Ägypten und die Revolution: Wahlen oder Demokratie

Nr. 28 –

Revolution, Putsch, Demokratie – eigentlich müssig zu diskutieren, welcher dieser imposanten Begriffe auf die vor zweieinhalb Jahren begonnenen Umwälzungen in Ägypten passen könnte. Nun, mitten im Tumult, kann auch noch gar nicht klar sein, ob der Sturz der demokratisch gewählten Regierung durch das Militär letztlich eine weitere Demokratisierung verhindert oder begünstigt. Eine einfache Wahrheit gibt es nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn man hinter die Fassade der gerade bestehenden Ordnung schaut und anerkennt, dass eine Demokratie viel mehr als freie Wahlen beinhaltet.

Revolution: Die vielen Hunderttausend Protestierenden, die seit Januar 2011 in den Grossstädten immer wieder auf die Strasse gegangen sind, haben in kurzer Zeit viel erreicht – aber sicher keine Revolution und schon gar keine echte Demokratie. Seit dem Sturz des langjährigen Alleinherrschers Hosni Mubarak steht die Protestbewegung in der Gnade des Militärs, das den Übergang zu einer formal demokratischen Ordnung sicherstellte.

Die im Militär konzentrierten Staatseliten blieben auch nach dem überwältigenden Wahlsieg der Muslimbrüder bei den Parlaments- und Präsidialwahlen fest im Sattel. Doch nicht die hohle Fassadendemokratie trieb die urbane Bewegung erneut in Massen auf die Strasse, sondern die Islamisierung der Staatsgewalt, zunehmende Korruption und der Zerfall der Wirtschaft.

Putsch: Erneut war die Protestbewegung höchst erfolgreich. Doch erneut war dies nur dank des Militärs möglich. In den Augen vieler ist die Ausschaltung einer gewählten Regierung, die demokratische Ideale verraten hat, kein Putsch. Faktisch hat zumindest im Rahmen der Fassadendemokratie ein Fassadenputsch stattgefunden. So oder so sind nun die säkularen Kräfte komplett von den Prioritäten des Militärs abhängig.

Schon bevor an diesem Montag die Sicherheitskräfte in Kairo mindestens 51 protestierende Anhänger der Muslimbrüder töteten, forderten einige Regierungen, etwa die der USA und der Schweiz, fast wortgleich einen «Verzicht auf Gewalt» und eine «Rückkehr zur Demokratie». Diese Worte entspringen wohl dem realpolitisch und weltwirtschaftlich motivierten Wunsch nach Rückkehr zu Stabilität. Ginge es den USA auch um Demokratisierung, würde die Weltmacht ihre Milliardenhilfe an das ägyptische Militär an entsprechende Forderungen knüpfen.

Demokratie: Auch das ägyptische Militär hat jedes Interesse an Stabilität. Doch wegen des internationalen und innenpolitischen Drucks wird es wohl schon im Winter Neuwahlen abhalten lassen. Das Ergebnis ist – bei einer überwiegend ländlichen, gläubigen und schlecht gebildeten WählerInnenschaft, die 2011 zu rund 65 Prozent islamistisch orientierte Parteien wählte – absehbar: Entweder werden gewisse islamistische Parteien von der Wahl ausgeschlossen, was abgesehen von der Demokratie auch der Stabilität nicht dienlich wäre. Oder die IslamistInnen werden zugelassen und erneut gewinnen. Spätestens wenn dann der salafistische Block das Sagen hat, werden die RevolutionärInnen wieder nach der starken Hand des Militärs rufen.

Die Geister von Revolution und Putsch werden also eine Weile Hand in Hand gehen. Eine echte Demokratie liegt aber in weiter Ferne. Ob das Fernziel je erreicht wird, hängt nicht nur von der Demokratiefähigkeit der Staatselite ab, sondern auch davon, ob eine Mehrheit der ÄgypterInnen einen grundsätzlich säkularen Staat je akzeptieren wird. Und davon, ob Ägypten vom Missverständnis abkommt, Demokratie bedeute die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit.

Dafür sind rasche Neuwahlen keine Priorität. Viel wichtiger ist es, sich vorher auf Institutionen zu einigen, die der tiefen Spaltung der ägyptischen Gesellschaft Rechnung tragen. Eine politische Dezentralisierung bis hin zu Föderalismus zum Beispiel. Und ein weniger autoritäres, parlamentarisches Regierungssystem. Minderheiten wären so besser vertreten und hätten mehr Selbstbestimmung. Die Revolution ist noch nicht am Ende, sondern wieder an einem Anfang.

Siehe auch «Wer darf unter der Armee regieren? ».