Wer stimmt wie?: Im Land der Kraftfelder und Gräben

Nr. 17 –

Gibt es bei Abstimmungen einen Röstigraben oder doch eher ein Ost-West-Kontinuum? Ist es schlimm, wenn Junge nicht abstimmen? Und brächten Stadtkantone fortschrittlichere Volksentscheide? Antworten des Politologen und Statistikers Werner Seitz.

WOZ: Werner Seitz, Sie haben ein Buch über die Geschichte der politischen Gräben in der Schweiz geschrieben. Die Abstimmung über die «Masseneinwanderungsinitiative» der SVP hat die Grabendiskussion neu angefacht. Die Vox-Analyse, die die Abstimmenden jeweils nachträglich befragt, deutet darauf hin, dass viele Junge nicht an die Urne gingen. Gibt es einen Graben zwischen Alt und Jung?
Werner Seitz: Ich habe für das Buch die Volksabstimmungen seit der Gründung des Bundesstaats untersucht und die regionalen Ergebnisse der Bezirke ausgewertet. Daraus kann man nichts ableiten über einen möglichen Generationengraben. Von Untersuchungen der Universitäten Genf und Lausanne weiss man aber, dass nur rund ein Drittel der Jungen zwischen 18 und 24 Jahren an die Urne geht. Bei den über Sechzigjährigen ist die Beteiligung mehr als doppelt so hoch.

Dass die Jungen seltener stimmen, empfinde ich nicht per se als grosses Problem. Diese müssen sich noch um vieles andere kümmern, und wir stimmen in der Schweiz über vieles ab, was junge Menschen nicht besonders bewegt. Schaut man aber beispielsweise – zur möglichen Feststellung eines inhaltlichen Generationengrabens – auf das Stimmverhalten bei sozialpolitischen Abstimmungen, etwa über die Altersvorsorge, so zeigt sich: Linke Junge stimmen ähnlich wie ältere Linke, bei den Bürgerlichen ist es ebenso. Auch wenn es gewisse Nuancen im Stimmverhalten zwischen den Generationen gibt, ist entscheidender, welche politische Ausrichtung man hat.

Laut Vox-Analyse stimmten insbesondere die, die sonst nicht an die Urne gehen, für die SVP-Initiative. Gibt es einen Graben zwischen den politisch Aktiven und den Inaktiven?
In der erwähnten Genfer Studie wurde festgestellt, dass gut ein Viertel der Stimmberechtigten immer stimmen geht. Ein knappes Viertel geht nie – weil es sie nicht interessiert, weil sie sich bewusst nicht ins System integrieren lassen wollen oder weil sie sich überfordert fühlen. Der Rest geht von Fall zu Fall. Bei Abstimmungen, die stark emotional diskutiert werden, lassen sich die weniger gut informierten Gelegenheitswähler eher mobilisieren und von Schlagwörtern leiten. Da muss man sich schon fragen: Wie können diese Leute – und natürlich auch die Nichtwähler – besser angesprochen und abgeholt werden?

Schliesst die Schweizer Demokratie die weniger Gebildeten aus?
Wenn man die Stimmbeteiligung und das Bildungsniveau analysiert, zeigt sich: Es beteiligen sich rund sechzig Prozent jener, die eine Matura oder einen Hochschulabschluss haben, und nur etwa ein Drittel mit nur obligatorischer Schulbildung. Es sind also vor allem die besser Ausgebildeten und deshalb auch die Besserverdienenden, die abstimmen. Wir haben also gewissermassen eine Mittelschicht-Oberschicht-Demokratie.

Bei emotionalen Themen bekommt man andere Leute an die Urne. Könnten die auch die Todesstrafe wiedereinführen?
Das gab es ja schon einmal. Eine der ersten Abstimmungen betraf die Wiedereinführung der Todesstrafe. Der Abstimmungskampf war hoch emotionalisiert. Die Radikalliberalen – der heutige Freisinn –, die eigentlich dagegen waren, wehrten sich damals aus taktischen Gründen nicht sehr stark, und so erhielten die Kantone 1879 wieder das Recht, die Todesstrafe einzuführen.

Immer wieder wird der sogenannte Volkswille bemüht, um zu verhindern, dass die Bevölkerung erneut über ein umstrittenes Geschäft abstimmen kann. Aber vieles – wie auch das Frauenstimmrecht – kam in der Schweiz erst nach mehreren Anläufen durch.
Richtig. Dass ein Thema, das brennt, nach einigen Jahren wieder aufs Tapet kommt, halte ich für zulässig. Beim Frauenstimmrecht liess sich der Bundesrat bekanntlich jahrzehntelang Zeit, bis er 1959 eine Volksabstimmung ansetzte. Zwei Drittel der Männer stimmten dann dagegen. 1971 wurde das Frauenstimmrecht mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Es gab ein Ost-West-Kontinuum: Je weiter man nach Osten geht, desto ablehnender ist die Bevölkerung. Im Osten ist die Schweiz am konservativsten – die Kantone Thurgau, St. Gallen, Appenzell Innerrhoden waren neben einigen Kantonen der Innerschweiz selbst 1971 noch gegen das Frauenstimmrecht.

Bei der «Masseneinwanderungsinitiative» scheint der Röstigraben erneut aufgebrochen. Lässt er sich statistisch beschreiben?
Der Röstigraben, wie man ihn etwas dramatisch nennt, zeigt sich vor allem in Unterschieden zwischen den Sprachregionen: Zum Beispiel ist es in der Westschweiz üblicher, an die Hochschule zu gehen, in der Deutschschweiz absolvieren die jungen Leute häufiger eine Berufslehre. Vor allem aber hat die Romandie eine etwas andere Wirtschaftsstruktur, die krisenanfälliger ist, weshalb die Leute stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind und eine höhere Sozialhilfequote haben. Solche Besonderheiten prägen auch die politische Kultur und das Abstimmungsverhalten.

Seit wann existiert der Röstigraben?
Die Schweiz, wie wir sie heute kennen, existiert ja erst seit 1798, seit der Helvetik. Aber zu jener Zeit war die Mehrsprachigkeit kein Thema. Die Radikalliberalen, die ab 1848 den Bundesstaat aufbauten, fühlten sich der bürgerlichen Wirtschaftsordnung und der Aufklärung verpflichtet. Ihnen standen die Katholisch-Konservativen gegenüber, die den modernen Bundesstaat ablehnten: Freiburg und Wallis wie auch die Innerschweizer Kantone und Appenzell Innerrhoden.

Die konfessionellen Konflikte einten die Schweiz über die Sprachgrenzen hinweg?
In den politischen Auseinandersetzungen teilte der konfessionelle Graben die Schweiz stärker als der sprachregionale, weil sich hinter der Konfession fundamentalere Unterschiede und Interessen verbargen als hinter der Sprache. Die Zürcher standen den Genfern sicher näher als den Innerrhodern.

Um 1900 kam es aber zu einer sprachkulturellen Entfremdung. Die Westschweiz orientierte sich mehr nach Frankreich, die Deutschschweiz war sehr deutschfreundlich. Während des Ersten Weltkriegs wurde diese aussenpolitisch unterschiedliche Orientierung zusammen mit der wachsenden sprachlichen Entfremdung zu einer ernsten Belastungsprobe für die Schweiz. Während des Zweiten Weltkriegs präsentierte sich die Schweiz diesbezüglich in einer besseren Verfassung: Die «geistige Landesverteidigung» stand im Zentrum. Aus heutiger Sicht kann man das eine und andere kritisch hinterfragen, gegenüber dem Zustand zur Zeit des Ersten Weltkriegs war es aber für die Schweiz eine bessere Situation.

Ist die Romandie seit jeher weltoffener und sozialer?
Für das 19. Jahrhundert kann das so nicht gesagt werden. In dieser Periode stimmte die Deutschschweiz meistens fortschrittlicher ab. Die Romandie stellte sich mehrheitlich aus ideologischen und föderalistischen Gründen gegen den Aufbau von bundes- und sozialstaatlichen Einrichtungen. Das änderte sich spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die aussenpolitischen Unterschiede nahm man in der jüngsten Zeit am stärksten bei der EWR-Abstimmung wahr. Man hat sich nach der stark polarisierenden Abstimmung bemüht, sich wieder näherzukommen, auch wenn zuerst einige Gehässigkeiten ausgetauscht wurden. Zudem war die Romandie in den letzten Jahren eher etwas weniger euphorisch gegenüber Europa, die Deutschschweiz weniger ablehnend. Man hatte das Gefühl, man sei auf dem richtigen Weg – dann kam die «Masseneinwanderungs»-Abstimmung.

Vertiefen sich jetzt die Gräben?
Das Resultat ist nicht so klar wie bei der EWR-Abstimmung. Es gibt in der Deutschschweiz viele Städte und einige Bezirke, die gegen die Initiative gestimmt haben. Umgekehrt gibt es in der Westschweiz Bezirke, die knapp dafür oder knapp dagegen waren. Wenn man genau hinschaut, zeigt sich ein komplexes Bild. In der Tendenz ist es also neben dem Röstigraben auch ein Stadt-Land-Graben, eingebettet in das bereits erwähnte Ost-West-Kontinuum – je weiter im Osten, desto konservativer.

Wo steht das Tessin?
Die italienischsprachige Schweiz muss als etwas Eigenständiges angeschaut werden. Sie ist nicht – wie wir dies aus Deutschschweizer Sicht gelegentlich meinen – Teil einer lateinischen Schweiz. Das Tessin hat eine eigene Geschichte, ist katholisch und hatte dabei sowohl eine starke progressive als auch eine starke konservative Strömung. Bei Volksabstimmungen sind die Tessiner in der Sozialpolitik mit der Romandie die treibende Kraft, in der Verkehrspolitik und in der Aussenpolitik stimmen sie mit der Deutschschweiz. Vor allem in der Aussenpolitik fühlt sich das Tessin aber unverstanden.

Konservative, ländliche Gebiete haben viel Macht. Sollten Städte Halbkantone bilden, um nicht immer überstimmt zu werden?
Ich halte es für legitim und wichtig, wenn die Städte darauf aufmerksam machen, dass sie viele Lasten zu tragen haben und doch immer wieder minorisiert werden. Konkret würden solche Reformen sehr langwierig werden und wohl nicht viel ändern. Nur ganz selten sind umstrittene Abstimmungen wegen des Ständemehrs anders entschieden worden. Das Problem der Städte ist ja das Volksmehr.

Werner Seitz

Was hält die Schweiz eigentlich zusammen?
Politisch dürften es die Werte der Bundesverfassung sein, etwa die Mehrsprachigkeit, der Föderalismus oder die Volksrechte. Dass die Schweiz nach schwierigen Volksabstimmungen nicht auseinanderbricht, dürfte auch mit der sogenannten Kraftfeldervielfalt zu tun haben. Die Interessenkonstellationen wechseln sich ab. Man ist nicht immer auf der Verliererseite. Nach drei Monaten kommt wieder eine Abstimmung, und dann verläuft die Linie zwischen den Verlierern und den Gewinnern wieder ganz anders. Das ist in Belgien zum Beispiel nicht so – deshalb ist das Land viel stärker gespalten.

Werner Seitz

Der Politologe Werner Seitz (59) leitet beim Bundesamt für Statistik die Sektion Politik, Kultur, Medien. Im Februar ist sein Buch «Die Geschichte der politischen Gräben in der Schweiz» erschienen (Rüegger Verlag, Zürich/Chur, 182 Seiten, 22 Franken).