Pensionskassenvorbezüge: Jetzt spielt auch Berset auf dem Klavier des Populismus

Nr. 27 –

Von Einzelfällen auf alle schliessen: Bislang brillierte die SVP im Fach Missbrauchsoperetten. Nun verfertigt ausgerechnet der sozialdemokratische Bundesrat Alain Berset eine Inszenierung nach diesem Muster.

Seit gut dreissig Jahren, also seit der Einführung des Pensionskassenobligatoriums im Jahr 1985, sind fast alle SchweizerInnen zwangsweise KapitalistInnen. Die Pensionskassen verwalten inzwischen mehr als 600 Milliarden Franken. Anders als bei der AHV, die eine reine Rentenversicherung ist, lebten wir, wie sich jetzt herausstellen könnte, in der Illusion, das zwangsangesparte Kapital gehöre uns tatsächlich, wir könnten darüber unter bestimmten Umständen (Auswanderung, Gründung eines Unternehmens, Hauskauf, Pensionierung et cetera) frei verfügen und hätten ein wenig an der Freiheit der wahren KapitalistInnen teil. Denn wer in einem kapitalistischen System über Kapital verfügt, hat mehr Gestaltungsmöglichkeiten und Bewegungsspielraum – man kann sich Bildung aneignen, eine Idee verwirklichen, durch die Welt reisen, eine Genossenschaft oder ein Unternehmen gründen, einen Schrebergarten pachten oder sich womöglich einen Wohnwagen anschaffen. Ein angenehmes Gefühl, selbst wenn man schliesslich bis 64 oder 65 (falls man nicht vorher in die IV oder in die Sozialhilfe entsorgt wird) als Lohnabhängige weitermacht: Auch kleine Leute sollen von dieser Freiheit träumen dürfen.

Kleinverdiener unter Generalverdacht

Grosse Leute wie Alain Berset neigen dazu, kleinen Leuten einen verantwortungsvollen Umgang mit so viel Geld abzusprechen. Also muss man sie in ein möglichst enges Korsett zwängen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen, muss sie wie kleine Kinder an der Hand nehmen. Sonst «verjubeln» und «verprassen» sie ihr angespartes Pensionskassenkapital und machen dann bei den SteuerzahlerInnen «die hohle Hand», wie der «Tages-Anzeiger» empört kommentierte. Und damit das nicht mehr vorkommt, stellt man am besten gleich alle Gefährdeten, also die KleinverdienerInnen, unter Generalverdacht. Von Einzelfällen wird auf alle geschlossen. Um «Missbräuchen» entgegenzutreten, gäbe es ein einfaches Mittel: Wer sein Pensionskassenkapital bezieht, es dann «verjubelt», der könnte dafür bestraft werden, sobald er beim Staat die «hohle Hand» macht.

Berset und seine Entourage stellen einen direkten Zusammenhang zwischen verantwortungslosem Umgang mit Pensionskassenkapital und den steigenden Ausgaben für Ergänzungsleistungen her. Bloss bleiben sie die Belege schuldig. Fakten will Alain Berset in einigen Monaten nachliefern. Denn bisher wurde dieser Zusammenhang nicht systematisch untersucht. Daher ist das Muster, dessen sich der SP-Bundesrat bedient, populistisch, Stimmungsmache, um seine Reform durchzudrücken.

Bislang war es die SVP, die eine Missbrauchsoperette nach der anderen inszenierte, AsylbewerberInnen, IV-RentnerInnen und SozialhilfebezügerInnen pauschal verunglimpfte. Das Haus war dann jeweils ausverkauft. Aber gelöst haben die schrillen Inszenierungen natürlich nichts. Wofür beispielhaft die letzte IV-Revision steht. Obwohl sich die bürgerlichen Parteien, geleitet vom Missbrauchsgedanken, in fast allen Punkten durchsetzten, hat die Revision ihr Ziel kläglich verfehlt.

Von oben aufgepfropft

Diejenigen, die sich jetzt über «missbräuchliche» Pensionskassenbezüge empören, können sich das meist leisten: Sie verdienen gut genug, um sich ihren Bewegungsspielraum und ihre Gestaltungsmöglichkeiten auch ohne Pensionskassenvorbezug offenzuhalten.

Bersets Reform läuft darauf hinaus, dass die Pensionskassen faktisch in eine AHV II umgebaut würden. Das ist eine radikale Kehrtwendung im Vergleich zum bestehenden System. Es von oben aufzupfropfen, ist falsch, auch wenn die Stossrichtung stimmt: Den Ausbau der Altersvorsorge hätte die Stimmbevölkerung schon vor über vierzig Jahren nicht gewinnorientierten Versicherungskonzernen überlassen dürfen und stattdessen die AHV stärken sollen. Dann erübrigte sich jetzt diese Art der Debatte.

Es geht daher zunächst nicht um Bersets Reform, nicht um Missbrauch, um den Immobilienmarkt, die Altersvorsorge, es geht um einen Grundsatz: PolitikerInnen sollen die Leute nicht für dumm verkaufen, sie können ihnen nicht dreissig Jahre lang vormachen, das Kapital in den Pensionskassen gehöre ihnen, sie könnten im Grundsatz darüber verfügen. Und ihnen dann von einem Tag auf den anderen die Verfügungsgewalt aus der Hand nehmen wollen. Das werden sich die StimmbürgerInnen wahrscheinlich nicht gefallen lassen. So wie sie es sich in der Vergangenheit nicht gefallen liessen – ob es nun die Senkung des Umwandlungssatzes bei den Pensionskassen oder die AHV betraf. Vor allem geht es darum, einem paternalistischen Denken entgegenzutreten, das angeblich weiss, was gut für die Leute ist, sich anmasst, für sie zu denken und zu lenken. Sonst wird irgendwann über missbräuchliche Verwendung von Löhnen debattiert, darüber, dass per Gesetz geregelt werde müsse, wofür Lohnabhängige ihr Geld verwenden dürfen.