Frankreich in der Krise: Der unverantwortliche Pakt

Nr. 6 –

Frankreichs Präsident François Hollande hat einen Wirtschaftspakt präsentiert, der die Firmen entlasten soll, um das Land so aus der Krise zu ziehen. Doch Hollandes wirtschaftsliberale Umkehr wird das Land nur noch tiefer in die Krise stürzen, schreibt Wirtschaftsprofessor und Gastautor Sergio Rossi.

Frankreich ist der neue kranke Mann Europas. Nach Deutschland, das nach seiner Wiedervereinigung 1990 während eines Jahrzehnts in einer ähnlichen Situation steckte, dominierten nun Frankreich und seine wirtschaftliche Situation Europas öffentliche Debatte – vor Italien und Spanien. Historisch war die deutsch-französische Achse entscheidend für die Einführung des Euro im Jahr 1999 sowie für dessen Überleben nach Ausbruch der Wirtschaftskrise im Euroland 2009. Wenn einer der beiden Pfeiler, der die Achse stützt – insbesondere unter der enormen Last der privaten und öffentlichen Schulden –, zu wackeln beginnt, droht Europas einheitlicher Währungsraum zusammenzubrechen.

Der «Pakt der Verantwortung», den Frankreichs Präsident François Hollande in seiner Ansprache für das Jahr 2014 den französischen UnternehmerInnen präsentiert hat, zielt darauf ab, den französischen Pfeiler der deutsch-französischen Achse zu stärken, indem er die Annäherung an Deutschlands Grosse Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel sucht. Merkel profitiert von den neoliberalen Reformen, die ihr Vorgänger Gerhard Schröder Anfang des Jahrtausends durchgesetzt hat – ein Sozialdemokrat, von dem sich nun auch sein Genosse Hollande inspirieren liess. Deutschland hat die Arbeitskosten gesenkt, um zu Europas Exportmeister zu avancieren.

Frankreichs Pakt mit den Firmen soll durch eine grosse Senkung der Steuerlasten, die die Gewinnmargen der Unternehmen schmälern, die Wettbewerbskraft der nationalen Wirtschaft stärken. Laut dem Mouvement des Entreprises de France, Frankreichs grösstem Arbeitgeberverband, beträgt die durchschnittliche Marge der französischen Firmen 28 Prozent – gegenüber 42 Prozent in Deutschland und durchschnittlich 40 Prozent innerhalb der EU. Dieser Unterschied, so der Verband, erkläre die mangelnde Bereitschaft, in Frankreich zu investieren. Das Resultat sind ein Wirtschaftswachstum, das nahe bei null liegt, sowie eine Arbeitslosenrate von offiziell 11 Prozent – und von gar 26 Prozent unter den Jugendlichen.

Falsche Wirtschaftsrezepte

Der erste Teil des Pakts schlägt vor, die Firmen bis 2017 um jährlich dreissig Milliarden Euro zu entlasten, unter anderem indem die Familienbeiträge gestrichen werden. In den dreissig Milliarden ist der Steuerkredit von zwanzig Milliarden Euro «zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit und der Beschäftigung» enthalten, den die Regierung 2013 gesprochen hat. In einem zweiten Teil sieht der Pakt vor, die Ausgaben des Staats und seiner territorialen Einheiten zu senken, um die Unternehmen später weiter entlasten zu können. Begründet wird dies insbesondere mit der zusätzlichen Steuerlast von hundert Milliarden Euro, die die französischen Firmen gegenüber ihren deutschen Konkurrenten tragen. Gekürzt wird unter anderem bei Sozialleistungen.

Mit dem dritten Teil des Pakts schliesslich will die Regierung die Firmen dazu verpflichten, eine bestimmte Anzahl von Arbeitsstellen zu schaffen; Industrieminister Arnaud Montebourg spricht von 1,8 Millionen neuen Stellen, die Unternehmerseite von 1 Million. Die Stellen sollen insbesondere jungen Menschen sowie «Senioren» zugutekommen. Zudem sollen die neuen Angestellten weitergebildet und die Prekarität der Anstellungsverhältnisse verringert werden. Schliesslich wird von den Firmen verlangt, ihre Investitionen zu erhöhen und ihre ausländischen Aktivitäten so weit als möglich nach Frankreich zu verlagern.

Hollandes neoliberale Umkehr wird Europas kranken Mann jedoch nicht heilen. Seine Wirtschaftsrezepte entspringen einem falschen Verständnis der Ursachen von Frankreichs Krankheit. Wie die Mitte-rechts-Regierungen der Euroländer betreibt auch Hollande eine sogenannte Angebotspolitik – die auf dem Glauben an das Saysche Gesetz beruht, nach dem jedes Angebot durch die Einkommen, die aus seiner Produktion entspringen, seine eigene Nachfrage schafft. Diese Politik besteht darin, die Firmen durch die Senkung der Steuern oder der Arbeitskosten zu entlasten. Die Erhöhung der Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt durch sogenannte Strukturreformen etwa (die sich meist darauf beschränken, den rechtlichen Schutz der Beschäftigten abzubauen) soll Firmen ermuntern, neue Stellen zu schaffen, da sie den ArbeiterInnen im Fall eines Konjunkturtiefs einfacher kündigen können.

Doch es ist offensichtlich, dass die Firmen in der Eurozone kein neues Personal einstellen werden, solange sie mittelfristig mit stagnierenden oder gar sinkenden Verkaufszahlen rechnen müssen. Dasselbe gilt für die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank: Die Firmen werden sich auch weiterhin kein Geld leihen, um Investitionen zu finanzieren, solange sie erwarten, auf einem Teil der Produkte sitzen zu bleiben.

Stärkung der Europhobie

Diese düsteren Erwartungen sind der Grund dafür, dass Pierre Gattaz, Präsident des Mouvement des Entreprises de France, Hollandes Forderung ablehnt, sich auf eine fixe Zahl neu zu schaffender Stellen zu verpflichten. Die Ursache der wirtschaftlichen Krise, die Frankreich durchmacht, liegt nicht auf der Angebotsseite, sondern in der mangelnden Nachfrage auf dem Produktmarkt. Und dies ist die Folge der ungleichen Verteilung der Einkommen und des Reichtums, die die Nachfrage lähmt. Jene, die viel Geld haben, wollen es investieren, gleichzeitig fehlt der breiten Bevölkerung die Kaufkraft, um zu konsumieren. Die Wirtschaftskrise und die öffentlichen Sparmassnahmen haben die Kaufkraft und die Konsumbereitschaft eines Grossteils der Bevölkerung zusätzlich reduziert.

Verstärkt wird die Krise durch die Struktur der französischen Volkswirtschaft, die durch nur wenige Grossunternehmen geprägt ist. Grossunternehmen sind besser in der Lage, der Krise im Euroland zu trotzen, als kleine und mittlere Unternehmen (KMUs). Zum einen haben sie Zugang zu anderen Finanzierungsquellen als Bankkredite, von denen die KMUs abhängen; drehen Banken den Kredithahn zu, wie dies derzeit in Frankreich der Fall ist, können grosse Firmen ihre Aktivitäten auf dem Kapitalmarkt durch die Ausgabe von Aktien oder Anleihen finanzieren. Zum anderen sind die KMUs stark auf den nationalen Absatzmarkt beschränkt, während internationale Grossunternehmen auch von ausländischer Nachfrage profitieren können. Wie dies Deutschland tut.

Präsident Hollandes «Pakt der Verantwortung» ist der letzte in einer Reihe von unverantwortlichen Verträgen, die die Regierungen der Eurozone auf undemokratische Weise durchgedrückt haben (wie etwa das von der EU vorgelegte «six pack», das die öffentlichen Budgets weiter einschränkt). Diese unverantwortlichen Verträge gefährden den europäischen Zusammenhalt, indem sie in den Bevölkerungsschichten, die von Arbeitslosigkeit und Armut heimgesucht werden, den Nationalismus nähren.

Anstatt die Gesundheit von Frankreichs Wirtschaft durch eine Wirtschaftspolitik zu verschlimmern, die vor die Erkenntnisse des 1946 verstorbenen Ökonomen John Maynard Keynes zurückgeht, sollte Präsident Hollande besser Massnahmen ergreifen, die die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen wieder in Schwung bringen. Möglich wäre das durch eine Investitionspartnerschaft mit Firmen, um sich in fünf Wirtschaftsbereichen zu engagieren: der Gesundheit, der Bildung, der Umwelt, den neuen Technologien sowie der Stadtentwicklung. Statt die Steuern zu senken, sollten sie so ausgestaltet werden, dass die Firmen vermehrt in den genannten Bereichen investieren. Zum einen verfügen diese Branchen über ein grosses Beschäftigungspotenzial, zum anderen tragen sie zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsentwicklung bei.

Zudem sollten auch die Gelder der Pensionskassen in diesen Bereichen investiert werden, statt dass mit ihnen auf den Finanzmärkten Renditen erzielt werden, die wiederum an der Börse landen. Investitionen in KMUs würden einen positiven Effekt auf die Einkommen des Mittelstands mit sich bringen. Schliesslich wäre das Kapital (Zinsen, Dividenden und nicht reinvestierte Profite) steuerlich stärker zu belasten, um gleichzeitig die Last auf der Arbeit zu verringern. Schliesslich wären auch Vermögen stärker zu besteuern.

Sonst wird es für den Präsidenten der Republik 2017 kein zweites Regierungsmandat geben.

Sergio Rossi

Der Tessiner Sergio Rossi (46) ist ordentlicher Professor an der Universität Fribourg, wo er seit 2005 den Lehrstuhl für Makroökonomie und monetäre Ökonomie führt. Zwischen 2000 und 2007 war er Gastdozent am Zentrum für Bankenstudien in Lugano sowie an verschiedenen europäischen Universitäten.

Rossi ist Autor eines Dutzends Bücher, darunter «Money and Payments in Theory and Practice» (Routledge, 2007). Als der jetzige französische Präsident François Hollande 2012 im Wahlkampf stand, wurde Rossi von Hollande an einen runden Tisch nach Paris geladen, um seine Rezepte vorzustellen, wie Frankreich aus der Wirtschaftskrise geholt werden könnte.

Das Magazin «L’Hebdo» hat Rossi 2012 unter die hundert wichtigsten Persönlichkeiten der Westschweiz gewählt.