wenn wir uns weigern, mit ihnen zusammenzuarbeiten.» Inzwischen hat er seinen geistlichen Job aufgegeben.

Ein weissbärtiger Mann aus dem Dorf Pajendi, das von Arbaki kontrolliert wird – auch er will seinen Namen nicht verraten –, beklagt sogar, dass die Miliz «die Ordnung der Taliban gestört» habe. «Die hatten Mullahs und Richter, Distriktchefs und andere Behörden, die sich der Probleme der Leute annahmen. Die Arbaki sind nicht so gut organisiert wie sie.»

«In vielen Dörfern sind nachts Türen eingetreten und Männer aufgegriffen worden, manchmal von den Taliban, manchmal von den Arbaki. Keiner von denen hat Mitleid mit den Leuten. Es ist ein rachsüchtiger Kampf geworden», berichtet Hadschi Wadud, ein Bauer aus dem Dorf Nasar Khan. «Wir haben den schlimmsten Ramadan hinter uns.»

«Wir sind zwischen zwei Monstern gefangen, die beide alleine herrschen wollen», sagt auch Abdul Nabi, ein Lehrer im Dorf Godali. In den letzten Wochen hätten viele ihre Häuser in jenen Dörfern verlassen, in denen die Arbaki die Macht übernommen haben. «Sie wollen auf keiner der beiden Seiten stehen.»

Massaker statt Mässigung

Verschiedene Morde in letzter Zeit haben die Bemühungen der Talibanführung untergraben, als etwas gemässigte Kraft aufzutreten. So haben in der Nacht zum 27. August Bewaffnete im südafghanischen Roschanabad siebzehn Menschen umgebracht. Angeblich hatten die jungen Männer und Frauen gemeinsam gefeiert. Einige wurden erschossen, anderen wurde die Kehle durchgeschnitten. Auch wenn sie die Tat abstritten, lässt die Vorgehensweise die Taliban, welche die Gegend in der Provinz Helmand kontrollieren, als Täter vermuten.

Die Taliban brauchen die Akzeptanz der AfghanInnen, um wieder an die Macht zu kommen, sei es allein oder über eine Machtteilung mit der Regierung Karzai. Das Massaker von Roschanabad schadet ihnen deshalb politisch ebenso wie der Überfall auf ein Ausflugslokal bei Kabul und die Enthauptung einer angeblichen Ehebrecherin in der Provinz Parwan im Juni. Bedenklich ist, dass sich in Roschanabad und Parwan offenbar Familienangehörige an den Morden beteiligten.