Offshore-Leaks versus Wikileaks: Totale Transparenz oder ein Kartell von Informationshütern

Nr. 15 –

Wikileaks hat die Medienszene aufgemischt und zu heftigen Abwehrreaktionen geführt. Mutmassliche Informanten sitzen immer noch im Gefängnis. Stellt Offshore-Leaks jetzt die alte Rangordnung unter den Medien wieder her?

An Ostern vor drei Jahren veröffentlichte die Whistleblower-Plattform Wikileaks ein Video mit dem Titel «Collateral Murder». Es zeigte, wie US-Soldaten im Irak aus einem Helikopter heraus mehrere Zivilisten und Reporter der Nachrichtenagentur Reuters erschossen und über Funk darüber spotteten.

Das war der grosse Coup, der den rasanten Aufstieg des Wikileaks-Gründers und Transparenzaktivisten Julian Assange einläutete: Wikileaks veröffentlichte in der Folge gemeinsam mit ausgewählten internationalen Medien 90 000 Dokumente zum Afghanistankrieg («Afghan War Diary»), über 400 000 Dokumente zum Irakkrieg («Iraq War Logs») und rund 250 000 Diplomatendepeschen («Cablegate»). Es war eine neuartige Arbeitsteilung, die Medien und die Politik auf den Kopf stellte: Die etablierten Medien filterten die Daten und sorgten mit konzertierten Publikationen für die nötige Aufmerksamkeit, Wikileaks stellte im Netz die totale Transparenz her – mit allen dazugehörigen Verheerungen für die darin genannten Personen. Die Wikileaks-Enthüllungen sind bis heute für die Öffentlichkeit einsehbar und als Volltext durchsuchbar.

Eine Handvoll AktivistInnen wurde von einem Tag auf den anderen zu einer unheimlich schlagkräftigen Truppe, und Wikileaks war drauf und dran, den etablierten Medien ihre Funktion als Gatekeeper der Informationen streitig zu machen. Wikileaks war anarchisch, unberechenbar – und für die Mächtigen verdammt gefährlich.

Umso heftiger wurde nach der Vorstellung gebuht: Es entbrannte ein gnadenloser Machtkampf zwischen einer neuen und einer alten Medienwelt. Assange überwarf sich mit seinen Publikationspartnern, und die etablierten Medien bekundeten umgekehrt Mühe mit den Transparenzvorstellungen des Cypherpunks Assange. Der kurze Beifall verstummte, Wikileaks geriet unter massiven politischen, wirtschaftlichen und juristischen Druck, das Projekt verlor die Rückendeckung der Mainstreammedien.

Am Erscheinungstag dieser WOZ befindet sich der US-Soldat und mutmassliche Wikileaks-Informant Bradley Manning seit 1053 Tagen ohne Prozess in Haft. Der mutmassliche Anonymous-Hacker und Wikileaks-Informant Jeremy Hammond sitzt seit 404 Tagen ohne Prozess im Gefängnis. Seit 861 Tagen läuft eine finanzielle Blockade gegen Wikileaks, durch die Bank of America, Visa, Mastercard, Paypal und Western Union. Und Julian Assange befindet sich seit 858 Tagen unter Hausarrest, seit 296 Tagen in der ecuadorianischen Botschaft in London.

Seit einer Woche sorgt nun Offshore-Leaks für weltweite Schlagzeilen. 86 JournalistInnen aus 46 Ländern veröffentlichen Tag für Tag neue Enthüllungen, Hintergrundberichte, Infografiken und vieles mehr über geheimnisvoll verschachtelte Firmenkonstrukte auf karibischen Inseln, mithilfe deren die Reichen dieser Welt ihre Identitäten verschleiern und (steuerpflichtiges) Vermögen verstecken. 260 Gigabyte Daten, 2,5 Millionen Dokumente – die riesige Datenmenge erforderte eine nie zuvor gesehene Zusammenarbeit von JournalistInnen weltweit. Wegweisende Veränderungen zeichnen sich ab, die Arbeit der beteiligten Medien verdient dafür Respekt.

Umso lauter fällt nun der Applaus aus. Offshore-Leaks stellt im Zeitalter der Leaks eine alte Rangordnung wieder her: Etablierte Medien haben sich zu einer Art Kartell der Informationsverarbeitung zusammengeschlossen und geben ihr Wissen häppchenweise gefiltert an die Öffentlichkeit weiter.

Das wirft Fragen auf: Aus welcher Quelle stammen die Daten? Wer hat ein Interesse an einer Veröffentlichung? Und warum? Ist es richtig, dass nur ausgewählte, vornehmlich grosse Medienkonzerne Zugriff auf die Daten haben?

Wikileaks hat unterdessen seine bisher grösste Datensammlung veröffentlicht: 1,7 Millionen geheime diplomatische US-Dokumente aus den siebziger Jahren, die die Rolle der USA in den Militärdiktaturen Lateinamerikas neu beleuchten. Assange setzt dabei auf volle Transparenz – die Informationen sind für die Öffentlichkeit zugänglich und in einer Datenbank durchsuchbar.

Noch vor kurzem hätten die Mainstreammedien Beifall geklatscht. Heute erntet Wikileaks für das grösste Datenleck aller Zeiten nur noch ein Schulterzucken.