Ägypten: Die ignorierte Revolution

Nr. 27 –

Ägyptens Präsident Muhammad Mursi macht weiter, wo sein gestürzter Vorgänger, Hosni Mubarak, aufgehört hat. Die Menschen fühlen sich betrogen. Nun hängt wieder vieles von der Armee ab, die auch dieses Mal ihre Pfründen zu verteidigen versucht.

Der Massenaufmarsch in Ägypten am letzten Sonntag hat die politische Situation im Land grundlegend verändert. «Heute sind noch viel mehr Menschen auf die Strasse gegangen als bei der Revolution 2011», sagte eine Demonstrantin vor dem Präsidentenpalast in Kairo. Neben dem Tahrirplatz ist das der zentrale Schauplatz der Proteste. Im Januar 2011 musste der ägyptische Diktator Hosni Mubarak nach wochenlangen Protesten zurücktreten. Und diesmal heisst es überall: «Wir werden erst wieder gehen, wenn Muhammad Mursi gestürzt ist.»

Laut Angaben der Armee haben am Sonntag zwischen vierzehn und siebzehn Millionen Menschen im ganzen Land den Rücktritt des Staatspräsidenten verlangt. Immer wieder skandierte die Menge die Slogans «Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit» und «Das Volk will den Sturz des Regimes». Die Kampagne für die Rebellion, eine parteiunabhängige Initiative, die den Rücktritt des Präsidenten und eine vorgezogene Präsidentschaftswahl fordert, konnte nach eigenen Angaben rund 22 Millionen Unterschriften sammeln.

Noch letzte Woche bezeichnete Mursi die Rücktrittsforderung als «absurd und illegal». Doch tatsächlich wird es für ihn eng. Immer mehr Parteien haben sich in den letzten Wochen der Kampagne angeschlossen und die Unterschriftensammlung aktiv mitgetragen. Ausserdem schaffte es die Opposition, auch in ländlichen Gebieten Fuss zu fassen, dem traditionellen Milieu von Mursis Muslimbrüdern und ihrer Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP). Bislang waren sich diese in den Dörfern einer erdrückenden Mehrheit sicher.

Das linksliberale Lager stellt seine inhaltlichen Differenzen hintenan, um gemeinsam gegen den Präsidenten mobilzumachen. Rund zwanzig Oppositionsparteien haben sich zu einer Allianz zusammengeschlossen, der Nationalen Rettungsfront. Auf den Kundgebungen sind keine Parteifahnen zu sehen. Einzig Ägyptens Nationalfahne, ein Symbol der Revolution, und Transparente mit Bildern getöteter Revolutionäre werden geschwenkt.

Seit Muhammad Mursi vor einem Jahr die Macht am Nil übernahm, hat sich das Leben für die meisten ÄgypterInnen nicht verbessert, im Gegenteil. Mursi und seine FJP haben wirtschaftspolitisch versagt, innenpolitisch polarisiert und die ägyptische Bevölkerung gegen sich aufgebracht. Fast ununterbrochen fanden in seiner Amtszeit Streiks und Proteste gegen den wachsenden Einfluss der IslamistInnen auf Ägyptens Institutionen statt. Die Wirtschaft steht vor dem Kollaps, Sicherheitskräfte gingen immer wieder mit Gewalt gegen Demonstrationen und Streiks vor, die Regierung versucht, die Meinungsfreiheit einzuschränken, und zerrte JournalistInnen vor Gericht. Die Menschen bangen um die Ideale der Revolution von 2011, schliesslich ist durch diese eine Organisation an die Macht gekommen, die die Forderungen der Revolution nach sozialer Gerechtigkeit und politischer Freiheit schlichtweg ignoriert.

Ideale Partner der Armee

Mursis Wirtschaftspolitik ist eine Fortführung jener der früheren Machthaber. Auch sie basiert auf Kooperation mit den Militärs. In den achtziger Jahren begann in Ägypten die Deregulierung der Wirtschaft. Die Privatisierung von Staatsunternehmen öffnete der Korruption Tür und Tor und begünstigte den Aufstieg einer mit den politischen Machthabern Ägyptens verbündeten Elite, vor allem hochrangige Angehörige der Sicherheitskräfte. Die Armee als Institution, aber auch einzelne hohe Offiziere besitzen heute unzählige Unternehmen wie Bäckereien, Hotels und Baufirmen und lassen dort auch Dienstpflichtige unbezahlt arbeiten. Ausserdem kontrollieren sie durch Import- und Exportmonopole Teile des Aussenhandels. Die Führungskader der Muslimbruderschaft wiederum gehören wie der Multimilliardär Chairat al-Schater zur Oberschicht. Nach ihrer Machtübernahme waren sie ökonomisch ideale Partner für die Armee, um die Aufrechterhaltung des Status quo zu sichern.

Das Bündnis mit der Bruderschaft erlaubte der Armee den Rückzug aus der ersten Reihe des politischen Geschehens, da die IslamistInnen ebenso wie die Regierung Hosni Mubaraks eine dezidiert neoliberale Politik verfolgen. Bereits unter der von Mubarak eingeleiteten Marktöffnung hat sich Ägypten zu einem Billiglohnland entwickelt. Firmen aus den USA und der EU strömten nach Ägypten, um kostengünstig etwa Fernsehgeräte zusammenbauen zu lassen oder Autoreifen zu produzieren. Der britische Telefonkonzern Vodafone betreibt grosse Callcenters im Land. Ausserdem wurden die Einfuhrzölle reduziert. Seither überschwemmen subventionierte Agrargüter aus der EU und den USA Ägypten; mit den Billigangeboten können die einheimischen KleinbäuerInnen nicht mithalten. Das Land ist heute weltweit der grösste Weizenimporteur. Rund ein Drittel der Bevölkerung ist von subventioniertem Brot abhängig. Auch Treibstoffe werden subventioniert. Ägypten exportiert zwar Rohstoffe wie Erdöl und Erdgas, muss jedoch Benzin und Diesel teuer importieren, weil die Raffinerien im Land fehlen.

IWF diktiert Bedingungen

Seit Mursis Machtübernahme ist die Inflation weiter gestiegen, Haushaltsdefizit und Staatsverschuldung haben Rekordwerte erreicht. Die Einfuhr von Weizen und Treibstoff hat den Haushalt zuletzt zusätzlich stark belastet, da der Verfall der ägyptischen Währung die Importe verteuert. Die Währungsreserven sind eingebrochen, das Land nur noch zahlungsfähig, weil den Muslimbrüdern nahestehende Staaten wie Katar und Libyen aushelfen.

Kreditzusagen und der Erlass von Teilen der Auslandsschulden seitens der EU sind an einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über einen 4,8 Milliarden US-Dollar schweren Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) gekoppelt, über den seit fast zwei Jahren verhandelt wird. Doch dieser Kredit ist seinerseits an Bedingungen geknüpft. Hauptforderung des IWF sind eine strikte Haushaltsdisziplin und die Verringerung der Staatsausgaben, die durch den Abbau der Subventionen erreicht werden soll. Sollte der IWF-Deal also zustande kommen, müssten die Armen den Preis dafür zahlen, weil dann die Preise für Brot und Diesel steigen.

Zudem liegt der Tourismussektor faktisch brach. Rund fünfzehn Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind in der Branche beschäftigt. Ägypten ist auf diese Devisenquelle angewiesen. Mursi beschuldigt die Opposition, mit ihren Protesten und Streiks das Land zu destabilisieren und die TouristInnen abzuschrecken. Doch selber ernannte er jüngst ausgerechnet einen Radikalislamisten zum Gouverneur von Luxor, der in enger Beziehung zu jener Gruppierung stand, die 1997 in Luxor ein Attentat auf eine Touristengruppe verübt und dabei 62 Menschen zu Tode gebracht hatte. Nach anhaltenden Protesten ist die Ernennung inzwischen rückgängig gemacht geworden.

Da die Armee stark im Tourismussektor mitmischt, der seit der Revolution kaum Gewinne abwirft, dürfte das zusammen mit den Massenprotesten die Militärs dazu veranlassen, ihr Bündnis mit der FJP zu hinterfragen. Eine Intervention der Armee wird immer wahrscheinlicher. Allerdings hat sie sich bislang nicht darauf festgelegt, was sie vorhat. Sie scheint sich so lang wie möglich alle Optionen offenzuhalten.

Mit oder ohne Militär

Gefährlich könnte den Armeeinteressen allenfalls der populistische Hamdin Sabahi werden. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2012 verpasste er nur knapp die Stichwahl. Sabahi steht der Gewerkschaftsbewegung nahe und vermag in den Armenvierteln viele AnhängerInnen zu mobilisieren. Der Verfechter eines staatssozialistischen, nationalistischen Kurses wendet sich gegen Privatisierungen und die Vorgaben des IWF. Wie er allerdings ohne Unterstützung der allgegenwärtigen Militärs Ägypten führen könnte, bleibt unklar.

Demgegenüber dürften sich die wirtschaftsliberalen Parteien eher mit den Militärs arrangieren können. Deren Aushängeschild sind der frühere Direktor der Internationalen Atomenergie-Agentur, Muhammad al-Baradei, und der frühere Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa. Unter einer solchen Konstellation dürfte Ägypten allerdings kaum aus der Krise finden.

Armee, Präsident, Opposition : Ägypten vor erneutem Militärputsch?

Das Ultimatum der Armeespitze an Präsident Muhammad Mursi ist am Mittwochnachmittag abgelaufen. Die von den Generälen geforderte Lösung des Konflikts mit der Opposition ist nicht erreicht worden – im Gegenteil. Der Machtkampf zwischen dem Regierungslager und der Opposition hat sich verschärft. Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe hat das Militär nicht interveniert. Es wird aber darüber spekuliert, dass es die Verfassung suspendieren, Mursi absetzen und das Parlament auflösen könnte.

Schon nach der Revolution von 2011, die Präsident Hosni Mubarak stürzte, griff die Armee ein. Damals formierte die Armeeführung den Obersten Militärrat (SCAF), der bis zu Mursis Übernahme des Präsidentenamts mit harter Hand regierte. Der SCAF bezeichnete die Machtübernahme als vorübergehende Notwendigkeit, um die Stabilität Ägyptens zu garantieren, liess jedoch Demonstrationen und Streiks niederschlagen. Faktisch handelte es sich damals um einen Staatsstreich.

Vor den Massenprotesten am vergangenen Sonntag kündigte das Militär an, den «Willen des Volks» zu respektieren. Es ist jedoch nicht klar, ob mit dem Volkswillen die Präsidentschaftswahl 2012 gemeint ist, die Mursi gewann, oder der Ruf der Strasse nach einem Rücktritt des Präsidenten. Trotz der Gewalt unter der SCAF-Herrschaft sind viele Menschen einer erneuten Machtübernahme der Militärs nicht abgeneigt. Die patrouillierenden Armeehelikopter wurden am Sonntag von vielen DemonstrantInnen mit Jubel begrüsst. Zahlreiche Oppositionsparteien lehnen eine Machtübernahme der Armee jedoch strikt ab.

Die Opposition forderte Mursi weiterhin zum Rücktritt auf. Gewerkschaften und Parteien kündigten einen Generalstreik an. Zudem bröckelt die politische Unterstützung für Mursi. Am Dienstag trat Aussenminister Muhammad Kamel Amr zurück. Mit dem Rücktritt des Technokraten haben seit Beginn der Proteste sechs Minister ihr Amt niedergelegt. Die salafistische Nour-Partei, ein politischer Verbündeter Mursis, sprach sich für Neuwahlen aus, um einen Bürgerkrieg zu verhindern.

Seit Beginn der Massenproteste am letzten Sonntag sind bereits Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Acht Menschen starben allein beim Sturm auf den Hauptsitz der Muslimbrüder in Kairo. Die Muslimbrüder riefen ihrerseits zum Protest auf und demonstrierten für die «Legitimität des demokratisch gewählten Präsidenten». In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch dieser Woche kam es bei der Universität von Kairo zu schweren Zusammenstössen zwischen AnhängerInnen der beiden Lager. Mindestens achtzehn Menschen starben, Hunderte wurden verletzt.