Offshore-Leaks und seine Folgen: «Die Schweiz wird sich noch wundern»

Nr. 15 –

Mehr Steuergerechtigkeit auch für Entwicklungsländer: Die Enthüllungen zum Offshore-System könnten zu entsprechenden Regulierungen führen. Bruno Gurtner vom Tax Justice Network erläutert, dass Offshore-Leaks auch den Druck auf die Schweiz noch verstärken wird.

Grossansicht der Infografik Quellen: TJN, Global Financial Integrity. Karte: WOZ

WOZ: Herr Gurtner, die geleakten Daten zu den Steueroasen schlagen grosse Wellen. Sie beschäftigen sich schon lange mit der Materie. Ist davon etwas neu für Sie?
Bruno Gurtner: Die Daten bestätigen die Einschätzung der am Tax Justice Network (TJN) beteiligten Organisationen: Das Offshore-System ist ein höchst intransparentes System, bei dem riesige Vermögenswerte angehäuft, versteckt und herumgeschoben werden. Daran sind nicht einfach irgendwelche exotischen Tropeninseln beteiligt. Vielmehr sind die grössten Finanzzentren der Welt mit ihren Banken, Vermögensverwaltern, Anwaltskanzleien und Wirtschaftsprüfungsunternehmen die Hauptakteure.

Die an Offshore-Leaks beteiligten Medien arbeiten derzeit vor allem prominente Einzelfälle auf. Was bringt es, die oft Jahrzehnte zurückliegenden Geschichten von Superreichen wie Gunter Sachs oder Élie de Rothschild zu verbreiten?
Solche Einzelfälle machen zwar nur einen Aspekt der Enthüllungen aus; daneben gibt es einen viel wichtigeren systemischen Aspekt. Doch auch die Einzelfälle sind höchst wertvoll. Obwohl ein Teil der Steuerschulden vielleicht nicht mehr eintreibbar ist, generieren die Vermögensbestände ja weiterhin Erträge. Es liegt nun an den Steuerämtern, aktiv zu werden und darauf Steuern zu erheben – wie zum Beispiel der Kanton Bern, der im Fall Sachs bereits angekündigt hat, das Dossier nochmals anzuschauen.

Und der systemische Aspekt?
Durch all die Einzelfälle, die in nächster Zeit publiziert werden, kann man viel besser verstehen, wie das Offshore-System funktioniert und welches darin die Hauptakteure sind. Wenn man weiss, wer tatsächlich hinter einem bestimmten Trust oder einer Scheingesellschaft steckt, gelangt man auch zu denen, die das ganze System füttern und überhaupt ermöglichen. Und die sitzen in den grossen Finanzplätzen wie London, New York, Singapur, Hongkong oder der Schweiz. Hier sind grundlegende Reformen notwendig!

Viele Schweizer Politikerinnen und Politiker wie auch Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf erklären bereits, dass die Schweiz von Offshore-Leaks höchstens am Rand betroffen sei …
Die werden sich noch wundern. Bisher ist nur die Spitze eines Eisbergs sichtbar. Weil die Summe der aufgedeckten Einzelfälle ein besseres Verständnis des Gesamtsystems zulässt, wird auch die Rolle des Finanzplatzes Schweiz wieder ins Zentrum des Interesses rücken. Gemäss einer Studie von TJN werden bis zu 32 Billionen US-Dollar in Offshore-Zentren gelagert, Tendenz zunehmend. Der Finanzplatz Schweiz ist immer noch der grösste Vermögensverwalter der Welt, mit der UBS an der Spitze, nicht weit dahinter die CS. Gemäss Offshore-Leaks ist die UBS in 2900 Offshore-Gesellschaften involviert. Und im Fall Sachs offenbart sich die grosse Rolle von Schweizer Anwaltskanzleien.

Die Schweiz hat doch in den letzten Jahren einiges verbessert. Es heisst, sie habe eines der weltweit schärfsten Geldwäschereigesetze.
Das stimmt so nicht. Die Schweiz hat zwar ein ausgeklügeltes System der Sorgfaltspflicht. Aber Tatsache ist doch, dass immer und immer wieder neue Fälle von schmutzigem Geld entdeckt werden. Nach wie vor erfüllt die Schweiz einige Forderungen der zuständigen Gremien der Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung, der OECD, nicht. Die Schweiz stellt sich auch weiterhin gegen einen automatischen Informationsaustausch in Steuerfragen. Nur gegenüber den USA muss sie sich aufgrund des Drucks anders verhalten. In der Schweiz gibt es zudem kein öffentliches Register von Trusts und Stiftungen. Auch veränderte Besitzverhältnisse bei Gesellschaften müssen nicht gemeldet werden. Dass dies im Dunkeln gelassen werden kann, ist ein wichtiges Element im Offshore-System.

Bisher stehen Rohstoffkonzerne und andere transnationale Unternehmen nicht im Zentrum von Offshore-Leaks. Könnte sich dies noch ändern?
Tatsächlich beziehen sich die veröffentlichten Daten nur auf Einzelpersonen. Aber transnationale Unternehmen nützen das Offshore-System auch stark aus. Insbesondere durch die verbreiteten Praktiken, firmenintern Handel weit neben den Marktpreisen zu betreiben (sogenanntes Transfer Mispricing) und die Gewinne bei Tochterunternehmen anfallen zu lassen, die ihren Sitz in Steueroasen haben (sogenanntes Profit Shifting). Das betrifft weit mehr als nur die Rohstoffbranche, wie die jüngsten Skandale um Unternehmen wie Google, Amazon oder Starbucks zeigen. Es gibt mittlerweile eine breite Koalition, die sich gegen solche Praktiken wendet, nicht nur in der Zivilgesellschaft, sondern auch auf der Ebene der OECD.

Und erhöhte Transparenz soll da die grössten Probleme lösen?
Nein, das allein wird nicht ausreichen. Ein Problem ist, dass international tätige Unternehmen national besteuert werden, was das Profit Shifting in steuergünstige Länder ermöglicht. Hier braucht es einen Systemwechsel: Multinationale Unternehmen sollten auf internationaler Ebene als Ganzes besteuert werden, und die Steuern werden dorthin ausbezahlt, wo die Wertschöpfung stattfindet. Verschiedene Schwellen- und Entwicklungsländer sind daran, einen solchen Systemwechsel anzustossen.

In der Berichterstattung zu Offshore-Leaks sind die entgangenen Steuereinnahmen von europäischen Ländern und den USA ein grosses Thema. Wie sind ärmere Länder vom Offshore-System betroffen?
Entwicklungsländer sind noch viel stärker davon betroffen als die Industrieländer. Durch die riesige Kapitalflucht und das Anlegen von Währungsreserven finanziert der Süden eigentlich den Norden und nicht umgekehrt. Die US-amerikanische NGO Global Financial Integrity hat berechnet, dass die Hälfte der weltweiten Kapitalflucht Entwicklungsländer betrifft. Demnach fliessen pro Jahr rund tausend Milliarden US-Dollar schwarz und unerfasst aus Entwicklungsländern ab. Für zwei Drittel dieser Summe sind multinationale Unternehmen verantwortlich, die den internen Handel in ihren verschachtelten Unternehmensstrukturen viel zu tief bewerten. Mit weniger Kapitalflucht könnten sich die Entwicklungsländer aus der Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern befreien. Sie haben also ein riesiges Interesse, das Offshore-System trockenzulegen.

Ausser die Elite an Superreichen, die auch in Entwicklungsländern zunehmend entsteht …
Viele Entwicklungsländer sind von steigender Ungleichheit geprägt. Eine kleine Elite pumpt tatsächlich Geld ins Offshore-System. Sie profitiert zumeist von der Korruption, die vor allem im Rohstoff- und Waffensektor weitverbreitet ist. Je instabiler das Land, desto grösser ist die Kapitalflucht. Absurderweise flüchtet das Kapital oft in nahe gelegene Finanzzentren und wird von dort aus, steuerlich bevorzugt, wieder in den Herkunftsländern reinvestiert: Hongkong ist beispielsweise der grösste Investor in China, Mauritius der grösste Investor in Indien.

Ist also die Zeit für die von Ihnen schon lange geforderten internationalen Regulierungen gekommen?
Das Bewusstsein für internationale Regulierungen und Zusammenarbeit ist klar gestiegen, auch in der Schweiz. Vor sechs, acht Jahren wurde dies noch als Steuerkartellismus diffamiert. Durch Offshore-Leaks könnte eine ganz neue Dynamik entstehen. Luxemburg hat bereits angekündigt, sein Bankgeheimnis weiter zu lockern.

Aber die Länder und Gruppierungen, die vom Offshore-System profitieren, werden sich dagegen wehren. Wie realistisch sind solche Hoffnungen?
Offshore-Leaks hat auch einen wichtigen ideologischen Aspekt: Bis vor kurzem stiessen wir mit allen Transparenzbemühungen auf vehementen Widerstand; schliesslich sei Steuervermeidung ja legal. Heute ist der Graubereich zwischen legal und illegal viel besser ausgeleuchtet, und die Öffentlichkeit fragt viel mehr nach der Legitimität der Finanzmarktpolitik. Das ist ein ideologischer Schub – die Idee, dieses System aufzubrechen, geht nun weit über die Linke hinaus.

Was wird dieser ideologische Schub bewirken?
Insbesondere Transparenzinitiativen werden einen grösseren Zuspruch erhalten. Gerade auch in der Rohstoffpolitik: Da haben die USA bereits umfassende Transparenzregeln beschlossen, in der EU wird dies derzeit diskutiert. Die Schweiz wird nun noch mehr unter Druck kommen, dafür zu sorgen, dass ihre Rohstoffunternehmen ihre Finanzflüsse mit den Produktionsländern offenlegen. Doch natürlich gibt es von den betroffenen Branchen auch verbissenen Widerstand. Wir werden einen langen Atem brauchen, um diesen zu überwinden.

siehe auch «Die Geografie des Geldes»

Kämpfer gegen Kapitalflucht

Der siebzigjährige Ökonom Bruno Gurtner war bis zu seiner Pensionierung 2008 Verantwortlicher des Programms «Internationale Finanzfragen» bei Alliance Sud, der Dachorganisation der grossen Schweizer Hilfswerke. Er war auch langjähriges Mitglied der Beratenden Kommission für internationale Entwicklungszusammenarbeit der Schweizer Regierung.

Am Weltsozialforum 2002 in Florenz gehörte Gurtner zu den Mitbegründern des Tax Justice Network (TJN), einer internationalen nichtstaatlichen Organisation, die sich für eine progressive Verteilung der Steuerlast und für Transparenz auf den internationalen Finanzmärkten einsetzt. Bis vor kurzem war er TJN-Präsident.

«Eine Pflichtlektüre»

Wie funktioniert das Offshore-System? Warum sind Steueroasen von den British Virgin Islands bis Gabun, von der City of London bis zur Schweiz so attraktiv? Wer organisiert die Flucht vor dem Gesetz, vor Steuern und vor jedem Ansatz zu einer Finanzmarktregulierung? Vor anderthalb Jahren veröffentlichte der britische Journalist Nicholas Shaxson die vielleicht beste in deutscher Sprache vorliegende Analyse dazu. Sein umfassend recherchiertes Buch («eine Pflichtlektüre», wie es in Rezensionen hiess) hat von seiner Aktualität nichts eingebüsst.

Nicholas Shaxson: «Schatzinseln. Wie Steueroasen die Demokratie untergraben». Rotpunktverlag. Zürich 2011. 416 Seiten. 32 Franken.