Generationenhaus: Das Altersheim, das keines ist

Nr. 40 –

Alt werden in den Bergen, mit Kindern und Feriengästen: Im Oberwalliser Dorf Ernen plant eine Bauernhofgemeinschaft ein Haus, in dem SeniorInnen nicht unter sich bleiben werden.

Sie werden den Alltag mit den BewohnerInnen des Generationenhauses teilen: Sophie, Ingrid Schmid Birri, Philipp Birri, Valentin und Léonie (im Uhrzeigersinn).

Es ist bald 25 Jahre her, dass sie in Ernen auftauchten. Sie waren jung, drei Männer und zwei Frauen, sprachen Luzerner Dialekt, und eigentlich wollten sie bauern. Aber Land hatten sie keines, Geld auch nicht, und die DorfbewohnerInnen waren misstrauisch. So gingen die Männer erst mal holzen und widerlegten mit harter Arbeit allfällige Hippieklischees. Ein paar verstreute Parzellen ums Dorf konnten sie dann doch pachten, mit der Zeit wurden es immer mehr. Als einer der Männer auch noch die Posthalterin des Dorfs heiratete, waren sie endgültig im Oberwallis angekommen. Doch da hatten sie längst die Betriebsgemeinschaft Bergland-Produkte gegründet, hielten Pro-Specie-Rara-Tiere, tüftelten an immer neuen biologischen Teemischungen und boten Maultiertrekking ins Binntal und über die Grenze nach Italien an.

Heute sind die Spuren der BergländerInnen in Ernen unübersehbar: Rund ums Dorf wachsen auf kleinen Feldern Federkohl und Kürbis, blühen Korn- und Ringelblumen, Griechischer Bergtee, Ysop und über zwanzig weitere Gewürz- und Teekräuter, fleissig besucht von den eigenen Bienen. Im Laden «Waren aller Art» steht Bergländerin Pia Heller und verkauft Bioprodukte. Der «St. Georg», die Dorfbeiz mit vierzehn Gault-Millau-Punkten, serviert verrückte Gerichte wie Sonnenblumen im Teig oder Kohlenschafkäse mit Unkraut und verwendet dafür wenn immer möglich Bergland-Gemüse. Unterhalb des Dorfs hüpft das erste Herbstlamm in einer Herde von braunen Walliser Landschafen herum. Dort weiden auch die Maultiere, wenn sie nicht gerade Touristenkinder auf dem Rücken tragen, angeleitet von Bergländerin Daniela Corbellini. Die Kühe sind noch auf der Alp.

Leben wie zu Hause

Unterhalb des Dorfs steht ein neues Holzhaus. Darin wohnt Ingrid Schmid Birri, die Posthalterin, die heute Postunternehmerin ist, mit ihrem Mann, Bergland-Landwirt Philipp Birri, und drei Kindern. Drunter und drüber geht es an diesem Samstagmorgen. Der vierzehnjährige Valentin will das Wochenende mit einem Freund und einem Stapel DVDs auf der Alp verbringen, die Mutter hat ihm eine grosse Kiste mit Chips und anderen Leckereien vorbereitet. Die zwölfjährige Sophie möchte, dass ihr die Mutter bei den Hausaufgaben hilft, hat aber einen Teil des Materials in der Schule vergessen. Die quirlige zehnjährige Léonie verabschiedet sich überschwänglich von ihrem Vater, obwohl der nur schnell den Sohn auf die Alp bringt.

Das neue Haus ist erst der Anfang. Schon nächstes Jahr soll daneben ein grösserer Gebäudekomplex im gleichen Stil entstehen, ebenfalls aus Holz: das Generationenhaus. Ein Wohnsitz für ältere Menschen, zugleich Ferienhaus, auch für Behinderte, vernetzt mit dem Bauernhof von Bergland-Produkte.

«Vor acht Jahren wurde mein Vater krank», erzählt Ingrid Schmid Birri. «Wir überlegten, ob wir ihn bei uns zu Hause pflegen könnten, aber er starb schon kurz darauf. Damals begannen wir zu diskutieren, wie wir eigentlich selber alt werden wollen.» Zur gleichen Zeit liess sich Ingrid zur Postunternehmerin ausbilden. «Dabei mussten wir lernen, Businesspläne aufzustellen, komplett mit Marktanalyse und allem. Da dachte ich, ich wende das gleich für etwas an, was wir brauchen können.» Sie schrieb einen Businessplan für das Generationenhaus. 2006 gründeten die BergländerInnen die Aktiengesellschaft dazu, die Berglandhof AG.

«Immer mehr Leute wehren sich dagegen, im Alter bevormundet zu werden», sagt Ruedi Schweizer, Bergland-Landwirt und Verwaltungsratspräsident der Berglandhof AG. «Für sie ist das Generationenhaus ideal.» Fünfzehn Wohnungen zwischen 25 und 95 Quadratmetern sollen entstehen, davon etwa die Hälfte als Alterswohnungen. Dazu kommen ein Wellnessbereich und eine Cafeteria, wo auch Familie Schmid Birri essen wird.

Falls BewohnerInnen Pflege brauchen, will die Berglandhof AG vorerst mit der Spitex zusammenarbeiten, später eventuell selber Pflegepersonal anstellen. «Natürlich gibt es Grenzen», sagt Schweizer, «Spitalinfrastruktur können wir nicht bieten. Aber grundsätzlich soll es möglich sein, bis zum Tod hier zu bleiben.» Entscheidend sei, dass die Leute hier leben könnten wie zu Hause, ergänzt Philipp Birri. «Es müssen nicht alle um sieben Uhr aufstehen und pünktlich am Tisch sitzen wie im Altersheim.» Erste InteressentInnen haben sich angemeldet – aus dem Wallis, aus der Innerschweiz, aber auch aus Berlin. «Eine Interessentin hat im Laufe ihres Lebens ein Zimmer voll Bücher gesammelt», erzählt Birri. «In ein Altersheim könnte sie die nicht mitnehmen. Aber wir haben gerne eine Hausbibliothek!»

Die Berglandhof AG bietet verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten an: von der einfachen Miete bis zum Vollmietdarlehen. Dabei bezahlen BewohnerInnen für 25 Jahre im Voraus, wenn sie länger leben, wohnen sie gratis. Für eine Wohnung mit 72 Quadratmetern kostet ein Vollmietdarlehen nach heutiger Planung 335 380  Franken, die Monatsmiete 1117 Franken. «Wenn wir mehr Leute finden, die das Generationenhaus unterstützen, werden wir die Preise senken», sagt Ruedi Schweizer. Der ganze Bau wird rund 6,3 Millionen kosten. Wer im Generationenhaus Urlaub machen will, kann das Projekt heute schon unterstützen und bezahlt später weniger für die Ferien.

Nicht nur für Steiner-Fans

Es tut ein bisschen weh, sich die Wiese unterhalb des Dorfs, zwischen Obstbäumen und typischen Walliser Bewässerungskanälen, mit Gebäuden und Parkplatz vorzustellen. Aber die Aussicht auf die Gipfel des Aletschgebiets, die Wälder und den Erner Galgenhügel wird toll sein. Die Berge sind hoch, trotzdem wirkt das Tal nicht eng. Und sie halten den Regen ab: Das Klima ist trocken, sonnig und für 1200 Meter Höhe erstaunlich warm – die BergländerInnen ernten Tomaten und Auberginen.

So wie die Betriebsgemeinschaft Bergland das Dorf prägt, soll sie auch das Generationenhaus prägen: «Die Leute sollen sich möglichst lange einbringen können: Sie können reiten, etwas Handwerkliches machen, bei der Ernte der Blumen helfen, was immer sie wollen», sagt Ruedi Schweizer. Für rüstige SeniorInnen seien auch Teilzeitanstellungen auf dem Hof oder für Abwartsjobs möglich. «Das Generationenhaus garantiert ein soziales Umfeld bis ans Lebensende.» Für das Einmachen, Trocknen, Lagern und die Fleischverarbeitung sind im Generationenhaus neue Räume geplant. «Da stossen wir schon lange an Grenzen», sagt Schweizer. «Heute erfriert uns regelmässig ein Teil der Kürbisse, weil wir keinen Lagerraum haben, der gross genug wäre.»

Das Haus der Birris ist ganz aus massivem Fichtenholz gebaut, aussen wettergeschützt mit Schindeln aus kanadischer Zeder. Das Generationenhaus wird ähnlich aussehen. Die Isolation besteht aus dem günstigsten Material überhaupt: Luft. Energetisch sei das Haus mit Minergiehäusern vergleichbar, sagt Ingrid Schmid Birri. «Aber wir wollten ein Material, das atmet.» Auch innen ist alles aus Holz, sogar das Lavabo und die Duschkabine. Es wirkt wohnlich und hell – aber als frühmorgens die Kinder wach werden, ist es mit der Ruhe vorbei. Im Generationenhaus wird die Schalldämmung besser sein, beruhigt Schmid Birri.

Die schrägen Fenster, die eigenwillige Form – rund ums Goetheanum, das anthroposophische Zentrum im solothurnischen Dornach, stehen ähnliche Häuser. Tatsächlich wurden das Generationenhaus und das Wohnhaus von Familie Schmid Birri im Stil der organischen Architektur entworfen. Und die Betriebsgemeinschaft Bergland wirtschaftet biodynamisch, mit dem anthroposophischen Demeter-Label. Ist das Generationenhaus nur etwas für eingefleischte Rudolf-Steiner-AnhängerInnen, die den Tag mit Eurhythmie begrüssen?

«Nein, überhaupt nicht», widerspricht Ruedi Schweizer. «Wir sind überzeugt, dass die Mond- und Sternenkonstellationen einen Einfluss auf die Gesundheit von Pflanzen und Tieren haben, darum bauern wir biodynamisch. Aber was die ganze Philosophie darum herum betrifft, bin ich kein Anthroposoph.» «Ich auch nicht», bekräftigt Philipp Birri. «Wir sind praktische Demeters.» Wie der Alltag im Generationenhaus aussehen werde, hänge ganz von den BewohnerInnen ab.

Die Kinder müssen nicht

In zehn Jahren werden die Kinder aus dem Haushalt von Schmid Birri ausgezogen sein. Ein Generationenhaus ohne junge Generation? «Nein, dann gehen wir hier auch raus, damit eine neue Bauernfamilie das Haus übernehmen kann», sagen die Eltern. Hoffen sie, dass eines der Kinder Interesse hat? «Sie sollen machen, was sie wollen», sagt Ingrid Schmid Birri mit Nachdruck. «Ich habe die Post von meinem Vater übernommen. Wir erwarten so etwas nicht von unseren Kindern.»

Zurzeit sind es vor allem Auswärtige, die sich für einen Wohnsitz im Generationenhaus interessieren. Was ist mit den Einheimischen? Schmid Birri sagt: «Die alten Leute im Dorf möchten so lange wie möglich im eigenen Haus bleiben. Im Winter, wenn die Wege vereist sind, haben sie Angst vor Stürzen. Das führt dazu, dass sie nur einmal im Tag kurz einkaufen gehen, vielleicht noch einen Kaffee trinken – den Rest der Zeit verbringen sie allein daheim.» Das Generationenhaus soll auch als Winterresidenz dienen können, findet sie, zumindest für einige Jahre, bis die Leute definitiv einziehen.

«Ich glaube, viele können es sich noch nicht vorstellen. Die Häuser müssen erst mal stehen, und wenn dann eine, zwei aus dem Dorf darin wohnen, kommen andere auch.»

www.bergland.ch / www.berglandhof.ch

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