Strafjustiz: «Es wird immer wieder schwere Delikte geben»

Nr. 23 –

Der Zürcher Strafrechtler Matthias Brunner kritisiert die Null-Risiko-Mentalität in der Strafjustiz. Sie führe dazu, dass immer mehr Menschen weggesperrt werden, die wahrscheinlich ungefährlich sind.

WOZ: Matthias Brunner, wie kann es sein, dass ein nachweislich gefährlicher Psychopath wie Claude Dubois, der die neunzehnjährige Marie ermordet hat, freikommt, während Adrian Schmid, der niemanden umgebracht oder vergewaltigt hat (vgl. Artikel nebenan), seit mehr als sechs Jahren weggesperrt wird?
Matthias Brunner: Ich kenne die Details der beiden Fälle nicht, weshalb ich hier keinen Vergleich ziehen kann.

Der jüngste Vorfall in der Westschweiz zeigt aber exemplarisch auf, dass solche Einzelfälle – und es sind Einzelfälle – das Bewusstsein der Öffentlichkeit, der Medien und der Politik viel zu stark prägen. Solche schweren Delikte werden als Versagen des Strafjustiz- und Strafvollzugssystems betrachtet. Unsere Gesellschaft will nicht wahrhaben, dass solche schweren Delikte immer wieder vorkommen werden. Die Mehrheit der Gewaltverbrechen geht von Ersttätern aus. Sie können also nicht verhindert werden, indem man Straftäter lebenslang wegsperrt.

In den letzten zwanzig Jahren hat sich in unserer Gesellschaft ein massives Sicherheitsbedürfnis entwickelt. Die Folge davon ist ein Null-Risiko-Prinzip.

Wie wirkt sich dieses Prinzip auf die Strafjustiz aus?
Es schaltet einerseits das Verhältnismässigkeitsprinzip aus, das in einem Rechtsstaat elementar ist. Das heisst, die Frage, ob das mit einem Entscheid verbundene Risiko vertretbar ist oder nicht, wird nicht mehr gestellt.

Andererseits bedeutet es eine Abkehr vom Schuldprinzip. Besonders Gewalt- und Sexualstraftäter sitzen heute oft nicht mehr im Gefängnis wegen der Tat, die sie begangen haben, sondern wegen einer Tat, die sie künftig begehen könnten. Sie werden interniert wegen einer ihnen zugeschriebenen Gefährlichkeit. Diese Menschen werden für ihre Taten nicht nur sanktioniert, sondern zunehmend auf unbestimmte Zeit präventiv weggesperrt – obschon sie ihre Strafdauer abgesessen haben. Die Angst vor den Konsequenzen bei einem allfälligen Rückfall ist hoch – besonders der Druck der Medien wird gefürchtet.

Im Zusammenhang mit der Gefährlichkeitseinschätzung spielen die psychiatrischen Gutachten eine überragende Rolle. Sie sollen über eine psychiatrische Diagnose eine Prognose ergeben. Viele Juristinnen beklagen den Einfluss der Psychiater auf die Strafjustiz.
Es ist in den letzten Jahren tatsächlich zu einer Psychiatrisierung des Justizwesens gekommen. Ich halte das für problematisch. Von der Psychiatrie wird immer mehr verlangt, die Gefährlichkeit eines Individuums einzuschätzen. Die Gefährlichkeit ist aber ein normativ-politischer Begriff und kein psychiatrischer. Die Psychiatrie vermittelt zunehmend den Eindruck, sie könne wissenschaftlich legitimierte, verlässliche Aussagen über künftige Delikte machen. Dabei geht es nur um statistische Angaben zur Wahrscheinlichkeit, wobei von vielen unbekannten Faktoren abhängt, ob wirklich etwas geschehen wird. Da kann es keine Garantien geben. Also prognostizieren die Gutachter eine Rückfallwahrscheinlichkeit von zehn Prozent. Oder dreissig Prozent. Die Entscheidung liegt dann beim Richter, der kein Risiko eingehen will. Das führt dazu, dass immer mehr Menschen in unseren Gefängnissen sitzen, die wahrscheinlich ungefährlich sind.

Es sind folglich nicht nur die Psychiater für diese Entwicklung verantwortlich, sondern auch die Gerichte und Vollzugsbehörden. Der Ursprung liegt im erstarkten Bedürfnis unserer Gesellschaft nach Sicherheit. Die Strafjustiz folgt der Null-Risiko-Mentalität, das geht zulasten der Grund- und Freiheitsrechte.

Im Fall von Adrian Schmid liegen drei Gutachten vor – und drei verschiedene Prognosen. Wie kann das sein?
Das zeigt auf, wie stark das Gutachten vom Psychiater abhängt, der es erstellt. Es ist trotzdem erstaunlich: Für eine psychiatrische Diagnose liegt alles vor – es stehen Dokumente und Fakten zur Verfügung, die betroffene Person sitzt einem im Gespräch gegenüber. Wenn es schon so schwierig ist, eine Diagnose zu erstellen, wie sieht es dann erst mit einer Prognose aus?

Die Lage für Adrian Schmid hat sich insofern verbessert, als er nicht mehr verwahrt ist, sondern sich in einer stationären therapeutischen Massnahme befindet. Auf eine Behandlung wartet er trotzdem seit acht Monaten.
Wenn das Gericht eine Massnahme angeordnet hat, muss diese auch vollzogen werden. Die Vollzugsbehörden im Kanton Jura sind verantwortlich dafür, dass die Therapie auch stattfindet. Ist der Vollzug in einer bestimmten Anstalt nicht gewährleistet, müssen die Behörden eine Alternative suchen. Klar kann es Verzögerungen geben, aber acht Monate sind nicht akzeptabel. Es gibt immer wieder Fälle, bei denen die Massnahme während längerer Zeit nicht vollzogen wird.

Der Cannabiskonsum von Adrian Schmid spielt in den Gutachten eine zentrale Rolle. Ihm wird zur Last gelegt, dass er auch im Gefängnis weiterhin Cannabis geraucht hat. Ist das gerechtfertigt?
Das kann ich als Jurist nicht beurteilen. Ich weiss aber, dass Mediziner von einem möglichen Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und Psychosen sprechen. Insofern kann der Konsum problematisch sein.

Unbestritten ist hingegen, dass solche disziplinarischen Vergehen gerne herangezogen werden, um eine Verwahrung zu verlängern. Ich erfahre das immer wieder: Ein angepasstes, unterwürfiges Verhalten wird belohnt, während das Unangepasste und Aufmüpfige zur Gefährlichkeit hochstilisiert wird.

Sie sagen, dass sich ein System etabliert hat, das Menschen lieber vorbeugend wegsperrt, als ein gewisses Risiko in Kauf zu nehmen. Gibt es – auch angesichts des hohen gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnisses – überhaupt Möglichkeiten gegenzusteuern?
Es gibt zumindest Bereiche, wo gerade für Verwahrte gewisse Verbesserungen möglich sind. Heute ist es so, dass ein Verwahrter vor Gericht wie auch im Vollzug weitgehend ein Objekt ist, das den Psychiatern, den Richtern und Vollzugsbehörden ausgeliefert ist. Oft dauern die Entscheidungsprozesse ewig. Für den Gefangenen ist unklar, welche Verwaltungsabteilung überhaupt verantwortlich ist. Diese Ungewissheit zermürbt auf die Dauer.

Eine Verbesserung brächte auch eine rigorosere Haftungspraxis. Wenn heute jemand länger weggesperrt wird, als es wirklich nötig wäre, hat das keine Konsequenzen für die Entscheidungsträger. Im Gegenteil: Man bezeichnet es sogar noch als verantwortungsvolles Handeln. Es ist fast unmöglich, Schadenersatz oder eine Genugtuung einzufordern. Wenn die Entscheidungsträger hingegen jemanden zu früh entlassen, hat das happige Folgen. Sie riskieren, am Pranger zu stehen, im schlimmsten Fall sogar ein Strafverfahren. Es fehlt das Sensorium, dass es verantwortungslos ist, kein Risiko mehr einzugehen und damit die Freiheitsrechte zu unterlaufen.