Kommentar : Vom «Blowback» zum endlosen Krieg in Syrien

Nr. 16 –

Der Tod von immer mehr KämpferInnen zwingt die Kriegsparteien in Syrien zu neuen Taktiken. Das wird den Konflikt erst recht verlängern.

Der Krieg in Syrien verändert sich grundlegend. Alle Parteien des Konflikts sind sich bewusst, dass das Blutbad viel länger dauern wird, als es die SyrerInnen selbst oder die marktschreierischen westlichen ExpertInnen vorausgesagt hatten. Jetzt passen die Konfliktparteien ihre Taktiken an diese Erkenntnis an.

Militärnahe syrische AutorInnen, die aber auch Kontakte zu Rebellenführern haben, zeichnen ein neues Bild des Syrienkonflikts; ein Krieg, dessen Opferzahl mittlerweile bei 50 000, 60 000 oder 70 000 liegen dürfte. Die meisten der KämpferInnen, die bereit gewesen wären, in diesem Krieg ihr Leben zu geben, sind bereits tot. Der Tod, oder vielmehr die Knappheit an radikalen KämpferInnen, gibt dem Krieg eine neue Gestalt.

Es ist kein Geheimnis, dass sich die Armee von Präsident Baschar al-Assad keine weiteren Verluste leisten kann. Dass sich abtrünnige Soldaten den RebellInnen anschliessen, kommt zwar nur noch selten vor, dennoch: Jeder tote Soldat hinterlässt eine Lücke, die nur schwer zu füllen ist. Selbst wenn es gelingt, neue Truppen zu mobilisieren – Dienstverweigerung ist mittlerweile eine Wissenschaft –, wird ein unerfahrener Rekrut niemals einen Soldaten ersetzen können, der monatelang im Gefecht war. Syrische Generäle sehen sich heute gezwungen, speziell ausgebildete Einheiten von gerade mal sechzig Mann in Kämpfen einzusetzen, für die letztes Jahr noch ganze Bataillone mit mehreren Hundert Soldaten einberufen werden konnten.

Häufig stehen die Soldaten nicht den KämpferInnen der Freien Syrischen Armee gegenüber – die angeblich säkulare und deshalb von der Nato bevorzugte Miliz –, sondern den viel effizienteren islamistischen Dschabhat-al-Nusra-Rebellen und anderen Truppen, die mit modernsten Waffen ausgerüstet sind und ebenfalls lediglich fünfzig bis sechzig KämpferInnen zählen.

Wie die US-AmerikanerInnen im Irakkrieg muss auch die syrische Armee immer wieder Gebiete «zurückerobern», die sie in den vergangenen Monaten in Gefechten gegen die RebellInnen bereits mehrmals eingenommen hatte. Da ist zum Beispiel Duma: Dreimal wurde der Aussenbezirk von Damaskus in den letzten achtzehn Monaten von der syrischen Armee «zurückgewonnen». «Aber irgendwann muss die Armee dann abziehen – und innerhalb von einem Monat sind schon wieder die Rebellen hier», sagt ein ehemaliger Offizier einer Spezialeinheit. «Früher machte die Freie Armee sogenannte taktische Rückzüge. Heute ist das nicht mehr der Fall. Jetzt sind die Dschihadisten hier, und die sind gekommen, um zu sterben.»

Während vieler Monate gaben sich die Behörden in Damaskus damit zufrieden, Kontrollpunkte rund um die Aussenbezirke von Damaskus zu errichten, die die syrische Armee an die bewaffneten RebellInnen verloren hatte. Die Freie Syrische Armee fügte sich dieser Grenzziehung weitgehend. Modernde Sandsäcke und wucherndes Unkraut an den Absperrungen zeigten einen inoffiziellen Waffenstillstand an.

Damit war vor drei Monaten Schluss: RebellInnen starteten in Harasta einen Angriff auf die Kontrollposten der Umgebung und töteten alle Regierungssoldaten, die sich ihnen in den Weg stellten. Das ist eine schlimme Niederlage für eine Armee, die schon damit überfordert ist, die Autobahn von Damaskus in Richtung Norden nach Homs unter Kontrolle zu halten.

Seit einiger Zeit wendet das syrische Militär das «Baumverteidigungssystem» an: Die Städte und die Hauptstrassen unter Kontrolle halten und die ländlichen Gebiete den RebellInnen überlassen. Damit steht es vor den gleichen Problemen wie ehemals die Sowjets in Afghanistan.

Die syrische Armee hat vor einiger Zeit herausgefunden, weshalb sich Islamisten und Truppen der al-Kaida ausgerechnet in der Provinz Idlib niedergelassen haben. Im Zusammenhang mit dem Irakkrieg bezeichnete die CIA das Gebiet im Nordwesten Syriens als «Al-Kaida-Triangel»: Von dort aus wurden regelmässig Kämpfer in den Irak geschickt, um die AmerikanerInnen anzugreifen. Heute ist Idlib eine Region, die von islamistischen Rebellen und von der al-Kaida beherrscht wird. Was für al-Assad damals hilfreich im Krieg gegen die AmerikanerInnen war, richtet sich heute gegen ihn. Die CIA würde dieses Eigentor einen «Blowback» nennen.

Schwarzer Humor kann dennoch jedes Schlachtfeld durchdringen: so auch vor wenigen Tagen in Harasta, als sich Regierungstruppen und RebellInnen in zwei Zimmern eines Hauses befanden. Einer der Rebellen schrie: «Falls ihr Sunniten von Idlib seid, kommt und kämpft an unserer Seite!» Ein Regierungssoldat antwortete mit einer hässlichen Beleidigung der Mutter des Rebellen. «Ich hatte deine Mutter nicht erwähnt», schrie der Rebell zurück, «dann lass auch meine Mutter aus dem Spiel!»

Robert Fisk ist Nahostkorrespondent der britischen Zeitung «The Independent». Aus dem Englischen von Andrea Müller.