Nadine Gordimer (1923–2014): Dieser kritische Blick von innen heraus

Nr. 29 –

Nelson Mandela las ihren in Südafrika verbotenen Roman «Burgers Tochter» im Gefängnis. Die grosse Autorin und Intellektuelle Nadine Gordimer ist am letzten Sonntag gestorben.

Nun ist auch die letzte «Seismografin» gegangen. Mit Nelson Mandela teilte Nadine Gordimer den unbeirrbaren Kampf gegen die Apartheid, mit Doris Lessing ausser Hautfarbe und Profession das fremde Herkommen. Gordimers Mutter stammte aus England, der Vater war ein litauischer Jude und gehörte dadurch im Südafrika der zwanziger Jahre einer kleinen Minderheit an. Das 1923 geborene Mädchen lebte isoliert zu Hause, erst spät durfte es eine Klosterschule besuchen. Das Gefühl, als «Fremdling unter Fremden» (so der Titel ihres zweiten Romans 1958) zu leben, trieb Gordimer schon als Jugendliche an den Schreibtisch.

Doch im Unterschied zu ihrer Schriftstellerkollegin Lessing blieb Gordimer im Land der immer schärfer werdenden Rassentrennung, das gleichzeitig aber auch ein Zufluchtsort für Verfolgte war. Einer der Flüchtlinge war der jüdische Galerist Reinhold Cassirer, der 1934 aus Berlin nach Südafrika geflohen war und mit dem Gordimer fast ein halbes Jahrhundert verheiratet war. «Ins Exil zu gehen», zitierte sie Sartre, «heisst, seinen Platz zu verlieren.» Über den Platz als weisse Intellektuelle in Südafrika dachte Gordimer immer wieder nach.

Ein schwarzer Künstler, stellte sie 1980 programmatisch fest, schafft seine Werke aus der Unmittelbarkeit erfahrener Diskriminierung; eine Weisse dagegen hat es mit einer doppelten Entfremdung zu tun: Sie lebt als Nichteuropäerin in einer kolonialen Kultur, die sich gleichzeitig der einheimischen verweigert. Um aus dieser Situation auszubrechen, bedarf es einer bewussten Entscheidung und einer vernunftgeleiteten, empathischen Solidarität.

Exponierte Chronistin der Apartheid

Mit dieser Standortbestimmung hat sich Gordimer variantenreich auseinandergesetzt. In «Burgers Tochter» (1979) etwa ist es Rosa, die Tochter eines angesehenen Arztes, die durch ihre kommunistisch engagierten Eltern zunächst ganz selbstverständlich in die Rolle der Widerständlerin schlüpft, dann aber ausbricht. Mandela hat den damals in Südafrika verbotenen Roman im Gefängnis auf Robben Island gelesen.

Auffallend viele ProtagonistInnen im Werk Gordimers kommen aus dem juristischen Bereich. In einem Land, das Rassenungleichheit für rechtens erklärte und deren schwarze Machthaber sich später als Zensoren des freien Worts profilierten, war (und ist) das bittere Notwendigkeit. 2012 machte Gordimer Front gegen das Zensurgesetz von Präsident Jacob Zuma: «Ich habe den ANC während des Freiheitskampfes aktiv unterstützt», sagte sie in der «New York Times», «und ich unterstütze die Ideale, auf denen der ANC gegründet wurde. Aber ich stehe aufseiten aller Südafrikaner, die gegen dieses Gesetz sind.»

Gordimer war nicht nur eine exponierte Chronistin der Apartheid, sondern verfolgte das Schicksal ihres Landes auch nach der Revolution mit offenen Augen und aus kritisch-sympathisierender Distanz. Viele ihrer nach 1992 entstandenen Bücher beschäftigen sich mit Problemen der Nachapartheidgesellschaft. «Der Mann von der Strasse» (2001) handelt vom Identitätsverlust der weissen Mittelklasse; im Erzählungsband mit dem ungewöhnlich humorvollen Titel «Beethoven war ein Sechzehntel schwarz» (2008) geht es um die Fremdenfeindlichkeit der schwarzen SüdafrikanerInnen und die Korruptionsanfälligkeit der neuen schwarzen Oberklasse: «Die Parasiten sind oft die Helden von einst.»

Das «wirkliche» Südafrika

In «Keine Zeit wie diese» (2012) zeichnet sie noch einmal ein grossflächiges Panorama des Landes aus der Perspektive eines jüdisch-schwarzen Mittelschichtpaars, das seine Identität aus dem gemeinsamen Kampf gegen die Apartheid entwickelt hat und nun in der südafrikanischen Normalität angekommen ist. Die ehemaligen GenossInnen sind bourgeois geworden, aus dem benachbarten Simbabwe kommen sehr viele unerwünschte Flüchtlinge. Die alltägliche Kriminalität und der Bildungsrückstand der schwarzen Bevölkerung sind mittlerweile in Südafrika ein ernstes Problem.

Dieser Blick von innen ist die grosse Stärke Nadine Gordimers. Wie in vielen Büchern präsentiert sie hier noch einmal eine starke Protagonistin, eine schwarze Spiegelfigur zu jener Helen Shaw, die 1953 in «Entzauberung» die Bergarbeitersiedlung verliess, um in der Grossstadt Johannesburg etwas über das «wirkliche» Südafrika zu erfahren. «Wir schreiben nicht mit unseren Genitalien», erklärte sie einmal süffisant auf das Ansinnen «weiblichen Schreibens»; aber sie schrieb doch mit einem Kopf, der viel weibliche Erfahrung gespeichert hatte und dabei einer realistischen Erzähltradition folgte, die gerade wieder beginnt, modern zu werden.