Kommentar von Thomas Ruttig: Das «Ende des Kriegs, wie wir ihn kennen»

Nr. 44 –

In Afghanistan ist der teilweise Abzug der Nato-Truppen im Gang. Ohne tief greifende Reformen droht dem Land am Hindukusch ein Bürgerkrieg unterschiedlicher Fraktionen der Armee und von Milizen.

Die letzten der 33 000 Soldaten, die US-Präsident Barack Obama Anfang 2010 zusätzlich nach Afghanistan schickte, um die Aufstandsbewegung der Taliban in die Defensive zu drängen, haben im September das Land wieder verlassen. Die Massnahme habe «ihre Ziele erreicht», verkündete Verteidigungsminister Leon Panetta Anfang Oktober. General Martin Dempsey, Chef des Vereinigten Generalstabs und somit oberster militärischer Berater des Präsidenten, präzisierte, man habe «Zeit für ein paar Taliban-Initiativen und Raum zur Verstärkung der afghanischen Sicherheitskräfte kaufen können».

Damit soll suggeriert werden, man habe die Situation im Griff und könne, wie angekündigt, Ende 2014 die meisten Nato-Kampftruppen abziehen, ohne dass die Regierung in Kabul zusammenbreche. Die jetzige Nato-Mission wird 2014 auslaufen, aber eine neue Mission zur Ausbildung, Unterstützung und Ausrüstung der afghanischen Streitkräfte wird sie ablösen. Ausserdem werden Sondereinheiten weiterhin «Terroristen bekämpfen». Die USA bauen immer noch Schlüsselbasen aus. Der deutsche Bundesnachrichtendienst rechnet – gemäss einem durchgesickerten Bericht – mit bis zu 35 000 westlichen Soldaten auch nach 2014.

In diesem Kontext hört sich US-Vizepräsident Joe Bidens «Wir ziehen ab. Punkt» nicht gerade exakt an. Obama drückte sich da genauer aus: 2014 komme das «Ende des Kriegs, wie wir ihn kennen».

Immerhin: Die afghanische Armee und Polizei sind auf eine Stärke von 352 000 Personen angewachsen. Aber die Qualität ihrer Ausbildung und ihre Moral haben nicht im gleichen Mass zugenommen. Es ist zu befürchten, dass die Streitkräfte entlang ethnischer oder politischer Bruchlinien zerfallen und sich in einem möglichen Bürgerkrieg unterschiedlichen Fraktionen anschliessen könnten, wie das nach dem sowjetischen Abzug 1989 geschehen war. Besonders gross ist diese Gefahr, falls die Bezahlung ausbleiben sollte – deshalb beschloss die Nato im Mai, nach 2014 noch jährlich 4,1 Milliarden US-Dollar zuzuschiessen. Hingegen sind Sondierungsgespräche zwischen US-VertreterInnen und Taliban, die Anfang des Jahres in Katar begannen, im Zuge des US-Wahlkampfs schon wieder gescheitert.

Vor allem aber wurden die Taliban, entgegen den US-Erfolgsmeldungen, durch die Militärintervention nicht entscheidend geschwächt. Sie erlitten zwar schwere Schläge, aber ihre Strukturen sind nach wie vor intakt, und es mangelt ihnen auch nicht an Zulauf. Sie operieren inzwischen ausnahmslos in allen Provinzen, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau. Ihre Hochburg bleibt in den Südprovinzen um Kandahar, wo die eskalierten Kämpfe vielerorts die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstört haben.

In Afghanistan ist offensichtlich, dass Washington die eigenen Erfolgsmeldungen nicht glaubt und den afghanischen Sicherheitskräften wenig zutraut. Über die letzten Jahre mobilisierten die USA eine ganze Reihe unterschiedlicher Milizen als Hilfstruppen. Das neuste Programm läuft seit 2010 unter dem Etikett «Afghanische Lokalpolizei» (ALP), die derzeit 16 000 Mann zählt und in 31 der 34 Provinzen operiert – obwohl, wie die «Los Angeles Times» schrieb, «das Pentagon und die afghanische Führung besorgt sind, dass solch dörfliche Selbstverteidigungseinheiten sich in kriminelle Banden verwandeln oder zu den Taliban desertieren könnten». Laut dem obersten afghanischen Militärstaatsanwalt waren im August über hundert ALP-Kämpfer wegen «Mordes, Bombenanschlägen, Vergewaltigung, tätlicher Angriffe und Raubes» in Haft. Eine Studie im Auftrag des US-Spezialkräftekommandos (JSOC) besagt, dass «in den meisten» der 78 Distrikte, in denen die ALP patrouilliert, die Sicherheitssituation «nicht signifikant anders» sei als diejenige in Distrikten, wo es keine ALP gibt.

Dazu kommen zahlreiche sogenannte «illegale Milizen» – grösstenteils übrig gebliebene Gruppen aus den Bürgerkriegen der neunziger Jahre und aus dem Kampf gegen die Taliban –, die nach dem Fall der Taliban Ende 2001 eigentlich entwaffnet werden sollten. Da Waffen reichlich vorhanden sind, fallen diese Gruppen der örtlichen Bevölkerung zur Last und erpressen wie früher die Taliban «religiöse Steuern»; manche von ihnen plündern unverblümt. Ein Schwerpunkt solcher Milizen ist die Provinz Kunduz im Verantwortungsbereich der deutschen Bundeswehr. Anfang September überfielen dort mehrere Hundert Kämpfer das Dorf Loy Kanam – dreizehn ZivilistInnen kamen ums Leben.

Laut der norwegischen Afghanistan-Expertin Astri Suhrke wird Afghanistan nach 2014 vor allem aus «schwachen Institutionen und einer Menge bewaffneter Männer» bestehen. Das sind die Zutaten für einen neuen Bürgerkrieg.

Ein Bürgerkrieg kann nur abgewendet werden, wenn die Öffentlichkeit hinreichend Druck auf die afghanische Regierung und ihre westlichen Alliierten ausübt, damit sie in Afghanistan Reformen durchsetzen. Die Leute um Präsident Hamid Karzai müssen aufhören, sich die Taschen und Konten zu füllen, und stattdessen für die Bevölkerung arbeiten. Es gibt viel zu tun: Von den 25,5 Millionen AfghanInnen sind laut afghanischem Statistikamt 7,4 Millionen unterernährt und weitere 8,5 Millionen an der Grenze dazu.