Besetzungen in Zürich: Ratlos in der Binzer Apokalypse

Nr. 10 –

Die Besetzung des Binz-Areals steht vor dem Ende. Am Samstag hätte ein Tanz durch die Stadt das grosse Finale bringen sollen. Er endete in Krawallen und Hausdurchsuchungen.

Einsatz in der «autonomen Zone»: Die Stadtpolizei durchsuchte am Dienstag nach der Demo die Binz.

Irgendwann spät am letzten Samstagabend im Zürcher Kreis 4 hatte der Fahrer eines Mobils aus «Mad Max» genug. Tränengasschwaden füllten die Badenerstrasse, die Schaufensterscheiben der Mercedes-Garage an der Ecke hatten schon Risse, auf dem nassen Asphalt lagen goldene Osterhasen aus dem geplünderten Coop Pronto. Der Fahrer wollte nicht mehr dauernd wenden 
wie seine KollegInnen am Steuer der anderen siebzehn Wagen im Strassenumzug. Er hatte genug vom Katz-und-Maus-Spiel mit der Stadtpolizei. Also brauste er los.

Ein Wasserwerfer nahm die Verfolgung auf. Das chassislose Fahrzeug aus der Postapokalypse, einer Hollywood-Erfindung des Jahres 1979, bestehend nur aus blankem, schwarzem Stahlrohr, überfuhr, nummernschildlos, wie es war, ein Rotlicht. Der Wasserwerfer, Putzfahrzeug im Dienste der Zürcher Staatsmacht, musste anhalten, und das Mobil entschwand in die kalte Nacht.

Motorshow

Ende Mai müssen die BesetzerInnen des Fabrikareals in der Zürcher Binz ihre «autonome Zone» nach sieben Jahren räumen. Auf dem Areal an der Üetlibergstrasse, das dem Kanton gehört, will die Stiftung Abendrot zusammen mit dem Immobilienhändler Werner Hoffmann Wohnungen für Pflegepersonal und Studierende bauen. Für das allerletzte der längst legendären Binz-Feste hatten sich die BesetzerInnen deshalb nochmals etwas Besonderes ausgedacht: «Binzmotors präsentiert die Rollerdisco», rief der Showmaster am letzten Samstagabend unter dem Jubel des Festpublikums in die volle Fabrikhalle. Daraufhin fuhren achtzehn Mobile durch die Menge hinaus auf die Üetlibergstrasse, die meisten Marke Binz-Eigenbau. Ein kleiner Pannendienst war da, ein Reinigungswagen mit Putzpersonal, ein Anhänger mit Liveband obendrauf, ein rollendes Tessiner Schiff als DJ-Bühne, ein Maskenverkaufswagen, begleitet von barbusigen Models – eine Mischung aus Femen und Pussy Riot –, natürlich das «Mad Max»-Mobil und auch «der grösste Rollschuh Mitteleuropas».

Es hätte eine grandiose Demonstration binzlerischer Fantasie und Freiheit werden können, ein letztes Zeugnis im Tanz dafür, dass in der Binz «möglich wird, was es eigentlich gar nicht gibt», wie die BesetzerInnen einmal schrieben. Spätestens allerdings als der nächtliche Zug an der Schmiede Wiedikon angekommen war, wurde die «Rollerdisco» unter Glasscherben begraben: Aus dem vorderen Teil des Umzugs heraus wurden die Regionalwache Wiedikon und die benachbarte UBS-Filiale verwüstet. Damit war dann aber auch die Party vorbei, alles, was noch kam, war schlechte Kulisse für «Mad Max».

Die Stadtpolizei hatte offensichtlich nicht mit einer unbewilligten Demo gerechnet: Das Aufgebot war zu gering, um die mehr als 2000 Menschen, die sich in den zwei Stunden davor von den Hallen der «Autonomen Zone Binz» am Fuss des Üetlibergs in die Innenstadt getanzt hatten, zu vertreiben. Und doch verschossen die Einsatzleiter zu viel Gummischrot und Tränengaspetarden, als dass sich der Zauber des geplanten Strassentanzes noch hätte entfalten können. Umgekehrt fehlten unter den Tanzwilligen selbst ein paar Couragierte mehr, die die Tagger und Trasher hätten stoppen wollen. Ratlosigkeit und Verwirrung bestimmten diesseits wie jenseits der Plastikcontainerbarrikaden das Geschehen.

Blutende Herzen

Am Sonntag herrschte in der Binz Katerstimmung. Die Ausschreitungen waren nicht das Ziel der Aktion gewesen. «Mir blutet das Herz», sagte eine Besetzerin. Zugleich gab es in der Gruppe keinen Konsens, der es möglich gemacht hätte, sich als Kollektiv von den Sachbeschädigungen zu distanzieren: «Wenn wir jetzt ein paar Leute an den Pranger stellen, riskieren wir jahrelange Blockaden in der Szene und richtig Puff bei allen unseren Aktionen», meinte ein Binzler, das sei die Sache nicht wert. Am Dienstagmorgen, als die Stadtpolizei mit massivem Aufgebot die Binz durchsuchte, sagte ein Besetzer in einem Pulk von JournalistInnen dann aber doch: «Es gab unter den allermeisten Leuten am Samstag keine Gewaltbereitschaft. Und sicher nicht von Leuten, die für den Samstag hier in der Binz mit organisiert hatten.»

War der vergangene Samstag mit seiner postapokalyptischen Szenerie eine Art Requiem auf die Zürcher HausbesetzerInnenszene? Denn nach dem Ende der Kalkbreite-Besetzung vor zwei Jahren, die im Kreis 4 einer neuen Genossenschaft weichen musste, steht nun nicht nur die Binz vor der Räumung: Auch die Autonome Schule Zürich (ASZ) muss Ende März aus ihrer Baracke auf dem Areal des Güterbahnhofs im Kreis 4 ausziehen.

Petition statt Aktion

Seit 2009 hat dort ein Kollektiv von MigrantInnen, Sans-Papiers, AsylbewerberInnen und Einheimischen eine Schule aufgebaut, wo neben kostenlosen Deutschkursen auch Theaterstücke, Lesungen oder Konzerte stattfinden und die hauseigene «Papierlose Zeitung» herausgegeben wird. 200 MigrantInnen besuchen hier jeden Nachmittag die Deutschkurse. Wo es im April hingeht, weiss man in der ASZ allerdings noch nicht.

Braucht es jetzt einen vereinigten «Häuserkampf» um die letzten grossen Freiräume in Zürich, einen heissen Besetzerfrühling? Lukas Keller, der an der ASZ Deutsch unterrichtet, sagt, das Wort «Freiraum» sei für die Migrantinnen und Migranten, die sich in der ASZ engagieren, kein zentraler Begriff: «Sie wollen einfach nur einen selbstverwalteten Raum für die Schule, um dort antirassistische Bildungsarbeit zu machen.» Die ASZ sei nicht in erster Linie ein Kulturraum, sondern ein freies Bildungsprojekt und die Besetzung eher Mittel zum Zweck als Programm, sagt Keller. Er betont aber auch, dass die Autonome Schule, obwohl sie eine längerfristig legale Lösung bevorzugen würde, es als richtig empfinde, für Freiräume zu kämpfen. Zurzeit setzt die ASZ allerdings auf eine breitere Öffentlichkeitsarbeit. Eine Onlinepetition zu ihrem Erhalt, die bereits 9500 SympathisantInnen unterschrieben haben – darunter prominente Köpfe wie Schauspieler und Musiker Carlos Leal oder Schriftsteller Franz Hohler –, soll helfen, neue Räume zu finden.

Auch die Binzler verspüren nach den schlechten Erfahrungen der letzten Woche vorerst keine Lust mehr auf grosse Aktionen: «Wir müssen uns zuerst wieder sammeln, uns fassen, es ist ein bisschen wie nach dem Tod eines Menschen», sagt eine Besetzerin. Und aus der dritten prominenten Zürcher Besetzung, dem Autonomen Beauty Salon auf dem Altstetter Labitzke-Areal, dem Gerüchte das Ende auf den nächsten Silvester nachsagen, heisst es nur: «Wir sind einfach mal da.»