Erster-Weltkrieg-Revisionismus: Hysterie, Obsessionen und die Frage nach der Schuld

Nr. 6 –

War der Erste Weltkrieg so etwas wie ein Betriebsunfall? Hundert Jahre nach dem Kriegsausbruch 1914 machen fragwürdige neue Thesen zur Kriegsschuld die Runde – und werden in der deutschen Medienlandschaft gefeiert.

Hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs ist die «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» ständiges Thema in den deutschsprachigen Medien. Tonangebend sind diejenigen, die eine «Neubewertung» jener Ereignisse fordern, die zum Krieg führten. Die Forderung stützt sich vor allem auf die Arbeit des australischen Historikers Christopher Clark. Dessen dickleibiges Buch «Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog» begeistert die allermeisten RezensentInnen. Die FAZ erklärte Clarks Werk zum «Buch des Jahres» 2013.

Clarks zentrale These ist im Titel schon angedeutet: Die politischen Akteure taumelten im Sommer 1914 wie Schlafwandler in den Krieg, getrieben von Hysterie und Obsessionen. Hinzugekommen seien diverse unglückliche Zufälle, so auch unmittelbar vor dem Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914, bei dem der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie vom serbischen Nationalisten Gavrilo Princip erschossen wurden.

Auf «Leichtsinn, Zufall und strukturelle Gründe» als Ursachen des Kriegsbeginns verweist auch der deutsche Politologe Herfried Münkler, der ein ähnlich umfangreiches Werk zum Thema vorgelegt hat, das ebenfalls begeisterte Zustimmung auslöste: «Der grosse Krieg. Die Welt 1914 bis 1918». Ganz ähnlich sieht es der Historiker Sönke Neitzel, der vom «Spiegel» als oberster Geschichtsdeuter präsentiert wird. Für ihn sind die Akteure von 1914 naive Friedenspolitiker. «Man dachte bloss: Wir machen uns so stark wie möglich, und dadurch bewahren wir schon den Frieden.» Das soll auch für die deutsche Seite gegolten haben.

Das deutsche Weltmachtstreben

Nimmt man die weitgehend übereinstimmenden Thesen dieser drei Wissenschaftler – und vor allem die massenmediale Begeisterung, die sie auslösen – zum Massstab, dann vollzieht sich derzeit eine Revision der jahrzehntelang dominierenden Sichtweise. Diese geht zurück auf den Hamburger Historiker Fritz Fischer, der in den sechziger Jahren den ersten bundesdeutschen Historikerstreit («Fischer-Kontroverse») auslöste. Anhand zahlreicher Quellen zeigt Fischer die jahrelangen Kriegsvorbereitungen des Deutschen Reichs auf.

Darunter ist auch ein Memorandum des späteren Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Gottlieb von Jagow, der im Sommer 1912 die Überlegungen des Generalstabschefs Helmuth von Moltke so zusammenfasste: Wegen der in den kommenden Jahren drohenden «militärischen Übermacht unserer Feinde», vor allem Russlands, bleibe «seiner Ansicht nach nichts übrig, als einen Präventivkrieg zu führen, um den Gegner zu schlagen, solange wir den Kampf noch einigermassen bestehen könnten. Der Generalstabschef stellte mir (Gottlieb von Jagow) demgemäss anheim, unsere Politik auf die baldige Herbeiführung eines Krieges einzustellen.»

Anders als oft behauptet, spricht Fritz Fischer nicht von deutscher «Alleinschuld», zeigt aber anhand der deutschen Kriegsziele, dass der recht reisserisch anmutende Titel seines Buchs – «Griff nach der Weltmacht» – keineswegs übertrieben ist. Die angestrebte Dominanz in Mitteleuropa und Mittelafrika hätte Deutschland von der Grossmacht zur Weltmacht werden lassen. Fischer zeigt ebenfalls, dass Teile der deutschen Eliten – darunter die Industriellen Krupp, Thyssen und Stinnes – noch viel weiter reichende Ziele verfolgten. Sie wollten grössere Gebiete im Westen wie im Osten annektieren, während Reichskanzler Bethmann Hollweg in seinem geheimen Programm von September 1914 ein vergleichsweise moderates (und sehr «modernes») Ziel formulierte: die «Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbundes unter äusserlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung».

Aus der Tatsache, dass dieses Programm erst nach Kriegsbeginn formuliert wurde, folgern Clark, Neitzel und Münkler, es habe im Juli 1914 überhaupt keine deutschen Kriegsziele gegeben. Das soll die These plausibel machen, die Deutschen seien, genauso wie ihre Feinde, in einen Krieg «hineingeschlittert», den niemand gewollt habe. Die Krisendiplomatie im Juli 1914 war in der Tat nicht geradlinig. Festzuhalten bleibt aber, dass Deutschland mit der Zusicherung «rückhaltloser Bündnistreue» an Österreich-Ungarn wesentlich zur Eskalation beitrug. Es folgte das maximalistische Ultimatum, dann die Kriegserklärung Wiens an Belgrad. Der weitere Verlauf, die schnelle Abfolge von Mobilmachungen und Kriegserklärungen entsprechend der jeweiligen Bündnisverpflichtungen, war voraussehbar, auch damals.

Der Krieg als mögliche Option

Gegen die nun wiederholte These, Deutschland habe auf eine «Lokalisierung» des österreichisch-serbischen Konflikts gehofft, sprechen die strategischen Überlegungen des Reichskanzlers Bethmann Hollweg, die sein Privatsekretär Kurt Riezler im Juli 1914 so zusammenfasste: «Eine Aktion gegen Serbien kann zum Weltkrieg führen. Kommt der Krieg aus dem Osten, so dass wir also für Österreich-Ungarn und nicht Österreich-Ungarn für uns zu Felde zieht, so haben wir die Aussicht, ihn zu gewinnen. Kommt der Krieg nicht, will der Zar nicht oder rät das bestürzte Frankreich zum Frieden, so haben wir doch noch Aussicht, die Entente über dieser Aktion auseinanderzumanövrieren.»

Bethmann Hollweg nahm also den Krieg als eine mögliche Option in Kauf. Das gilt allerdings auch für die Staatsmänner der anderen Grossmächte. Was die FAZ zum Schluss führt, «dass das Kaiserreich genauso schuldig oder unschuldig am Ausbruch des Krieges war wie alle anderen europäischen Grossmächte». Statt von Schuld sollte man indes besser von Verantwortung sprechen – und wie diese verteilt war. Das zeigte schon der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht, als er am 2. Dezember 1914 – als Einziger – gegen die von der deutschen Regierung beantragten Kriegskredite stimmte. In seiner Begründung wandte er sich gegen den «von der deutschen und österreichischen Kriegspartei gemeinsam im Dunkel des Halbabsolutismus und der Geheimdiplomatie hervorgerufenen Präventivkrieg».

Zugleich liess Liebknecht keinen Zweifel daran, dass auch die anderen Grossmächte keinen legitimen Verteidigungskrieg führten, sondern «einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes, um die politische Beherrschung wichtiger Siedelungsgebiete für das Industrie- und Bankkapital». Von diesen tieferen ökonomischen und geopolitischen Ursachen des Krieges aber ist in den neu erschienenen Bestsellern allenfalls am Rande die Rede.

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa 
in den Ersten Weltkrieg zog. DVA. München 2013. 896 Seiten. 55 Franken

Herfried Münkler: Der grosse Krieg. Die Welt 1914 
bis 1918. Rowohlt Verlag. Berlin 2013. 864 Seiten. 
Fr. 42.90