Afrikanisch-Arabisches Filmfestival : Da ist sogar das Format egal

Nr. 51 –

Viele Filme an den 24. Journées Cinématographiques de Carthage in Tunis setzten sich mit den Revolutionen in den arabischen Ländern auseinander. Auch das Festival muss sich neuen Herausforderungen stellen.

Tunis im Spätherbst. Emsiges Treiben in den engen Gassen durch den Souk der Medina. Ein Stimmengewirr von Händlern, Kundinnen und Männern, die vor den Teehäusern sitzen und Wasserpfeife rauchen. Der Jasmin blüht, blauer Himmel und milde zwanzig Grad. Leichter ist das Durchkommen auf der Avenue de France, die in die verkehrsreiche Hauptachse Habib Bourguiba übergeht. Hier versammelten sich vor bald zwei Jahren, am 14. Januar 2011, hunderttausend TunesierInnen, um nach vierwöchigem Aufstand die Flucht des Diktators Zine al-Abidine Ben Ali zu feiern. Und hier finden seither immer wieder mehr oder weniger friedliche Demonstrationen statt – die doppelten Stacheldrahtrollen und ein paar parkierte Armeefahrzeuge vor der französischen Botschaft zeugen davon.

Auf dem breiten Boulevard ist die Stimmung friedlich, viele Menschen sind unterwegs, in den Cafés sitzen fast ausschliesslich jüngere Männer. Vor den acht Kinos, in denen Ende November während einer Woche die 280 Filme der 24. Journées Cinématographiques de Carthage (JCC) gezeigt werden, herrscht Grossandrang. Ein zumeist jugendliches Publikum versucht, sich Zugang zu den historisch anmutenden, grosszügig konzipierten Sälen zu verschaffen. Dass diese erste postrevolutionäre Ausgabe des seit 1966 alle zwei Jahre veranstalteten afrikanisch-arabischen Filmfestivals überhaupt zustande gekommen ist, war nicht selbstverständlich. Die dafür zur Verfügung stehenden Mittel waren dieses Jahr sehr beschränkt, weil sich im Gegensatz zu anderen Jahren kaum private Sponsoren finden liessen und das Festival von staatlicher Seite nur halbherzig unterstützt wurde.

Pfeifkonzert für den Kulturminister

Das Budget (650 000 Dinars, rund 380 000 Franken) reichte gerade aus, um die zahlreichen Gäste aus Afrika und aus dem Nahen Osten ins Hotel Africa einzuladen. Für die technische Infrastruktur blieb wenig übrig. Von den elf bestellten digitalen Projektoren wurden bloss vier geliefert, wie Mohamed Mediouni, der Direktor des Organisationskomitees, nach dem Festival ausführte. So lag die Qualität der digitalen Projektionen im Argen, und viele Filme wurden im falschen Format vorgeführt. Das Publikum störte dies nicht, der Wunsch, möglichst viele neue AutorInnenfilme zu sehen, war stärker. Zu Tumulten kam es erst, als die Vorführung von Nouri Bouzids neuem Spielfilm «Manmoutech» (Beautés cachées), einem Wettbewerbsbeitrag des tunesischen Regisseurs, ausfiel, weil der Vorführungscode für die DCP-Projektion fehlte. Mit einem Pfeifkonzert wurde der tunesische Kulturminister Mahdi Mabrouk vor dem Eingang zum Kino Le Colisée empfangen. Als Vertreter der regierenden islamistischen Ennahda-Partei geniesst er wenig Sympathie beim jungen Publikum – auch weil er sich für die Zensur einheimischer Kunstwerke sowie für die gerichtliche Verfolgung missliebiger KünstlerInnen ausgesprochen hatte.

Das Ministerium habe sich nicht in die Programmierung des Filmfestivals eingemischt, betonte Festivaldirektor Mediouni. Er war ausser an der Eröffnung und an der Schlussfeier des Festivals kaum in Erscheinung getreten, was der in anderen Jahren äusserst professionell organisierten Veranstaltung zusätzlich chaotische und dilettantische Züge verlieh. Ein Pressebüro existierte nicht, sämtliche Auskünfte blieben vage. So war nicht herauszufinden, weshalb der neuste Film der in Paris lebenden tunesischen Regisseurin Nadia el-Fani, «Même pas mal», nicht ins Programm aufgenommen wurde, obwohl sie ihn eingereicht hatte. Vermutlich wollte man unnötigen Aufruhr vermeiden, denn anlässlich der Vorführung von el-Fanis «Laïcité, Inch’Allah» (2011), in dem sich die Regisseurin und Aktivistin mit der doppelten Moral vermeintlich Gläubiger auseinandersetzt, wurde im Juni 2011 das Kino Africart an der Avenue Bourguiba von achtzig bärtigen Rowdies verwüstet und das Publikum bedroht. Auf dem Campus der El-Manar-Universität in Tunis war vor einigen Monaten der Regisseur Nouri Bouzid angegriffen und verletzt worden, auch er ein bekennender Anhänger der Trennung von Religion und Staat. Sein Film «Beautés cachées» (2012) konnte schliesslich am JCC noch gezeigt werden. Bei den drei nachträglichen Vorführungen war der Publikumsandrang enorm.

Vor der «Jasminrevolution»

77 der insgesamt 280 gezeigten Filme des JCC waren tunesische Produktionen, mehrheitlich Dokumentarfilme, die kurz vor, während oder nach der «Jasminrevolution» entstanden. Nicht erstaunlich, dass die politischen Ereignisse ein häufiges Thema waren und bald der Eindruck entstand, immer gleiche Bilder von Demonstrationen, Polizeieinsätzen und Freudenfesten – zum Teil mit Handykameras aufgenommen – zu sehen. Daneben gab es auch Werke, die einen ästhetisch reflektierten Einblick in die Geschichte und die Gegenwart Tunesiens vermitteln. In «C’était mieux demain» (2012) porträtiert Hinde Boujemaa die Squatterin Aida, eine vierzigjährige Frau, alleinstehende Mutter dreier Kinder und obdachlos. Im Zeitraum von anderthalb Jahren zeigt Boujemaa die endlos scheinende Suche der rebellischen Frau – unterwegs mit Hammer und Meissel – nach einem Dach über dem Kopf, nach dem Sorgerecht für ihre zwei kleinen Kinder und nach dem Respekt des adoleszenten, behinderten Sohns gegenüber seiner Mutter. Die politische Aktualität erscheint als Zwischenschnitt. Aidas Kommentar: «Die Revolution ist gut, aber es hat sich nichts verändert.» Applaus im Publikum.

«Démocratie Année Zéro» (2012) von Amira Chebli und Christophe Cotteret zeigt, wie der Protest gegen das Ben-Ali-Regime bereits im April 2008 mit einer von der Gewerkschaft UGTT unterstützten Revolte für «Brot und Freiheit» in den Phosphatminen im Süden Tunesiens begonnen hatte, die von 5000 Polizisten niedergeschlagen wurde. Da damals noch sämtliche Medien kontrolliert wurden, gab es keine Berichte darüber. Für die Umgehung der Zensur wurden die CyberaktivistInnen immer wichtiger, bis die Mauer zwischen Realität und Virtualität einbrach und am 23. Dezember 2010 erstmals Polizeiautos brannten, die LehrerInnen im ganzen Land streikten und schliesslich die AnwältInnen zu Hunderten zum Gericht marschierten. «Démocratie Année Zéro» ist eine sorgfältig recherchierte und gut montierte Aufarbeitung der jüngsten Geschichte.

Eine der wenigen einwandfreien Projektionen war die Welturaufführung von Nacer Khemirs fiktionalem Dokumentarfilm «Looking for Muhyiddin» (2012), in die der Regisseur im langen Mantel, mit ins Gesicht gezogener Dächlikappe und leiser Stimme einführte. Khemir inszeniert sich als reisender Sohn, der von seinem verstorbenen Vater beauftragt worden ist, Erkundungen über den sufistischen Mystiker Muhyiddin Ibn Arabi (1165–1240), einen frühen Vertreter der religiösen Toleranz, einzuholen. In Oxford und in New York trifft er bedeutende IslamforscherInnen, bevor er solche in Tunis, im Jemen und in Damaskus aufsucht. Ein schöner, witziger und versöhnlicher Beitrag angesichts der zunehmend verhärteten Fronten im Land.

Ein Höhepunkt war «Babylon» (2012) von Ismaël Louati, Youssef Chebbi und Ala Eddine Slim, über den Auf- und Abbau einer riesigen Zeltstadt in der tunesischen Wüste, wo 2011 Zehntausende gestrandeter Flüchtlinge aus Libyen mit fünfzehn Nationalitäten provisorisch untergebracht worden waren. Ohne eingefügte Kommentare schaffen die Autoren eine subtile Qualität der Wahrnehmung, das pure Gegenstück zur Fernsehreportage.

Kinosterben und Filmklubs

«Seit mehreren Jahren baut man hier Fussballstadien und Moscheen, aber man schliesst Kinosäle», sagte Maher Ben Khalifa, der in der «Fédération tunisienne du cinéma amateur» aktiv ist, die dem Festivalkomitee angehört. Gab es Ende der neunziger Jahre im ganzen Land 113 Kinos, sind es heute gerade noch deren 13. Gezeigt werden dort kommerzielle Filme aus Ägypten, dem Libanon oder den USA. Das junge Publikum bleibt aus, auf dem Schwarzmarkt sind billige DVD-Raubkopien zu haben. Im Gegensatz zum dramatischen Kinosterben floriert jedoch die tunesische Filmklubbewegung, die ebenfalls im Organisationskomitee des Festivals vertreten ist. Landesweit sind heute 34 Filmklubs aktiv, die Filmvorführungen in Jugend- und Kulturzentren organisieren und angesichts der desolaten Kinosituation für das Fortbestehen der tunesischen Filmkultur von zentraler Bedeutung sind.

Ein cinephiler Filmklubpionier war auch Tahar Cheriaa, der 1927 geborene und 2010 verstorbene Professor für arabische Poesie. Die tunesische Regierung beauftragte ihn bereits 1962 – sechs Jahre nach der Unabhängigkeit – mit der Förderung des Filmschaffens in Tunesien. 1966 schuf er das erste panafrikanische Filmfestival, eben die Journées Cinématographiques de Carthage. Für die Zukunft des Festivals brauche es eine vom Kulturministerium unabhängige finanzielle und organisatorische Struktur, darin ist sich die Mehrheit der Mitglieder des Organisationskomitees nach der diesjährigen Erfahrung einig, denn, so die Frage einer Festivalmitarbeiterin: «Wer garantiert, dass die zukünftige Regierung eine Weiterführung der JCC befürwortet?»

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