Kommentar von Stefan Keller: Primeurs und Geschichte

Nr. 7 –

Die antisemitische Schweizer Flüchtlingspolitik von 1933 bis 1945 ist wieder Medienthema. Manche tun so, als hätten sie nie davon gehört.

Am Mittwochabend – kurz nach Redaktionsschluss der WOZ – wurde in St. Gallen ein Theaterstück über Paul Grüninger uraufgeführt (vgl. den Hinweis in der Rubrik «Kultour»), den Polizeikommandanten, der 1938 mehrere Hundert, vielleicht einige Tausend, jüdische Flüchtlinge rettete. Das Stück ist weitgehend dokumentarisch, die Theaterleute halten sich an vorhandene Akten, Zeitzeugenberichte und historische Forschung.

Anders, nämlich gezielt fiktiv, geht ein kürzlich abgedrehter Spielfilm des Regisseurs Alain Gsponer mit derselben Geschichte um. In Gsponers Film werden historisch nicht existente Personen in den Grüninger-Stoff eingefügt, um diesen dramaturgisch spannender – oder filmgerechter – zu machen. Der St. Galler Polizist und Flüchtlingshelfer, der 1939 abgesetzt, 1940 verurteilt, in den neunziger Jahren rehabilitiert und dabei weltweit bekannt geworden ist, erscheint als Person zu wenig dramatisch für einen Schweizer Fernsehfilm. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb kehrt seine Geschichte immer wieder ins öffentliche Bewusstsein zurück. Ein braver unauffälliger Beamter, der im entscheidenden Moment hartnäckig gegen Befehle verstösst, bedrohte Menschen vor ihren Verfolgern schützt und dafür von seinen Vorgesetzten ruiniert wird.

Auch in den Nachrichten ist die Geschichte der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus jetzt wieder ein Thema. Die «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens berichtete zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar, dass der Bundesrat bereits ab Mai 1942 über die nationalsozialistischen Verbrechen detailliert informiert gewesen sei – und weiterhin jüdische Flüchtlinge zurückschickte. Dazu zeigte sie Bilder von Massenexekutionen, die den Behörden 1942 vorlagen.

Zahlreiche Printmedien übernahmen diese Story als Primeur und erzählten auch andere von der «Tagesschau» erwähnte Episoden. Etwa jene der Rorschacher Mädchenklasse, die 1942 einen Brief an den Gesamtbundesrat sandte und um bessere Behandlung der Flüchtlinge bat: «Sehr geehrte Herren Bundesräte», schrieben die tapferen Sekundarschülerinnen, «wir können es nicht unterlassen, Ihnen mitzuteilen, dass wir in den Schulen aufs höchste empört sind, dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in das Elend zurückstösst.»

Zwar mag man sich einerseits daran stören, dass einige Medien den Eindruck erwecken, als wären diese Geschichten gerade erst aufgedeckt worden. Der «Sonntag» schrieb von den Hinrichtungsbildern, die 1997 in einem Buch erschienen waren, sie seien «der Öffentlichkeit bis jetzt vorenthalten» worden. Der «Tages-Anzeiger» behauptete, die seit den neunziger Jahren oft beschriebene Geschichte der Rorschacher Mädchen sei «in Vergessenheit» geraten. Man mag über die Unbedarftheit spotten, die einen jungen Journalisten öffentlich «die Kernfrage» stellen lässt: «Hat die Schweiz ihrer humanitären Tradition im Zweiten Weltkrieg Ehre gemacht?» Mit zwei Klicks hätte der Redaktor den Flüchtlingsbericht der Bergier-Kommission von 1999 aus dem Netz herunterladen können, bevor er jenen Forschungsdirektor interviewte, der den Medien all die scheinbar neuen Dokumente auf dem Internet zur Verfügung stellt.

Tatsächlich zieht die jüngste Schweizer Geschichtsdebatte ihre Primeurs aus einer einzigen, jedoch sehr guten öffentlichen Quelle: der Website der Diplomatischen Dokumente (www.dodis.ch), auf die die Redaktionen mit einer Pressemitteilung pünktlich zum Gedenktag aufmerksam gemacht worden sind.

Andererseits hat sich am 27. Januar aber auch Bundespräsident Ueli Maurer zur Schoa geäussert. Er hat kurz die Opfer erwähnt und dann in einem merkwürdigen Plusquamperfekt behauptet: «Die Schweiz war in jener dunklen Epoche des europäischen Kontinents dank des Einsatzes einer ganzen Generation mutiger Frauen und Männer ein Land der Freiheit und des Rechts geblieben.»

Die Zurückweisung von einigen Zehntausend Menschen zu ihren Mördern, die staatliche Beihilfe zum Völkermord – zwar glaubt der französische Forscher Serge Klarsfeld neuerdings, es seien insgesamt nur 3000 gewesen, doch 1957 kannte man die Namen von 10 000 Abgewiesenen, die Bergier-Kommission ging von weiteren 14 500 anonymen Fällen aus –, die ungeheuren Menschenrechtsverletzungen erwähnt die präsidiale Botschaft mit keinem Wort: Ist es da noch falsch, wenn auch JournalistInnen so tun, als wären all diese Details der Vergangenheit nicht nur ihnen, sondern überhaupt unbekannt?