Medientagebuch: Nie wieder «allochtoon»

Nr. 40 –

Tobias Müller über die Sprachpolitik einer belgischen Tageszeitung.

Wenn eine redaktionelle Mitteilung zur landesweiten Schlagzeile gerät, muss sie einige Brisanz enthalten. So war es neulich im Fall des linksliberalen «De Morgen», eines der grössten Blätter im niederländischsprachigen Norden Belgiens. «Warum wir ‹allochtoon› nicht mehr gebrauchen» titelte es am 20. September. Die Gründe hatte Chefredaktor Wouter Verschelden am Vorabend auch im Fernsehen genannt: «Stigmatisierend, negativ behaftet und nicht zutreffend» sei das Wort. «‹Allochtoon› heisst wörtlich ‹nicht von hier›.» Aber man benutze es für die Nachkommen von EinwanderInnen noch «in der dritten, vierten Generation».

«Allochtoon» ist als Bezeichnung für MigrantInnen eine Besonderheit des niederländischen Sprachraums; der Begriff wird tatsächlich pauschal nicht nur für EinwanderInnen verwendet, sondern auch für deren Kinder und EnkelInnen, egal ob sie im Land geboren wurden oder wie lange sie dort schon leben. Dabei gibt es durchaus Abstufungen: In der Praxis benutze man das Wort «nicht für Niederländer, Franzosen oder Deutsche», so erklärt «De Morgen». «Allochtoon» sei vielmehr ein Codewort für «Muslim, niedriger Ausbildungsgrad, schlechte Chancen, Araber, Nordafrikaner, Nichteuropäer».

In die AusländerInnendebatte eingeführt wurde dieser Begriff 1971. Bis dahin war er vorwiegend in den Naturwissenschaften verwendet worden – das schien damals ein Ausdruck für Neutralität bei einem Thema zu sein, von dessen zukünftiger Brisanz man wohl noch keine Ahnung hatte. Vierzig Jahre später ist das Wort längst zum politischen Kampfbegriff geworden. Xenophobe Politiker des Vlaams Belang (Flämische Interessen) in Belgien oder der Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) in den Niederlanden bedienen sich gewohnheitsmässig seiner. «Politisch korrektes ‹Neusprech›», meinte daher der Vlaams Belang über das Vorhaben der Zeitung «De Morgen».

Die übrigen Reaktionen waren bemerkenswert positiv. «Eine schöne und mutige Initiative», sagte der italienisch-stämmige Premier Elio Di Rupo. Und Joёlle Milquet, belgische Ministerin für Inneres und Chancengleichheit, forderte in einem Schreiben alle übrigen Print- und Rundfunkmedien auf, sich «De Morgen» anzuschliessen. Die Ministerin lud JournalistInnen zu einem Treffen ein, um die Rolle der Medien «bei der Wahrnehmung von Minderheiten und Rassismusbekämpfung» zu diskutieren. Auch konservative Politiker begrüssten die Initiative und regten an, künftig von «neuen Belgiern» zu sprechen.

Unterstützung gab es nicht nur aus der Politik. Vincent Kompany, Captain von Belgiens Fussballnationalmannschaft, drückte auf Facebook «Bewunderung» aus: «Ein Belgier ist ein Belgier, ungeachtet der Herkunft», so der Sohn eines kongolesischen Vaters. «Lasst uns nach vielen Rückschritten einen Schritt vorwärts machen und den Begriff ‹allochtoon› begraben.»

Anders sieht das allerdings Dirk Jacobs, Soziologieprofessor an der Université libre de Bruxelles. «Im Kampf für gleiche Chancen und gegen Diskriminierung ist Kategorisierung unvermeidlich, und bessere Begriffe haben wir vorläufig nicht», sagt er. – Dass die Debatte sich nicht nur um die Terminologie, sondern auch um Inhalte drehen sollte, mahnte «De Morgen» indes selbst an. Unter der Begründung der Redaktion veröffentlichte das Blatt am selben Tag eine Karikatur: Ein Mann, der zufrieden von seiner Zeitung aufblickt und sagt: «Gelöst: Es sitzen keine Allochtonen mehr im Gefängnis.»

Tobias Müller schreibt 
für die WOZ aus Amsterdam.