Belgien und Syrien: Aus der EU-Hauptstadt in den Dschihad

Nr. 18 –

Hunderte junge EuropäerInnen ziehen für den Dschihad in den Krieg nach Syrien. Aus Belgien stammen besonders viele. Was treibt sie an? Und was wird dagegen getan?

Das Gesicht des belgischen Dschihad ist schmal. Es hat buschige Augenbrauen, trägt eine randlose Brille und einen schwarzen Zottelbart. Mitte April erschien es wieder einmal landesweit in den Medien, als Fouad Belkacem – auch bekannt als Abu Imran – festgenommen wurde. Seine inzwischen aufgelöste Vereinigung Sharia4Belgium soll Pläne verfolgt haben, Belgien in einen Gottesstaat umzuwandeln. Zudem habe sie Jugendliche dazu angeworben, im syrischen Bürgerkrieg auf der Seite radikaler IslamistInnen zu kämpfen.

Früher war Fouad Belkacem (30) ein «normaler Junge», der mit seinem Vater Gebrauchtwagen verkaufte. Dann kam er unter den Einfluss radikaler MuslimInnen. Das sagt jedenfalls Nordine Taouil, Imam in Antwerpen und Brüssel sowie Vorsitzender des belgischen Muslimrats. Um zu verhindern, dass das Beispiel Belkacem Schule macht, wendet sich Taouil in seinen Predigten an die nächste Generation muslimischer Jugendlicher. «Deradikalisierung» ist sein Anliegen, und das heisst zurzeit: «Geht nicht nach Syrien!»

Genau das tun aber junge belgische MuslimInnen in letzter Zeit immer öfter. Die jüngsten Schlagzeilen halten das Land in Atem: Nach inoffiziellen Berichten schlossen sich über hundert junge BelgierInnen dem Kampf gegen Baschar al-Assad an, darunter Fünfzehn- und Sechzehnjährige. Mindestens zwölf sollen bereits getötet worden sein. Ein Vater aus Antwerpen reiste vergeblich nach Syrien, um seinen Sohn, einen Konvertiten, wieder nach Hause zu holen. Auch ein Brüsseler Imam machte sich nach Syrien auf, um belgische DschihadistInnen zur Rückkehr zu bewegen – erfolglos. Er wurde von einer islamistischen Gruppe des Verrats beschuldigt und gefangen genommen.

Rekrutierung im Internet

Auch früher, so Nordine Taouil, zogen MuslimInnen aus westlichen Ländern an die Schauplätze des internationalen Dschihad: Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien. «Doch es waren nicht so viele wie heute. Entscheidend ist, dass die Kommunikation leichter geworden ist. Sie können sich per SMS über Routen nach Syrien verständigen.» Hinzu kommt, dass sich muslimische Prediger über das Internet an europäische MuslimInnen wenden. ExpertInnen vom International Centre for the Study of Radicalisation (vgl. «DschihadtouristInnen» im Anschluss an diesen Text) bestätigen, dass die Online-Rekrutierung zentral ist.

Die Gründe für die Konjunktur des Dschihad sind divers. Zum einen sind da militant-puristische Strömungen wie die Takfiri-Bewegung, deren AnhängerInnen selbst andere MuslimInnen zu Ungläubigen erklären. Dass die Bewegung unter jungen MuslimInnen im Westen AnhängerInnen findet, führt Taouil auch auf deren prekäre gesellschaftliche Situation zurück: «Es gibt immer mehr als einen Grund für die Radikalisierung. Aber in Antwerpen zum Beispiel gibt es 54 Prozent Arbeitslosigkeit unter jugendlichen Migranten. In dieser Situation landen sie oft entweder in der Kriminalität oder der Religion. Vor allem die sehr jungen Jugendlichen sind empfänglich für den Hass, den Radikale in ihren Herzen säen.»

Zwei Schlagzeilen illustrieren die derzeitige Situation in Belgien: «Junge Muslime fühlen sich noch immer diskriminiert», titelt die «Gazet van Antwerpen». Laut einer Befragung der Tageszeitung sehen sich nur dreissig Prozent der Befragten als von der Gesellschaft akzeptiert an. Sechzig Prozent gehen davon aus, man werde sie niemals als «integriert» anerkennen. Die Zeitung «La Libre Belgique» wartet derweil mit dem «Plan Milquet zum Kampf gegen die Radikalismen» auf.

Joëlle Milquet ist die belgische Innenministerin, die mit ihren MinisterkollegInnen aktiv werden will: Die Beteiligung am syrischen Bürgerkrieg soll strafbar sein, die Grenzkontrollen sollen verschärft werden. Minderjährige, die in die Türkei fliegen, will man besonders gründlich kontrollieren. Ausserdem suchen die PolitikerInnen nach Wegen, potenziellen DschihadtouristInnen den Pass zu entziehen. Und das neue Antiterrorgesetz schliesst auch die Anstiftung zu Terrorismus inklusive der Rekrutierung mit ein.

Angst vor RückkehrerInnen

Parallel dazu arbeiten die MinisterInnen an einem «Präventivprogramm» zur Vorbeugung von Radikalisierung. Dazu will Milquet auch ehemalige radikale MuslimInnen einbinden, die dem Dschihad abgeschworen haben. Kürzlich gründete das Innenministerium eine «Task Force Syrie» sowie eine Anlaufstelle für Eltern, deren Kinder nach Syrien zogen. Sorgen macht man sich nicht zuletzt um die Rolle, die junge DschihadistInnen nach ihrer Rückkehr in Belgien spielen könnten.

In Molenbeek gehen die Jalousien herunter. Teestuben und Läden schliessen zum Freitagsgebet, Männer im Dschalabijas laufen Richtung Moschee. Wenn vom radikalen Islam in Brüssel die Rede ist, taucht der Name des westlichen Quartiers immer auf, neben den benachbarten Anderlecht und Scharbeek im Norden der Stadt. 53 Jugendliche aus der Hauptstadt sollen inzwischen in Syrien sein – zwölf davon aus Molenbeek, darunter auch zwei Minderjährige.

Im Gemeindehaus ist Syrien ein Dauerthema. Lydia Barcelona, leitende Mitarbeiterin von Bürgermeisterin Françoise Schepmans, sieht verschiedene Motive, die Brüsseler Muslime aufbrechen lassen. «Manchen Jugendlichen geht es darum, die Scharia einzuführen. Andere wollen in erster Linie gegen ein diktatorisches Regime kämpfen», sagt sie. «Insofern sehen sie einen Unterschied zwischen Dschihad und Bürgerkrieg.»

Symbolpolitik

Spielt der Konflikt zwischen SchiitInnen und SunnitInnen dabei eine Rolle? Immerhin stammen die meisten MuslimInnen Molenbeeks aus dem sunnitischen Maghreb. Doch Mustafa Er, ein Angestellter der Kommune, schüttelt energisch den Kopf. «Das hat auf diese Jugendlichen keinen Einfluss.» Eher scheint es in Molenbeek um Symbolpolitik zu gehen. Im Sommer 2012 kam es nach der Verhaftung einer Nikab tragenden Muslima zu Unruhen im Quartier, hinter denen die damals noch existierende Sharia4Belgium stand. «Sehr agressiv», sagt Mustafa Er, seien die Mitglieder der Gruppe aufgetreten.

Wenige Tage nach der Verhaftung von Fouad Belkacem bricht Innenministerin Joëlle Milquet in die USA auf, um sich bei hochrangigen GeheimdienstmitarbeiterInnen über Antiterrormassnahmen zu informieren. Gleichzeitig vernehmen die Menschen in Belgien eine neue Nachricht: Ein vermisster fünfzehnjähriger Gymnasiast aus Antwerpen ist inzwischen in Syrien. Wie sagte doch Imam Nordine Talouil? «Ich befürchte, wenn wir jetzt nicht etwas unternehmen, ziehen noch viel mehr Jugendliche los.»

DschihadtouristInnen

Das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) in London geht von 2000 bis 5000 AusländerInnen aus, die seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs aufseiten der Opposition kämpf(t)en. Die meisten kamen aus dem Irak, der Türkei, Jordanien und Nordafrika. Bis zu 590 europäische MuslimInnen zogen nach Syrien. Zurzeit sollen zwischen 70 und 441 vor Ort sein. Am stärksten vertreten sind die Niederlande (bis zu 104), Grossbritannien (bis 77), Belgien (bis 75) und Frankreich (bis 59). Aus der Schweiz ist kein Fall bekannt.