Mark Terkessidis: «In der Schweiz bietet die Lücke zwischen ‹viel Einwanderung› und ‹kein Einwanderungsland› viel politisches Kapital, alles kann zum Skandal erklärt werden.»

Nr. 6 –

Der Migrationsforscher Mark Terkessidis hat keine Angst, dass die RechtspopulistInnen in Europa stärker werden. Er rät der Schweiz, endlich zu akzeptieren, dass sie ein Einwanderungsland ist. Am wichtigsten ist ihm dabei die Ausweitung der Staatsangehörigkeit.

WOZ: Mark Terkessidis, in der Schweiz wird am Sonntag über die «Masseneinwanderungsinitiative» abgestimmt, auch andernorts in Europa wird eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit gefordert: so etwa vom englischen Premier David Cameron oder von CSU-Chef Horst Seehofer in Deutschland. Droht europaweit ein Rückschritt in der Migrationspolitik?
Mark Terkessidis: Ich würde diese Vorstösse nicht direkt miteinander vergleichen, weil die Motivation bei allen eine andere ist. Am ehesten ist bei Cameron und Seehofer eine gemeinsame Motivation zu erkennen. Sowohl die Tories als auch die CSU fürchten sich davor, dass neben ihnen eine populistische Partei entsteht oder schon entstanden ist. Bislang sind die UKIP, die United Kingdom Independence Party, und die AfD, die Alternative für Deutschland, keine Gefahr, aber wenn sie grösser werden, nehmen sie den rechten Rand weg, den bislang sowohl das britische wie auch das deutsche System in den konservativen Parteien gehalten haben. Die CSU hat das ja zu grosser Kunstfertigkeit gebracht, wenn es darum geht, diesen rechten Rand zu integrieren, indem ihre Politiker ab und zu nach rechts ausgetreten sind. In der Schweiz dagegen geht es nicht um den Rand – die SVP ist ja zentral. Ausserdem war die Politik gegenüber Ausländerinnen in der Schweiz durchweg restriktiv, wie sich beispielsweise bei den Einbürgerungen zeigt.

Trotzdem, es brodelt überall am rechten Rand. Marine Le Pen vom Front National in Frankreich und der Holländer Geert Wilders ziehen mit einem Anti-Europa-Bündnis in die Europawahlen vom Mai. Werden sie gemeinsam stärker?
Alle Untersuchungen zeigen, dass in Europa zehn bis fünfzehn Prozent der Bürgerinnen und Bürger ein nahezu geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Allerdings haben die populistischen Parteien unterschiedliche Traditionen: Geert Wilders stammt mütterlicherseits aus einer gemischten indonesischen Kolonistenfamilie und bringt in seinem krampfhaften Blondismus die unaufgearbeitete Kolonialgeschichte der Niederlande zum Ausdruck. Auch in Frankreich bilden ehemalige Algerienkolonisten den Kern des Front National, im Übrigen auch die Nachkommen der kolonialen Hilfstruppen: Es gibt etwa tausend Schwarze im Front National. In Deutschland würde das bei der NPD keinesfalls gehen, da dominiert immer noch «deutsches Blut». Von den Wahren Finnen bis zur griechischen Chrysi Avgi sind die Parteien so heterogen wie der nationale Kontext, in dem sie stattfinden. Ich sehe da kein Vereinigungspotenzial.

Und innerhalb der Nationalstaaten, wie gross ist da die Gefahr, dass die Rechtspopulisten stärker werden? In der Schweiz 
hatte die SVP, nach einem leichten Einbruch, bei den letzten Wahlen immer noch 27 Prozent der Stimmen geholt und sitzt weiterhin in der Regierung.
Keiner populistischen Partei ist es bisher in Europa gelungen, über die Hürde von dreissig Prozent zu springen. Das scheint eine magische Grenze zu sein, sie galt für die FPÖ und auch für die SVP. Populistische Parteien polarisieren zu sehr. Bis zu dreissig Prozent der Wählerinnen und Wähler sind dafür, der Rest aber voll dagegen. Wollen diese Parteien über dreissig Prozent, müssen sie Kompromisse an das «System» machen, was ihre Traditionsklientel abschreckt. Ich denke nicht, dass es zu einer Renationalisierung in Europa kommt.

Folgenlos ist die Polarisierung dennoch nicht: Sie nimmt den linken oder progressiven Kräften die Luft zum Atmen, weil 
sie ständig gegen die Rechtspopulisten anrennen müssen.
Ja, aber nur, weil sie sich die Luft nehmen lassen. Weil 
sie denken, sie würden schwach wirken beim Migrationsthema, nehmen sie die Forderungen der Rechten auf, was dazu führt, dass die Rechten erfolgreich wirken und mehr Leute anziehen. Wenn man ein autoritär orientiertes Wählerpotenzial erreichen möchte, dann sicher nicht, indem man nachgibt. Wenn die progressiven Kräfte mit Nachdruck auf bestimmten Positionen beharren, dann ist das gegenüber dem Wählerpotenzial der rechten Parteien auf jeden Fall sinnvoller, als Zugeständnisse zu machen. Das ist in jeder Beziehung dumm.

Folgt dann nicht sogleich der Einwand, man würde die Probleme nicht ernst nehmen?
Dieser Einwand ist ein rhetorisches Muster. Es gab bereits in den 1980er Jahren eine wissenschaftliche Diskussion über den neuen, kulturalistischen Rassismus, der sich immer mit genau dieser Redewendung bemerkbar macht: «Ich bin zwar kein Rassist, aber man wird doch wohl noch sagen dürfen …» Angeblich soll es tabuisiert sein zu sagen, dass die Einwanderer unter sich bleiben, Frauen unterdrücken und ein Sicherheitsproblem darstellen. Wenn ich mir die Debatten der letzten dreissig Jahre anschaue, dann ist aber genau das unentwegt diskutiert worden.

In der Schweiz greifen auch jetzt wieder viele Kommentatoren zu diesem Muster: Die Probleme mit der Zuwanderung würden seit langem nicht thematisiert, obwohl die Gewerkschaften in den letzten Jahren entscheidende Verbesserungen für alle Beschäftigten erkämpft haben, etwa gegen das Lohndumping.
In kaum einem Land wird so viel über die Probleme im Zusammenhang mit Einwanderung gesprochen wie in der Schweiz. Die Behauptung zeugt von Realitätsverweigerung. Die Schweiz ist seit Jahrzehnten eines der aktivsten Einwanderungsländer und besteht zugleich darauf, keines zu sein. Diese Lücke zwischen «viel Einwanderung» und «kein Einwanderungsland» bietet viel politisches Kapital, alles kann zum Skandal erklärt werden.

Derzeit beispielsweise: volle Züge.
Ich lebe ja in Berlin, also einer Stadt mit einem der grössten Armutsrisiken in Deutschland. Da lässt es sich aber immer noch sehr gut und sicher leben. Und da muss ich auch sagen: Mir kommen die Probleme der Schweiz manchmal recht übertrieben vor. Die Überfüllung der Bahn hat doch etwas damit 
zu tun, dass die SBB offenbar nicht genügend Verbindungen und Waggons zur Verfügung stellen. Was hat das denn mit Einwanderung zu tun? Man kann das skandalisieren, weil die Schweiz Einwanderung fördert, aber nicht anerkennt. Letzteres ist aber notwendig, damit sich etwas bewegt. Heute haben ohnehin schon mehr Leute Einfluss als nur der Eidgenosse und seine Abkömmlinge.

In der Diskussion erscheint die Zuwanderung immer als ein Phänomen, das von aussen kommt. Stimmt dieser Eindruck?
Ich wurde 2012 zur Jahrestagung der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen eingeladen, wo Untersuchungen präsentiert wurden, die genau das Gegenteil belegen: dass die meisten Deutschen etwa in die Schweiz gekommen sind, weil sie dazu aufgefordert wurden. Das sind keine Leute, die auf Arbeitssuche waren, die hätten auch in Deutschland 
oder international eine Stelle haben können. Es ist fast verrückt zu behaupten, die würden irgendwem etwas wegnehmen.

Es gibt also eine Zuwanderung, weil die Arbeitslosigkeit in der Schweiz auf einem historisch tiefen Wert liegt.
Offensichtlich absorbiert der Arbeitsmarkt die Leute. Zudem hat sich die Schweiz ja zum Teil des grösseren Mobilitätsgeschehens in der EU gemacht – da geht es ja nicht um Einwanderung, sondern um Niederlassungsfreiheit. Da gibt es ja offiziell keine Grenzen mehr, sondern Freizügigkeit. Und die bringt den Einzelnen bestimmte Rechte und Ansprüche.

Sie sagen, die Schweiz weigere sich beharrlich, ihre Realität als Einwanderungsland anzuerkennen. Wo zeigt sich diese Weigerung?
Aufgefallen ist mir beispielsweise eine Plakatkampagne der Integrationsbehörde des Kantons Zürich. Es gab da ein 
Bild eines Deutschen mit allen Klischeemerkmalen: blond, blauäugig et cetera. Dazu heisst es, er solle nicht sagen: «Ich krieg dann mal!», sondern besser: «Bitte, könnte ich vielleicht?» Ich weiss gar nicht, wo man in Deutschland das mit dem Bierkriegen sagt, aber als Deutscher juckt es mich ja fast, in der Kneipe extra mal was Verbotenes zu sagen. Diese Kampagne soll demonstrieren, dass wir nicht in einem gemeinsamen Raum des Rechts leben, an das sich alle halten, sondern öffnet einen Raum von einheimischen Sitten, denen der Gast sich 
zu unterwerfen hat.

Das eingesessene «wir» fühlt sich mittlerweile bedroht in seinem alte Kuschelambiente, in dem nur bestimmte Leute die Definitionsmacht hatten. Das ist das Gleiche in Deutschland bei der bürgerlichen Klientel, die Thilo Sarrazin repräsentiert. Denen ist die Einwanderungsgesellschaft nahegekommen. Und nun stellen sie fest: Die Türkin im Krankenhaus ist nicht mehr die Putzfrau, sondern die Ärztin.

Ist es nicht verständlich, dass Menschen Angst haben, wenn sie ihre Definitionsmacht verlieren?
Man kann diese berühmten Ängste ansprechen, aber 
als Ausdruck von Kontrollverlust und Ohnmacht. Dafür müssen wir verstehen, dass es bei der Migrationsdebatte nicht nur um Einwanderung geht, sondern auch um die Krise der Repräsentation. Es geht letztlich um die Frage, wie ich meine Interessen artikulieren kann. Viele Leute haben das Gefühl, dass sich ihre Interessen quasi verflüchtigen – vom Akt der Wahl zum Parlament, von da aus zur Regierung und zur Bürokratie 
der Europäischen Union.

Wenn ich eher links orientiert bin, sage ich: Wir brauchen mehr demokratische, kollaborative Mechanismen, um diese Repräsentationslücke zu überbrücken, mehr politische Kontrolle der Wirtschaft, stärkere Einbeziehung der Leute in politische Entscheidungen. Konservative dagegen meinen: Der nationale «Volkswille» geht verloren. Die Repräsentation soll eben populistisch wiederhergestellt werden, indem der ethnische Kern 
sie wieder übernimmt. Natürlich hat das so nie funktioniert, aber es ist eine wirksame nostalgische Utopie.

Wie kann die Kollaboration gefördert werden, um die Repräsentationslücke zu beheben?
Am dringlichsten ist eine Diskussion über die Bürgerrechte, über die Teilhabe am Gemeinwesen. Es gibt weiterhin eine sehr starre Idee der Mitgliedschaft, basierend auf restriktiven Ideen von Staatsangehörigkeit. Für eine progressive Diskussion könnte die Anfangsfrage lauten: Wie muss die Bürgerschaft beschaffen sein, wenn Mobilität und Migration der Normalfall sind? Da gibt es verschiedene Modelle. Mir erscheint es wichtig, mehr Rechte an den Wohnort zu binden, auch als «Recht auf einen Ort». Wer irgendwo etwa ein halbes Jahr lebt, erwirbt bestimmte Mitbestimmungsrechte. Das kann das kommunale Wahlrecht sein, die Teilhabe an weiteren demokratischen Partizipationsprozessen, abgestuft bis zum Erwerb der vollen Staatsangehörigkeit. Wobei wir noch gar nicht wissen, ob diese heute noch alle Leute wollen – Leute leben eben an mehreren Orten.

Ist dieses Modell schon irgendwie realisiert?
Die EU hat es ansatzweise realisiert, indem alle EU-Bürger bei einem Umzug sofort überall das Kommunalwahlrecht erhalten. Mir geht das noch nicht weit genug. Mehr Partizipation im Bereich der Nachbarschaft scheint mir sehr wichtig. 
Es kann die Zufriedenheit massiv steigern, wenn wir das Gefühl haben, wir könnten über den Nahbereich eine gewisse Kontrolle ausüben. Wenn wir etwa mitbestimmen können darüber, was wo gebaut wird. Ist es sinnvoll, den nächsten Leuchtturm, ein weiteres Guggenheim-Museum zu bauen? Interessant ist, dass die Bürgerinnen und Bürger das Geld meist kleinteilig ausgeben wollen, wenn sie gefragt werden. Die Leute wollen keinen neuen Glaspalast, sondern lieber das Schwimmbad oder das Theater um die Ecke erhalten. Das kann man als linke Romantik des Kleinen abtun, sehe ich aber nicht so.

Um eine linke Perspektive weiter zu konkretisieren, möchte ich einige zweifelnde Argumente aufzählen, die derzeit von Bekannten in der Migrationsdebatte zu hören sind. Das beliebteste: Auch wenn wir die Personenfreizügigkeit unterstützen, ist sie doch bloss eine neoliberale Freiheit, die die Migration unter einem rein ökonomischen Nutzen betrachtet.
Na ja, im deutschsprachigen Europa gibt es ja oft nicht einmal die Freiheit, ökonomisch nützlich zu sein … Migranten sind konsequent disqualifiziert worden. Während die Unternehmen schon über Fachkräftemangel geklagt haben, sind Naturwissenschaftlerinnen aus der Ukraine putzen gegangen, oder afghanische Ingenieure wurden in Flüchtlingsheimen zum Nichtstun verdammt. Oder man bildet Kinder zehn Jahre lang aus, um sie bei Volljährigkeit auszuschaffen. Das System der Einwanderung basiert derzeit zu einem beträchtlichen Teil eben nicht auf ökonomischen Gesichtspunkten, sondern auf der Sicherung von nationalen Privilegien. Auf diesen Widerspruch können die progressiven Kräfte aufbauen, und da sehe ich die Wirtschaft durchaus als strategischen Partner.

Die Personenfreizügigkeit basiert genau auf einem solchen Bündnis zwischen der Linken und der Wirtschaft.
Damit habe ich leider keine Probleme.

Ein zweiter Einwand lautet, statt über die Migration zu sprechen, würde die Linke besser soziale Fragen thematisieren, dann verschwände die Fremdenfeindlichkeit von selbst.
Eine Traditionslinke hat tatsächlich immer so getan, als könne man die ganze Frage von Rassismus auflösen in eine Frage von oben und unten. Rassismus war aber schon immer ein kompliziertes Gebilde, eingelassen in einen institutionellen Komplex, bestehend aus Arbeitsmarkt, nationaler Staatsangehörigkeit und der kulturellen Hegemonie, also der über Kultur vermittelten Dominanz einer bestimmten Gruppe in der Gesellschaft. Der Kapitalismus war ja nie nur Wirtschaft, sondern auch in Nationalstaaten organisiert. Diese Nationform ging mit grenzüberschreitenden Gewaltverhältnissen einher, von der Sklaverei über den Kolonialismus bis zur Migration. Das lässt sich selbst in einer avancierten marxistischen Theorie nicht einfach ableiten.

Deshalb muss man auf allen Ebenen arbeiten?
Ja, genau. Aber es gibt Prioritäten. Die Frage der Bürgerrechte etwa, die Überprüfung der Gesetzgebung in Bezug auf Antidiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Aber auch die kulturelle Ebene ist entscheidend, in Bezug auf die Geschichte wie auf die Gegenwart: Nach welchen Leuten werden eigentlich die Strassen benannt? Welche Bilder werden in Kinderbüchern verbreitet? Oder welche Feiertage braucht eine Gesellschaft, 
in der etwa eine beträchtliche Zahl von Muslimen lebt?

Ein letzter Einwand lautet, dass der freie Personenverkehr in Europa schön und gut sei, aber dass damit auch die Aufrüstung der europäischen Aussengrenze einhergehe.
Dass im Mittelmeer jährlich Tausende Menschen ertrinken, 
ist kaum auszuhalten. Ebenso wie das erbärmliche Lavieren der EU nach der Katastrophe vor Lampedusa im letzten Herbst. An der Politik, die solche Katastrophen verursacht, ist nichts verändert worden. Aber es ist natürlich auch so, dass der Schengenraum keineswegs dicht ist. Es gibt organisierte Schlupflöcher in die EU, über Touristenvisavergabe et cetera.

Die Grenzschutzagentur Frontex ist in diesem Sinn ein Souveränitätstheater. Die «Festung» ist ja nur eine Art tödliche Maskerade für die tatsächliche Einwanderung, um gegenüber dem Teil der Bevölkerung Stärke zu demonstrieren, der Einwanderung ablehnt. Die Wirkung von Frontex und ähnlichen Agenturen wird in den Höhen der EU-Bürokratie letztlich als begrenzt eingeschätzt.

Was wäre eine Alternative zu dieser Festung, die nicht funktioniert?
Es geht um das Gleiche wie beim Nationalstaat: Wie demokratisiert man die Grenze? In der Flüchtlingsdiskussion ist es ja Unsinn zu sagen, die Ärmsten der Armen seien alle 
auf dem Weg nach Europa. Bei Krisen fliehen die Leute zunächst ins Nachbarland. Ganz bestimmte Leute wollen nach Europa. Bei den Recherchen zu unserem Buch «Fliehkraft» haben mein Kollege Tom Holert und ich Gespräche mit Flüchtlingen geführt, die in Marokko stecken geblieben waren. Die kamen aus Kamerun oder Nigeria, wo sie einen Job hatten. Nur reichte das Geld dennoch nicht, oder die politischen Verhältnisse, die Korruption, verhinderten ein Fortkommen. Und daher sahen sie keine Perspektive mehr. Das ist wie bei uns, wo man denkt: Deutschland, die Schweiz, da bewegt sich ja überhaupt nichts! Wenn ich nur in Übersee leben würde, wäre alles viel besser. Und dann zieht man mal nach Argentinien und stellt fest, dass es so toll nun auch wieder nicht ist.

Ich glaube, dass der Ortswechsel als Strategie der politischen Veränderung für den Einzelnen immer eine Alternative ist, zumal in einer globalisierten Welt. Die Frage ist, wie den Leuten ein solcher Ortswechsel ermöglicht werden kann.

Wie könnte die EU auch Bürgerinnen und Bürgern von ausserhalb einen solchen Ortswechsel erlauben?
Zum Beispiel indem sie etwa in Dakar ein Büro errichtet, wo man sich legal für eine Einreise nach Europa bewerben kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Leute, die sich auf ein Boot setzen und ihr Leben riskieren, doch vielleicht erst mal an dieses Büro wenden würde, um die Bedingungen für eine Einreise nach Europa zu checken. Und wenn diese Bedingungen, über die demokratisch verhandelt werden muss, nicht stimmen, dann bezahlt man vielleicht keinen «Schlepper» mehr.

Im Übrigen wird die Welt nicht immer ärmer und ungerechter. Eine ganze Reihe auch von afrikanischen Ländern 
weist erstaunliche Wachstumsraten auf. Wie das innerhalb 
der Länder verteilt wird, ist nochmals eine andere Sache, aber wir müssen uns nicht für den Mittelpunkt der Welt halten, 
wo alle hinwollen. Einer, der in Angola auf dem Land lebt, möchte vielleicht zuerst an die Fleischtöpfe in Luanda, bevor er an die Fleischtöpfe in Zürich will. Die Welt ist deutlich komplizierter geworden. Was erfreulich ist.

Mark Terkessidis

Der Migrationsforscher Mark Terkessidis (47) studierte Psychologie und arbeitete später als Redaktor bei der Popzeitschrift «Spex». Er hat zahlreiche Bücher zu Migration und Rassismus veröffentlicht, die mit überraschenden Zugängen aufhorchen liessen.

In «Die Banalität des Rassismus» (2004) beschreibt Terkessidis Rassismus nicht als Vorurteil, sondern als Teil eines gesellschaftlichen Wertesystems. In «Fliehkraft» (2006) spürt er zusammen mit Tom Holert den Gemeinsamkeiten von Migration und Tourismus nach.

Im letzten Buch, «Interkultur» (2010), bezeichnet Terkessidis den Begriff der Integration als Anpassung an eine fiktive Mehrheit als überholt und fordert stattdessen, dass sich die Institutionen für alle Bevölkerungsgruppen öffnen. Derzeit arbeitet er an einem Buch zum Thema Kollaboration. Terkessidis lebt in Berlin, wo das Gespräch stattfand