Ägypten: So mags der Westen

Nr. 49 –

Ägyptens Präsident Muhammad Mursi verschaffte sich per Dekret pharaonische Macht. Der Westen duldet solch undemokratisches Gebaren – wie üblich im Namen höherer Interessen.

Die Stille, die dieser Tage aus westlichen Hauptstädten schallt, klingelt in den Ohren. «Es liegt in unserem Interesse, dass der Übergang zur Demokratie in Ägypten den Forderungen entspricht, die die Ägypter durch ihre Revolution zum Ausdruck gebracht haben.» Das war alles, was der Pressesprecher von US-Präsident Barack Obama zu sagen hatte, nachdem sich Ägyptens Präsident Muhammad Mursi Ende November zum alleinigen Herrscher Ägyptens erklärt hatte. Kein Wort der Missbilligung oder gar konkrete Forderungen. Auch Europa schweigt weitgehend.

Und das, obwohl sich Mursi per Dekret mehr unkontrollierte Macht verschaffte, als sie sein autoritärer Vorgänger Hosni Mubarak jemals hatte. Durch eine überraschende Verfassungsänderung sind die Entscheidungen des Präsidenten vorübergehend nicht vor dem obersten Verfassungsgericht anfechtbar. Gleichzeitig gibt ihm die neue Verfassung die Macht, alles zu tun, um «das Land und die Revolution zu beschützen».

Die vage Formulierung kommt einem Freibrief gleich. Mursis Rechtfertigung klingt dabei erschreckend nach dem Regime, gegen das die ägyptische Revolution gerichtet war. In einer Stellungnahme erklärte Mursi, dass diese Massnahmen notwendig seien, um Kräfte, die «an den Knochen der Nation nagen, zur Verantwortung zu ziehen». Das liegt ganz in der langen Tradition im Nahen Osten, ungenannte Feinde zur Legitimation undemokratischer Herrschaft heranzuziehen.

Vorrangig ging es Mursi darum, das oberste Verfassungsgericht davon abzuhalten, die verfassunggebende Versammlung aufzulösen. Bereits zuvor hatte das Gericht Mursis Politik behindert. Viele Richter waren noch unter Mubarak ernannt worden. Angesichts dessen und wegen des immensen Drucks, den Übergang zur Demokratie abzuschliessen, könnte man Verständnis für Mursis Aktion aufbringen. Doch seit Mursi vor einigen Monaten bereits das Recht zur Gesetzgebung vom aufgelösten Parlament übernommen hatte, verblieb der Oberste Gerichtshof als einziges institutionelles Gegengewicht.

Der ägyptische Oppositionspolitiker und Friedensnobelpreisträger Muhammad al-Baradei bezeichnete Mursi deshalb als «neuen Pharao». Über 100 000  BürgerInnen protestierten am Dienstag dieser Woche vor dem Präsidentenpalast in Kairo. In westlichen Hauptstädten hingegen blieb es weitgehend still. Deutschland und Frankreich meldeten zwar Bedenken an. Dem früheren Versprechen, die ÄgypterInnen umfassend bei der Erreichung der Demokratie zu unterstützen, entsprach dies kaum. Der Grund dafür hat mit den Ereignissen in den Tagen vor der Verfassungsänderung zu tun.

Lange Zeit wurde in Israel und im Westen besorgt diskutiert, wie sich die israelisch-ägyptischen Beziehungen unter Mursi entwickeln würden. Viele Mitglieder der Muslimbruderschaft, der Mursi angehört, sprechen sich offen gegen den Friedensvertrag der beiden Länder aus. Die im Gazastreifen regierende Hamas ist aus der Bruderschaft heraus entstanden; die Beziehungen sind eng.

Deshalb wurden bange Blicke in Richtung Kairo gerichtet, als Israel am 14. November erneut den Gazastreifen bombardierte. Doch Muhammad Mursi übernahm die vom Westen geforderte Rolle: In mehrtägigen Verhandlungen erreichte er einen Waffenstillstand. Ägypten tritt dabei als dessen Garant auf. Laut dem Abkommen lockert Israel die Blockade des Gazastreifens, die Hamas verspricht, keine Raketen mehr abzufeuern. Und Ägypten will gegen den Schmuggel im Grenzgebiet vorgehen.

«Ägyptens neue Regierung hat die Verantwortung und die Führungsrolle übernommen, die das Land seit langem zu einer tragenden Säule der Stabilität und des Friedens in der Region gemacht haben», sagte US-Aussenministerin Hillary Clinton nach dem Deal. Mursi hält, genau wie sein Vorgänger Mubarak, die Fahne westlicher Aussenpolitik in der Region hoch.

Und in einem weiteren Punkt kommt Muhammad Mursi der Nahostpolitik des Westens entgegen: Unmittelbar nach dem Waffenstillstandsabkommen gab Mursi den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) bekannt. Dieser gewährt Ägypten nun einen Kredit in Höhe von 4,8 Milliarden US-Dollar. Das Geld wird benötigt, um die Wirtschaft zu stützen. Seit der Revolution sind Haushaltsdefizit und Arbeitslosigkeit dramatisch gestiegen. Die Tourismusbranche hat sich bis jetzt nicht erholt.

Bedingung für den Kredit ist jedoch, dass die ägyptische Regierung ein wirtschaftliches Reformprogramm nach Gusto des IWF vorlegt. Die vereinbarten Reformen gleichen früheren IWF-Programmen: Subventionen sollen gesenkt und Teile der Wirtschaft privatisiert werden. Bereits in den neunziger Jahren hatte der IWF mit Mubarak ein ähnliches Programm ausgehandelt. Viele Staatsbetriebe wurden privatisiert. Zehntausende ÄgypterInnen verloren ihre Jobs, während multinationale Konzerne zusätzliche Gewinne machten. Der IWF gab kürzlich in einem Bericht zu, dass dieses Programm «sozial unbefriedigende Auswirkungen» hatte.

Die US-Regierung begrüsste das neue Reformprogramm; bereits im September hatte eine grosse Wirtschaftsdelegation Ägypten besucht. Damit führen die westlichen Staaten im Nahen Osten trotz Arabischen Frühlings jene Politik weiter, die sie schon seit Jahrzehnten verfolgen: Im Namen der regionalen Stabilität und der wirtschaftlichen Interessen dulden sie autoritäre Herrscher.