Forensische Architektur: Wie man Trümmer zum Sprechen bringt

Nr. 27 –

Spurensicherung jenseits von Fernsehserien wie «CSI»: Ein gross angelegtes Forschungsprojekt um den Architekten Eyal Weizman betreibt Forensik im Dienst der Machtlosen. Auf dem Spiel steht die Architektur der öffentlichen Wahrheit.

Das weisse Haus in Omarska, Bosnien-Herzegowina, Schauplatz von Ermordungen und Folterungen während des Bürgerkriegs in Exjugoslawien 1992. Durch 3-D-Laserscanning können die Spuren von Verbrechen sichtbar gemacht werden. Die Bergbaumine in der Umgebung wird mittlerweile vom Konzern ArcelorMittal betrieben. Foto: © Forensic Architecture and ScanLAB, 2012

Als am 6. Oktober 2000 die erste Folge von «CSI: Crime Scene Investigation» ausgestrahlt wird, kommt die Forensik in der Mitte der Gesellschaft, auf unseren Fernsehbildschirmen an. Schematisch konstruiert und phänomenal erfolgreich, breitet sich die Krimiserie bald in unzähligen Episoden, Staffeln und Ablegern auf den TV-Sendern dieser Welt aus. Und bereits die allererste Folge gibt einen reichen Überblick über die forensische Arbeit am Tatort. Analysen von Blutspritzermustern, Zehennägeln, Giften, Einschusslöchern, eingetretenen Haustüren, Fingerabdrücken und Fussspuren werden abgerundet durch die programmatische Ansage, dass mit der Forensik nicht mehr Zeugenaussagen im Mittelpunkt der kriminalistischen Ermittlungen stünden, sondern materielles Beweismaterial, das – im Gegensatz zu menschlichen ZeugInnen – weder lügen noch vergessen könne. Der Chefforensiker beschreibt sich selbst in einer späteren Folge so: «Ich bin kein Arzt, ich bin kein Polizist, ich weiss eigentlich selber nicht so genau, was ich bin. Vor allem denke ich viel nach. Und ich muss unbedingt herausfinden, was da unter deinen Fingernägeln klebt.»

Der Wahrheit auf der Spur

Szenenwechsel. Im gleichen Jahr, in dem «CSI» auf Sendung geht, findet in London ein Prozess des notorischen Holocaustleugners David Irving statt. Der Historiker klagt gegen einen Verlag, weil er in einem Buch der Holocaustleugnung bezichtigt wurde. Zur Debatte steht einmal mehr die Existenz von Gaskammern, und im Zeugenstand sitzt der niederländische Architekturhistoriker Robert Jan van Pelt, der mit einem 700-seitigen Bericht die Existenz und Grösse von vier kleinen Löchern in der Decke eines Kellers in Auschwitz-Birkenau zu belegen sucht – Öffnungen, die die Nazis benutzten, um Zyklon B in den abgedichteten, unterirdischen Raum einzulassen und damit Tausende darin eingepferchter Menschen zu töten. Gleichzeitig geht es beim Prozess in London um mehr: um einen notwendigen Paradigmenwechsel in der Holocaustforschung, weil es in absehbarer Zeit keine lebenden ZeitzeugInnen mehr geben wird. Man wird deshalb gezwungen sein, auf andere Beweise auszuweichen.

Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi hat geschrieben, dass die Überlebenden streng genommen nicht dafür geeignet seien, Auskunft zu einer systematischen Massenvernichtung zu geben – wo der Tod die Regel ist, wären eigentlich die Ermordeten die «wahren Zeugen». Aber wie kann man Tote (oder Trümmer) zum Sprechen bringen? Hier setzt das gross angelegte europäische Forschungsprojekt «Forensic Architecture» an, das der israelische Architekt Eyal Weizman, Professor für Spatial and Visual Cultures am Goldsmiths College der University of London, seit 2011 leitet. Das Wort «Architektur» im Titel ist dabei sehr allgemein zu verstehen. Die Erfinder der Methode sind zwar von Haus aus Architekten, aber es geht in diesen Projekten längst nicht nur um architektonische Untersuchungen im engeren Sinn. Auf dem Spiel steht vielmehr die Architektur der öffentlichen Wahrheit.

Nebst dem erwähnten Prozess, der nicht zuletzt dank der Expertise des Architekturhistorikers van Pelt mit einer Niederlage Irvings endete, gehört ein älteres Gerichtsverfahren in São Paulo zu den Urszenen von Weizmans forensischer Methode. In diesem Prozess von 1985 ging es um die Identifizierung eines exhumierten Skeletts; wichtigster Experte war der mediengewandte US-Forensiker Clyde Snow. Anhand der Rekonstruktion eines zertrümmerten Schädels und der Videoanimationen alter Fotografien führte er den Beweis, dass es sich bei dem Opfer eines Schwimmunfalls, das unter dem Namen Wolfgang Gerhard auf einem brasilianischen Friedhof begraben war, praktisch zweifelsfrei um den untergetauchten Auschwitz-Arzt Josef Mengele handelte.

Flüchtlinge als Treibgut

Doch die forensische Architektur von Weizmans Forschungsgruppe interessiert sich nicht in erster Linie für alte Naziverbrechen und -schergen. Die meisten Projekte bearbeiten aktuelle Fälle. Und es handelt sich dabei auch nicht um eine Wissenschaft im Elfenbeinturm. Eine Haltung einzunehmen, sei integraler Teil seines Forschungsprogramms, sagt Weizman selber. Im Wort «Forensik» ist das Forum enthalten – der öffentliche Platz als eminent politischer Ort des Austauschs. Die Ergebnisse der forensischen Architektur werden vor Gerichte und in die Öffentlichkeit getragen und dort hartnäckig weiterdebattiert – auch mittels Ausstellungen wie kürzlich unter dem Titel «Forensis» im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Dort wurde unter anderem das Forschungsprojekt zu einem Flüchtlingsboot vorgestellt, das vor drei Jahren traurige Berühmtheit erlangte. Dem im Hafen von Tripolis gestarteten Schiff ging nach wenigen Stunden das Benzin aus, und es trieb vierzehn Tage lang hilflos auf offener See, bis es, zurück an der libyschen Küste, an Land gespült wurde. Nur 9 Passagiere überlebten, 63 verdursteten und verhungerten. Aufgrund von Zeugenaussagen wurde schnell klar, dass das Schiff keineswegs unbemerkt geblieben und sogar einmal direkt aus der Luft kontaktiert worden war; ausserdem hatte es Notsignale mit genauen Standortkoordinaten ausgesendet und Sichtkontakt zu anderen Schiffen gehabt.

Das Goldsmiths-Team konnte die Irrfahrt mittels Meeresströmungs- und Windanalysen rekonstruieren. Überdies führten die ForscherInnen aus, dass das Mittelmeer wegen der Libyenkrise zur fraglichen Zeit so dicht mit Schiffen befahren war und auch so oft überflogen wurde wie kaum je zuvor in seiner Geschichte. Das Flüchtlingsboot muss also zwingend auf den hochgerüsteten Radarschirmen zahlreicher Fracht-, Fischer- und Militärschiffe sowie auf Satellitenaufzeichnungen aufgetaucht sein. Nicht zuletzt liess ein Kommandant der Nato in einem anderen Zusammenhang stolz verlauten, dass zur fraglichen Zeit dank Überwachung vom Land her, aus der Luft und auf dem Wasser kein Schiff unbemerkt bleiben konnte: «Wir haben einen lückenlosen Überblick über alle Schiffe in dieser Gegend.»

Im Namen der Machtlosen

Die Schlussfolgerung ist also, auch wegen der ausgesendeten Notsignale und der direkten Kontaktaufnahme aus der Luft, unumgänglich: Das Flüchtlingsboot muss absichtlich ignoriert und umschifft worden sein. Es wurde von allen beteiligten Schiffen, insbesondere auch von den EmpfängerInnen der Signale, als «left to die boat» behandelt, die Flüchtlinge also wissentlich einem grausamen Tod überlassen. Da die Nato wegen ihrer Immunität in der Sache nicht vor Gericht gebracht werden kann, wurden mit diesem forensischen Gutachten in verschiedenen europäischen Ländern Strafanzeigen gegen unbekannt eingereicht – bis jetzt ergebnislos.

Das Grundprinzip der forensischen Methode lautet: Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur – auf konkreten Materialien wie Steinen, Knochen und Holz, aber auch auf den digitalen und analogen Aufzeichnungssystemen von Foto-, Film- und anderen Überwachungsapparaten. Die Forensik ist nicht zuletzt eine Bild- und Datenwissenschaft, die Zeichen und Oberflächen abtastet. Ziel ist es, diese im wörtlichen Sinn objektiven Spuren zu finden, sie zu lesen, die Befunde zu verknüpfen und so zum Argument für juristische Verantwortlichkeiten zu machen. Dabei werden, sofern man sich Zugang zu den Daten verschaffen kann, auch die Überwachungssysteme der militärischen, politischen und ökonomischen Mächte direkt oder indirekt in den Dienst genommen – und wenn nötig gegen sich selbst gewendet.

Ein Riss im Gebäude

Das Londoner Projekt operiert in den diffusen Grenzzonen der staatlichen Macht und stets im Namen der Machtlosen. Gleichzeitig bewegt man sich bis an die Grenzen der Sichtbarkeit, etwa bei Untersuchungen zu offiziell oft bestrittenen Drohnenangriffen auf Wohnhäuser. Wo man die Zerstörung nicht vor Ort untersuchen kann, versucht man nachträglich, durch Videoanalysen von Schutt und Trümmern und durch die genaue Lektüre von Satellitenbildern den «Einschusskanal» der Drohnen in der Grössenordnung einzelner Pixel nachzuweisen. Jeder Kontakt hinterlässt eine Spur. Im Fall der im April 2013 eingestürzten Kleiderfabrik in Sabhar in Bangladesch konnte die forensische Analyse mittels Fotografien einen bestehenden Riss am Gebäude nachweisen, der zum fatalen Hauseinsturz geführt hatte. Der Riss war zuvor bemerkt worden – der Tod von 1127 Menschen, grösstenteils Arbeiterinnen, wurde also fahrlässig in Kauf genommen.

Die Londoner ForensikerInnen verstehen sich als AnalytikerInnen, als Übersetzer der Sprache der Dinge. Die Subjekte (Zeugen wie Ermittlerinnen) werden so entlastet, die Sache, um die es geht, wird aufgewertet. Absolute Gewissheiten gibt es nicht, man argumentiert mit Wahrscheinlichkeiten. Weitere Projekte beschäftigen sich mit Umweltgiften und Klimaveränderungen, mit den Algorithmen der internationalen Finanzmärkte und der Frage, was zu Crashs führt, oder mit Massengräbern aus dem Jugoslawienkrieg und der Frage, wie es zu den Massakern kam.

Die Arbeit erfolgt stets im Kollektiv; ExpertInnen aus verschiedensten Bereichen werden je nach Fall zur Wahrheitsfindung beigezogen: Künstler, Historikerinnen und Aktivistinnen, Architekten, Ärztinnen und Journalisten, Chemikerinnen, Geologen, Informatikerinnen und Bildanalytiker. Sie fördern nicht zuletzt überraschende Verschränkungen von Gegenwart und Vergangenheit zutage. Etwa wenn bei der Analyse von Satellitenbildern klar wird, dass sie dasselbe Handicap haben wie Fotografien aus dem 19. Jahrhundert: Beide können keine Bewegung (und somit auch keine Menschen in Bewegung) aufzeichnen – die alten Fotografien wegen der langen Belichtungszeit, die Satellitenaufnahmen, weil zwischen den einzelnen Aufnahmen zu viel Zeit verstreicht und ein Mensch gerade mal von einem einzigen Pixel dargestellt wird.

Vorläufer Holmes

Wie reiht sich diese schwindelerregende Vielfalt der Analysefelder in die grosse, nicht zuletzt literarische Geschichte der Spurenfindung und Überführungstechniken ein? In welchem Verhältnis stehen ForensikerInnen zu den guten alten DetektivInnen? Eine direkte Spur führt zurück zum ersten wissenschaftlichen Detektiv der Literaturgeschichte: Sherlock Holmes. Sein Erfinder Arthur Conan Doyle beschreibt ihn so: Holmes hat medizinische Vorlesungen besucht, «kennt sich gut aus in Anatomie und ist ein erstklassiger Chemiker». Eine seiner ersten Erfindungen ist ein Test, um kleinste Mengen von Blut nachzuweisen. An anderer Stelle wird Holmes als etwas «zu wissenschaftlich» und «kaltblütig» bezeichnet. Er ist kein einfühlsamer psychologischer Ermittler und auch keiner, der sich im Stil der Noir-Krimis mit dem Verbrechen identifiziert. Stattdessen hat er eine «Leidenschaft für konkrete und präzise Erkenntnisse» – alles Eigenschaften, die ihn als Vorläufer der zeitgenössischen Forensik ausweisen.

Angesichts des Forschungsprojekts von Eyal Weizman wünschte man sich, dass die forensische Spurenanalyse mit ihrer neuen, alles andere als naiven Objektivität auch die stereotypen Heerscharen der «CSI»-Teams zu mehr politischem Bewusstsein inspirieren könnte. Aber mit der Analyse eines realen libyschen Flüchtlingsdramas erzielt man halt weniger Einschaltquoten als mit einer schönen fiktiven Leiche in Las Vegas.

Einen ausgezeichneten Überblick über 
«Forensic Architecture» gibt das 
Buch «Forensis. The Architecture of 
Public Truth» (Sternberg Press, 2013, zirka 
34 Franken). Kurz und zu knapp, aber 
mit deutscher Übersetzung ist Eyal Weizmans Essay «Forensische Architektur» 
(Hatje Cantz, 2012, zirka 7 Franken). 
www.forensic-architecture.org. 
Bericht zum Flüchtlingsboot: 
www.fidh.org/IMG/pdf/fo-report.pdf.