Für Konsens statt Ungleichheit: Vernünftige Kompromisse wie bei Occupy

Nr. 42 –

David Graeber ist Anthropologe und Anarchist aus den USA. Letztes Jahr erschien sein Buch «Schulden. Die ersten 5000 Jahre». Graeber hält Ungleichheit für antidemokratisch und plädiert für eine Konsensdemokratie.

David Graeber: «Geld zerstört alles. Plötzlich dreht sich jeder Vorschlag nur noch um Geld.» Foto: Andreas Bodmer

WOZ: David Graeber, der US-amerikanische Staat ist im Moment abgeschaltet. Als Anarchist sollte Ihnen das gefallen.
David Graeber: Nun ja, die Teile des Staats, die die Politiker jetzt stillgelegt haben, sind genau jene, gegen die sich Anarchisten am wenigsten wehren: Sozialdienste, Spitäler, kulturelle Institutionen. Darüber, Soldaten und Polizisten in die Ferien zu schicken, denkt man in Washington hingegen nicht einmal nach. Das sagt uns etwas darüber, was den Staat im Kern ausmacht.

Was denn?
Die bürokratischen Institutionen zur Ausübung von Zwang und Gewalt sind zentral. Es gibt einen berühmten anarchistischen Sticker, auf dem ein Polizist zu sehen ist, der sagt: «Wen auch immer du wählst, ich bin schon da.»

Umgekehrt gibt es staatliche Institutionen, die ohne bürokratisierte Gewalt von oben auskommen könnten: ein Spital beispielsweise. Der Staat weigert sich heute aber, öffentliche Institutionen zu ermöglichen, die egalitär funktionieren und sich somit seiner Kontrolle entziehen.

Aber in einem demokratischen Staat liegt doch die Kontrolle über dessen Institutionen zu einem wesentlichen Teil bei den Bürgerinnen und Bürgern selbst!
Nein. Die Gewaltenteilung, das System von Checks and Balances, das unsere modernen Demokratien ausmacht, verhindert dies.

Die Gewaltenteilung? Die gegenseitige Kontrolle von Regierung, Parlament, Justiz und Stimmvolk garantiert doch gerade, dass bestimmte Akteure in einer Demokratie nicht zu mächtig werden.
Schon, aber dies geschieht gleichzeitig immer im Willen, die Bürgerinnen und Bürger in der Macht über ihr eigenes Schicksal einzuschränken. Hinter der Gewaltenteilung steht die Idee einer politischen Aristokratie, in der gebildete, arrivierte Anwälte genug Musse finden, um mit grossen Worten einerseits die nationalen Interessen und andererseits ihren eigenen Besitz zu verteidigen. Die Väter der amerikanischen Verfassung, die schon damals mit einer krassen sozialen Ungleichheit in den USA konfrontiert waren, sahen in der Gewaltenteilung den besten Weg, die Demokratie zu beschränken und so jegliche Formen von Reichtumsaneignung durch die Armen und Schuldentilgung zu verhindern. Sie fürchteten damals, dass die grosse soziale Ungleichheit, kombiniert mit echter Demokratie, ins Chaos führen würde. Damit lagen sie nicht ganz falsch. Das ist allerdings nur ein weiteres Argument gegen ökonomische und politische Ungleichheit und nicht gegen die Demokratie.

In der Schweiz haben wir immerhin ein griffiges Initiativ- und Referendumsrecht. Trotzdem setzen sich Kapitalinteressen an der Urne fast immer durch.
Nun ja, Geld in der direkten Demokratie ist eben eine sehr schmutzige Sache. Wir merkten das bei Occupy Wall Street. Die Leute gaben uns Geld, und wir mussten uns danach überlegen, wie wir es wieder loswerden sollen, es zerstört alles. Plötzlich dreht sich jeder Vorschlag an der Vollversammlung nur noch ums Geld.

Welche Alternativen zum Schweizer System sehen Sie?
Die Konsensdemokratie, wie wir sie auch bei Occupy ausprobiert haben. Politische Entscheidungsverfahren, die den Konsens zum Ziel haben, kommen immer dann ins Spiel, wenn eine Minderheit sich weigert, einer Mehrheitsentscheidung zu folgen. Das ist das einzige System, das funktionieren könnte, wenn wir auf Zwangsmethoden zur Durchsetzung einer politischen Entscheidung verzichten wollen. Konsensdemokratie ist aber nicht per se etwas Gutes. In einem Konzern etwa, der diese praktiziert, kann sie die Leute vielleicht etwas lehren, sie geschieht dort aber nicht in einem freien, egalitären Kontext.

Wenn wir mehr Demokratie wollen, müssen wir also in erster Linie die ökonomische Ungleichheit bekämpfen?
Ja. Vielleicht müssten wir darüber nachdenken, was es braucht, damit demokratische Institutionen nicht als Bühne für den Kampf sich widersprechender Interessen dienen, sondern als Räume für das Lösen kollektiver Probleme, wo Leute zusammenkommen und in konstruktiver Art und Weise vernünftige Kompromisse schliessen können. Es gibt vermutlich Zeitgenossen, die glauben, dass eine solche Demokratie durch grundsätzliche Defekte in der menschlichen Natur verhindert wird. In der Geschichte der Menschheit gibt es allerdings Beispiele für funktionierende Konsensdemokratie.

Es würde sich also lohnen, etwas mehr kollektives Nachdenken in die Entwicklung eines solchen politischen Systems zu investieren. Das ist für mich das beste Argument für den Egalitarismus: Erst wenn es keine fundamentale soziale und politische Ungleichheit mehr gibt, kann die Demokratie von einer Kampfarena zu einem echten Problemlösungsraum werden.

David Graeber: «The Democracy Project. 
A History, a Crisis, a Movement». Allen Lane. London 2013.

David Graeber: «Schulden. Die ersten 
5000 Jahre». Klett-Cotta. Stuttgart 2012.