Dominikanische Republik: «Du bist zu schwarz!»

Nr. 8 –

Darf man BürgerInnen anderer Abstammung einfach die Staatsangehörigkeit entziehen? Die Regierung der Dominikanischen Republik versucht das zurzeit. Eine Reportage aus einem Ferienparadies.

  • Ein Slum im Grünen: Wer in Los Jovillos oder einem der anderen Bateyes geblieben ist, hat weder einen festen Job noch ein regelmässiges Einkommen.
  • Unter ständiger Aufsicht des Vorarbeiters: Zuckerrohrarbeiter in der Region San Pedro de Macorís.
  • «Ohne Papiere kann ich nicht wählen, keine weiterführende Schule besuchen und kein Konto eröffnen»: Juliana Dequis, hier mit ihren Kindern, will die Dominikanische Republik die Staatsbürgerschaft entziehen, weil sie «unter irregulären Umständen» geboren wurde.
  • Ana Belique
  • Manuela Pierre

Um die Frau zu treffen, die in der Karibik eine Krise ausgelöst hat, muss man die dominikanische Hauptstadt Santo Domingo in nördlicher Richtung verlassen. Der Weg führt zunächst an ausgedehnten Weiden vorbei, dann holpert der Wagen über eine löchrige Piste durch flaches, in der Mittagshitze flimmerndes Land. Irgendwann erreichen wir Los Jovillos, eine verlorene Ansammlung windschiefer Holzhäuser mit verrosteten Blechdächern.

Hier lebten einst die ArbeiterInnen aus Haiti, die in den umliegenden Feldern das Zuckerrohr schnitten. Doch seit in der Region die Viehzucht dominiert, sind viele von ihnen gegangen. Wer hier geblieben ist, hat weder einen festen Job noch ein regelmässiges Einkommen, und so ist Los Jovillos wie zahlreiche Bateyes – so werden die Siedlungen der ZuckerrohrschneiderInnen genannt – zu einem Slum im Grünen geworden. Wo ist das Haus von Juliana Dequis Pierre zu finden? Mädchen, die unter einem Baum Erbsen sortieren, weisen uns lachend den Weg.

Nach kurzem Fussweg erreichen wir ein Gebäude aus bröckelnden Betonsteinen, in denen die Wohneinheiten wie Zellen aneinandergereiht sind. Wieder fragen wir nach Juliana Dequis – bis schliesslich eine junge schwarze Frau eine Tür öffnet. Hinter ihr streiten zwei Kinder, zwei weitere schauen neugierig an ihr vorbei. Juliana Dequis Pierre blickt zu Boden und sagt sehr leise: «Buenas tardes.»

Es ist nur schwer zu glauben, aber wegen dieser stillen, schüchternen Frau hat die Karibische Gemeinschaft die Aufnahmegespräche mit dem Inselstaat suspendiert und Venezuela sich überlegt, seine Öllieferungen einzustellen. In Kanada gibt es Aufrufe zum Boykott der Ferieninsel.

Juliana Dequis bewohnt mit ihren vier Kindern zwei Räume. In einem liegen Matratzen. Plastikeimer zeigen an, wo es bei Regen durchs Dach tropft. Im anderen Zimmer befinden sich ein Tisch und vier Stühle. An der Wand hängt ein Gemälde, das irgendein europäisches Dorfidyll zeigt. Es ist zu vermuten, dass keine und keiner der VerfassungsrichterInnen, die am 23. September 2013 über Juliana Dequis ihr Urteil sprachen, sich im Klaren war, in welch ärmlichen Verhältnissen die 29-Jährige lebt. Ebenso ist anzunehmen, dass dies die Entscheidung nicht im Geringsten beeinflusst hätte.

660 000 betroffene HaitianerInnen

An jenem Tag entschied das Tribunal Constitucional, das Verfassungsgericht der Dominikanischen Republik, dass Juliana Dequis – die am 1. April 1984 in der Dominikanischen Republik geboren wurde, deren Geburtsurkunde sie als Dominikanerin ausweist, die nie das Land verlassen hat und perfekt Spanisch spricht –, dass also diese Juliana Dequis keine Dominikanerin sei und somit auch keinen dominikanischen Ausweis haben dürfe. Sie war, unterstützt von einer Menschenrechtsorganisation, vor Gericht gezogen, weil man ihr auf dem Einwohnermeldeamt seit Jahren die Identitätskarte verweigert und ihr bei einem Vorsprechen auch gleich die Geburtsurkunde abgenommen hatte. Das Gericht erklärte im September dieses Vorgehen für rechtens.

«Ohne Papiere kann ich nicht wählen, keine weiterführende Schule besuchen und kein Konto eröffnen», zählt Dequis die Konsequenzen auf, «ich kann nicht heiraten, nicht reisen und keine Verträge abschliessen.» Im Grunde existiert Dequis als juristische Person nicht mehr. «Dies, weil ich einen französischen Namen habe und schwarz bin», sagt sie. Die Begründung der RichterInnen lautete anders: Dequis’ Eltern seien zum Zeitpunkt ihrer Geburt nicht legal im Land gewesen, sondern als «Personen im Transit».

Zu dieser Bewertung gehört einiges an Kaltschnäuzigkeit. Ihre Eltern, Blanco Dequis und Marie Pierre, wurden Anfang der siebziger Jahre vom staatlichen Zuckerkonzern CEA aus Haiti ins Batey Los Jovillos gebracht, um dort für einen Hungerlohn Zuckerrohr zu schlagen. Zucker war damals das wichtigste Exportprodukt des Landes. Doch man brachte sie nach getaner Arbeit nicht zurück. Also blieben sie, wie Zehntausende andere haitianische Picaduros auch. Jahr um Jahr rückten sie zur Zafra aus, der beschwerlichen, mehrmonatigen Zuckerrohrernte. Ansonsten war es ihnen verboten, das firmeneigene Batey zu verlassen. Man zahlte ihnen gerade genug, damit sie überteuerte Nahrungsmittel im Firmenladen kaufen konnten, aber nie genug, um im Leben voranzukommen. Sie waren moderne SklavInnen.

Mit dem Urteil legte das Verfassungsgericht fest, dass nicht nur Juliana Dequis keinen Anspruch mehr auf die dominikanische Nationalität hat, sondern alle, die nach 1929 unter «irregulären» Umständen im Land geboren wurden. Die Junta Central Electoral, die Zentrale Wahlbehörde, wurde angewiesen, alle Geburtsregister des Landes zu «bereinigen». Das Gericht ging von über 660 000 Betroffenen aus, fast sieben Prozent der dominikanischen Bevölkerung. Selten zuvor hat ein Land einem so grossen Teil seiner BürgerInnen die Staatsbürgerschaft wieder aberkannt – und das rückwirkend auf achtzig Jahre. Gleichzeitig wurde es den Kindern undokumentierter ArbeiterInnen quasi verunmöglicht, die dominikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen.

BeobachterInnen bemerkten umgehend, dass das Urteil einzig auf Personen haitianischer Abstammung zielt. In der «New York Times» bezeichneten die Schriftsteller Junot Díaz und Edwidge Danticat die Entscheidung als «abstossend» und «rassistisch». Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa schrieb in «El País»: «Das Urteil scheint direkt von den Nürnberger Gesetzen inspiriert zu sein.»

In der Dominikanischen Republik hingegen begrüsste die rechtsliberale Regierung das Urteil. Die konservative Wirtschaftselite war begeistert: Endlich werde klargestellt, wer DominikanerIn sei. Auch der Erzbischof von Santo Domingo äusserte sich zustimmend. Die Massenmedien begannen mit einer regelrechten Hetzkampagne gegen die «Eindringlinge» aus dem Nachbarland.

Die Kampagne zeigte schnell Wirkung. Auf Demonstrationen in Santo Domingo forderten RednerInnen den Bau einer Grenzmauer, vorgedruckte Plakate wurden geschwenkt: «Verteidige die Heimat!» Broschüren mit Fotos von «Vaterlandsverrätern» machten die Runde: prominente DominikanerInnen, die sich kritisch zum Urteil geäussert hatten. Wenn man mit DominikanerInnen spricht, dann hört man vor allem Ressentiments. Eine Barkeeperin sagt: «Ich fürchte mich vor den Haitianern, weil sie hexen können. Sie sind anders als wir, und es gibt zu viele von ihnen.»

Ungleiche Inselnachbarn

Juliana Dequis fragt sich derweil, welche HaitianerInnen gemeint sind. «Ich bin Dominikanerin», sagt sie. Als sie zur Welt kam, wurde sie als Dominikanerin ins Geburtsregister eingetragen. Nun hat das Gericht Dequis zur Staatenlosen gemacht, ebenso ihre zwischen sechs und zwölf Jahre alten vier Kinder. Sie besuchen zurzeit die winzige Grundschule in Los Jovillos, doch danach ist Schluss. Denn die Behörden verweigern den Kindern haitianisch wirkender Eltern schon seit Jahren systematisch die Identitätsnachweise. Bereits 2005 verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den dominikanischen Staat deswegen. Doch dieser ignoriert das Urteil. Heute gibt es mehrere Tausend staatenlose Kinder und Jugendliche. Menschen, die offiziell nicht existieren. Sie bilden ein Heer billiger Arbeitskräfte, die sich auf Feldern und Baustellen, als Strassenverkäufer und Prostituierte verdingen. Dies ist die ökonomische Komponente des institutionellen Rassismus.

Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts bekam Dequis viel Besuch von ZeitungsreporterInnen und Fernsehcrews aus aller Welt. Derweil stellte die Dame in Santo Domingo, bei der sie wochentags als Haushälterin für hundert Euro im Monat arbeitete, ihre Sachen wortlos vor die Tür.

Es gibt auf der Welt wohl kaum eine komplexere Beziehung zwischen zwei Nachbarstaaten als zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik. Die Länder teilen sich eine Insel, die nicht einmal doppelt so gross ist wie die Schweiz. Und doch leben HaitianerInnen und DominikanerInnen in zwei verschiedenen Welten, gefangen in gegenseitigem Misstrauen und lange gereiften Vorurteilen.

Es beginnt schon mit einfachen Dingen. In Haiti herrscht König Fussball, im Nachbarland haben sie nicht die geringste Ahnung, wer Lionel Messi ist. Dort wird Baseball gespielt. In Haiti spricht man das linguistische Phänomen Kreolisch, in der Dominikanischen Republik die Weltsprache Spanisch. In Haiti sind die Menschen stolz auf ihre schwarze Haut und die einzige erfolgreiche Sklavenrevolte der Geschichte. Im anderen Inselteil verleugnet man hingegen hartnäckig das afrikanische Erbe, beruft sich auf «La Madre Patria» Spanien und nennt dunkelhäutige Menschen Indios. Nicht einmal auf eine gemeinsame Uhrzeit hat man sich einigen können: In Haiti geht die Sonne eine Stunde früher auf und unter als nebenan. Auch ökonomisch und sozial sind die Unterschiede frappant (vgl. «Verkleidet als Entwicklungshilfe» im Anschluss an diesen Text).

Und doch: Es gibt Gemeinsamkeiten. Auch diese sind charakteristisch. Haiti und die Dominikanische Republik wurden im 20. Jahrhundert jeweils zweimal von US-Soldaten besetzt und mehrere Jahrzehnte von egomanen Diktatoren beherrscht, die von den USA gestützt wurden. Beide Völker feiern Karneval: bunt, ekstatisch, laut und wild. Es ist ein Fest, bei dem die Grenzen verschwimmen, die Regelübertretung zur Norm wird und die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt. Als im Januar 2010 ein schweres Erdbeben die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince zerstörte, war der dominikanische Staat der erste, der schnell und unbürokratisch zu helfen bereit war. Seine Hospitäler in Grenznähe nehmen schon seit langem schwangere Haitianerinnen auf.

Schwieriger Widerstand

«Wir sind stolz darauf, Dominikaner zu sein!» In einem fensterlosen Konferenzraum im Zentrum von Santo Domingo sitzen die zwölf RegionalkoordinatorInnen von Reconoci.do, der aktivsten Protestbewegung im Kampf gegen das Urteil. Bekannt wurde Reconoci.do mit einem mehrtägigen Marsch auf die Hauptstadt und dem Singen der Nationalhymne vor der Zentralen Wahlbehörde. Es trug der Gruppe Anerkennung, aber auch Spott ein: «Diese Haitianer singen unsere Hymne ohne Inbrunst», lautete ein noch gemässigter Kommentar auf Youtube.

Die KoordinatorInnen sind alle DominikanerInnen mit Vorfahren aus Haiti. Die meisten studieren, auch ein erfahrener Anwalt sitzt mit am Tisch. Alle sprechen neben Spanisch auch Kreolisch, aber nur vier sind jemals in Haiti gewesen. Auch ihnen droht jetzt die Aberkennung der dominikanischen Staatsbürgerschaft.

Mit dem Alltagsrassismus schlagen sie sich hingegen schon länger herum. Estefanie aus der grenznahen Provinz Barahona erzählt, dass ein Busfahrer sich geweigert habe, sie in die Hauptstadt zu fahren. Kurz danach wurde sie bei einer Verkehrskontrolle von Polizisten gezwungen, aus dem Kleinbus auszusteigen, der sie doch noch mitgenommen hatte. «Sie behaupteten, meine Papiere seien gefälscht», sagt Estefanie, «sie wollten natürlich Schmiergeld – wie immer.»

Der Anwalt Felipe erklärt die Abneigung der DominikanerInnen gegen die HaitianerInnen so: «Viele gründen ihre Identität einzig darauf, dass sie keine Haitianer sind. Das wird ihnen schon in der Schule beigebracht. Was sie über Haiti lernen, hat meist nur mit der Besatzung zu tun» – jener Besatzung der Dominikanischen Republik durch haitianische Truppen in den Jahren 1822 bis 1844. Haiti beschränkte damals den Gebrauch der spanischen Sprache, schloss die Universität und untersagte NichthaitianerInnen Handelsaktivitäten. Wenn die DominikanerInnen am 27. Februar ihren Unabhängigkeitstag feiern, dann gedenken sie nicht wie der Rest Lateinamerikas der Befreiung von Spanien, sondern der von Haiti. Bis heute wird die Besatzung instrumentalisiert.

Im kollektiven Bewusstsein der HaitianerInnen hingegen ist ein anderes Ereignis wach: 1937 brachte die dominikanische Armee in nur einer Oktoberwoche bis zu 30 000 HaitianerInnen mit Bajonetten, Macheten und Spaten um. Diktator Rafael Trujillo hatte das Morden befohlen, um das Land «zu weissen». Joaquín Balaguer, der prägende dominikanische Politiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, rechtfertigte den Genozid bis zu seinem Tod: «Wasser und Öl können koexistieren», sagte er, «aber man kann sie nicht mischen, ohne dass sie ihre Identität verlieren.»

«Dorthin, wo Sonia Pierre schon ist»

Sprecherin von Reconoci.do ist Ana Belique. Sie wurde vor 27 Jahren in einem Batey geboren, nun studiert sie an der Universität von Santo Domingo. Während des Gesprächs tippt sie auf ihren zwei Blackberrys herum. Sie erzählt, dass man seit dem Urteil viel Zuspruch von KünstlerInnen und Intellektuellen erfahre. Aber die meisten trauten sich nicht, ihre Meinung öffentlich zu sagen. Sogar Präsident Danilo Medina sei ja eingeknickt. Bei einem Treffen im Präsidentenpalast kurz nach dem Urteil hatte Medina gegenüber Ana Belique sein Bedauern über die schwierige Situation ausgedrückt. Nachdem ihm die Medien aber fehlenden Patriotismus vorgeworfen hatten, wurde Medina zum Hardliner. Anfang Februar verteidigte er beim Gipfeltreffen der Staaten Lateinamerikas auf Kuba vehement das Urteil und verbat sich «jede Einmischung von aussen». «Ich fürchte, dass es so wird wie in den US-Südstaaten der fünfziger Jahre», sagt Belique. Fast täglich erhält sie anonyme Drohungen. Auf Facebook schrieb man ihr: «Du gehörst dahin, wo Sonia Pierre schon ist.»

Sonia Pierre ist tot. Sie war eine der bekanntesten Menschenrechtsaktivistinnen der Dominikanischen Republik. 1983 hatte sie die nichtstaatliche Organisation Mudha gegründet, die Bewegung dominikanisch-haitianischer Frauen. Bevor sie 2011 starb, hatte Pierre im Ausland zahlreiche Preise erhalten. Aber in ihrem Land strafte man sie bis zum Schluss mit Verachtung.

Ihre Tochter heisst Manuela Pierre. Die 28-Jährige trägt kurze glatte Haare und arbeitet als Anwältin bei Mudha. Sie hat ins Hauptquartier eingeladen, das man erst vor wenigen Wochen an den Stadtrand verlegt hat, weil es im Büro im Zentrum Ärger mit den NachbarInnen gab. Pierre beginnt das Gespräch mit einer Erzählung. Als sie elf Jahre alt war, sollte sie im Schultheater die grosse Nationalheldin der Dominikanischen Republik spielen: Minerva Mirabal, die 1960 auf Befehl des Diktators Trujillo ermordet wurde. «Doch die Schuldirektorin schritt ein», sagt Pierre, «ich könne Minerva nicht spielen, ich sei zu schwarz.»

Pierre hat den Schock von damals überwunden: «Er hat mich stärker gemacht.» Die Erschütterung, die das Urteil in der haitianischstämmigen Bevölkerung auslöse, sei hingegen noch nicht abzusehen. «Die Einschulungen werden noch weiter sinken und die Selbstmorde zunehmen», sagt Pierre. «Es wird mehr Sklavenarbeit und Prostitution geben. Die Menschen werden in ständiger Angst vor der Deportation leben. Anwälte werden ihre Zulassungen verlieren, Regierungsangestellte ihre Jobs.»

Uneinsichtige Behörden

Lito Santana kann darüber nur lachen. Er ist Pressechef der Zentralen Wahlbehörde (JCE). Deren Gebäude wird von einem riesigen Plakat überragt, auf dem Juan Pablo Duarte, der Gründungsvater der Dominikanischen Republik, verkündet: «Männer ohne Urteilsvermögen und Herz konspirieren gegen die Gesundheit des Vaterlands.» Der Satz passt hervorragend: Paranoia, Abwehr, Aggression.

Santana bittet in sein klimatisiertes Büro. Er sagt: «Leute wie Manuela Pierre werden aus dem Ausland finanziert und leben von der Verbreitung von Lügen.» Tatsache sei, dass man bereits alle Geburtsregister durchgesehen und nur 13 762 DominikanerInnen haitianischer Herkunft gefunden habe, die genauer überprüft werden müssten. «Nur 13 762 !», sagt Santana und lacht. «Wir werden sie nicht deportieren, sondern ihnen die Möglichkeit geben, eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen.» Genauso werde man mit den HaitianerInnen verfahren, die nicht im Land geboren wurden, sondern illegal über die Grenze gekommen seien.

Santana, der wegen seiner dunklen Haut sagt, dass er selbst Haitianer sein könnte, mag seinen eigenen Worten glauben. Die Realität sieht allerdings anders aus. Wenn man rund ein Dutzend Bateyes besucht und mit Betroffenen spricht, dann hört man immer wieder: Menschen, die haitianischer Abstammung sein könnten, werden die Papiere verweigert, und sie verlieren bereits ausgestellte Ausweise. Mit allen Konsequenzen.

Lito Santana will nicht ausschliessen, dass diese Dinge geschehen. «Aber niemand kann unsere Entscheidung rückgängig machen, weder die Karibische Gemeinschaft noch die USA. Und schon gar nicht Mario Vargas Llosa! Es gibt kein Volk, das grosszügiger mit den Haitianern umgeht als die Dominikaner.»

Philipp Lichterbeck ist Autor des Reportagebuchs «Das verlorene Paradies. Eine Reise durch Haiti und die Dominikanische Republik». Dumont Verlag. Köln 2013.

Die westlichen Interessen : Verkleidet als Entwicklungshilfe

2013 belegte Haiti auf dem Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen Platz 161 von 185. Der HDI misst die Lebensqualität anhand von Pro-Kopf-Einkommen, Bildungsgrad und Lebenserwartung. Nirgendwo auf dem amerikanischen Kontinent leben die Menschen kürzer (durchschnittlich 62 Jahre) und sterben mehr Neugeborene (165 von 1000). Drei von vier HaitianerInnen leiden an Hunger oder Mangelernährung. In vielen Vergleichen der Uno taucht Haiti irgendwo zwischen dem Kongo, Burkina Faso und Dschibuti auf.

Nach dem Erdbeben vom Januar 2010 hatte die internationale Gemeinschaft insgesamt elf Milliarden US-Dollar uneigennützige Hilfe zugesagt. Vier Jahre später hat sich das Leben der meisten HaitianerInnen kaum verbessert. Den Wiederaufbau koordinieren sollte die Interim Haitian Recovery Commission (IHRC), der Haitis Premierminister Jean-Max Bellerive und der frühere US-Präsident Bill Clinton vorsassen. Ihr Scheitern wurde schon bald offenbar. Die Hilfsmittel flossen an westliche Hilfsorganisationen – mit der Folge, dass über die Hälfte der Gelder in den Geberländern blieb.

Die USA wiederum versuchen seit Jahrzehnten, Haiti in eine Werkbank ihrer Industrie zu verwandeln. Das beste Beispiel ist die Zerstörung der haitianischen Reiswirtschaft in den neunziger Jahren. Damals drängte Präsident Bill Clinton das Land zur Öffnung seiner Agrarmärkte. Haiti musste seinen Importzoll auf Reis von 35 auf 3 Prozent senken, um die Handelsfreiheit zu stärken, wie es aus dem Weissen Haus hiess. Kaum waren die Zölle gefallen, überschwemmte subventionierter US-Reis den haitianischen Markt. Viele der einheimischen BäuerInnen gingen bankrott und migrierten in die Slums der Hauptstadt Port-au-Prince.

Heute ist Haiti der weltweit drittgrösste Importeur von US-Reis, während sich ein urbanes Prekariat in den Fabriken der von US-Firmen dominierten Textilindustrie für 31 US-Cents pro Stunde verdingt. Eine Anhebung des Mindestlohns auf 62 US-Cents verhinderte die damalige US-Aussenministerin Hillary Clinton im Jahr 2009.

Es überrascht also keineswegs, dass bis zu einer Million HaitianerInnen in die Dominikanische Republik emigriert sind. Das Nachbarland rangiert im Human Development Index auf dem mittleren 96. Rang. Nur selten ist das Gefälle zwischen Nachbarstaaten so stark.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen