Die Wanderhure: Wenn Satire kommerziellen Erfolg parodiert

Nr. 34 –

Vor zwei Wochen fiel in Deutschland ein viel beachtetes Urteil zur Frage der Freiheit von Satire. Eine Geschichte über pseudohistorische Romane, Kurt Tucholsky und Hype.

An der «Wanderhure» gibt es in Deutschland kein Vorbeikommen. Die Romanserie um die Hauptfigur Marie wurde millionenfach verkauft und mehrmals verfilmt. Die im düsteren Mittelalter lebende, sittsame junge Frau wird nach einer Vergewaltigung aus der Stadt vertrieben und ist gezwungen, sich als Wanderhure durchs Leben zu schlagen. Heroisch kämpft sie dabei für Gerechtigkeit in einer Welt voller Verrat, Betrug, Gier und Hass.

Das bayerische AutorInnenduo Iny Klocke und Elmar Wohlrath, aus dessen Computer die Romane stammen, muss sich zwar den Vorwurf gefallen lassen, es mache keine «richtige» Literatur – was immer das auch heissen mag. Im Unterschied zu vielen «richtigen» SchriftstellerInnen macht sich das Ehepaar, das die Bücher unter dem Pseudonym Iny Lorentz veröffentlicht, allerdings keine Sorgen mehr ums wirtschaftliche Auskommen.

Da kann den beiden die Kritik, die sie von den versammelten deutschen Feuilletons für ihre halbhistorischen Trivialromane beziehen, auch ein bisschen egal sein, würde man denken.

Kritik am absurden Büchermarkt

Auch der Leipziger Bühnenschreiber Julius Fischer – in der Schweiz vor allem als Slampoet sowie als Teil des Fuck Hornisschen Orchestra bekannt – stimmte in diese Kritik mit ein, als er für die Leipziger Buchmesse einen Text zu aktuellen Tendenzen im deutschen Literaturbetrieb verfasste. Heraus kam ein Traktat mit dem Titel «Die schönsten Wanderwege der Wanderhure», in dem Fischer weniger das Autorenduo angreift als das reisserische Getue im Büchermarkt: «Vom Schreiben leben kann man aber im Grunde genommen nur, wenn man einen hochbrisanten Stoff wie den Korea-Konflikt oder die Bühnenschlüpfer von Lady Gaga mit einem Titel kombiniert, der so gut ist, dass die Leute das Buch ganz selbstverständlich in den Einkaufswagen legen. Wie Klopapier. Der Inhalt ist vollkommen irrelevant, es muss sich nur verkaufen.» Ein kurzer, runder Text, voll mit Punkattitüde, Wortspiel, berechtigter Kritik an einem absurden Büchermarkt und ein bisschen Promibashing.

Der Text fand Einzug in eine neue Textsammlung von Julius Fischer und wurde – wie um die These zu bewahrheiten – zum Namensgeber des Buchs. Dies ging dem Droemer-Knaur-Verlag, der die «Wanderhure»-Romane herausbringt, zu weit. Er erreichte vor dem Landesgericht Düsseldorf im März dieses Jahrs eine einstweilige Verfügung, die Julius Fischers Verlag Voland & Quist (V & Q) untersagte, Fischers Buch weiter aufzulegen und zu bewerben. Aufgrund des Titels bestünde Verwechslungsgefahr mit den «Wanderhuren»-Romanen. Und sowieso habe «die Freiheit der Kunst hinter das durch das Eigentumsgrundrecht und (Markengesetz) geschützte Recht» zurückzutreten. Oder wie es der Radiosender Bayern 2 in Anspielung auf Kurt Tucholsky kommentierte: «Satire darf alles – ausser kommerziellen Erfolg parodieren.»

Geld fürs Tucholsky-Museum

Das Urteil führte in Deutschland zu einem kleinen Mediensturm. Die Geschichte um den grossen Knaur-Verlag, der einen Autor und seinen Kleinverlag aus Leipzig vor Gericht zerrt, ging durch die Feuilletons. Fischer wurde von der «Zeit» eingeladen, einen Text zum Urteil zu schreiben. Aus dem Umfeld des Verlags, der deutschen Slamszene, aus der ostdeutschen und Berliner Kulturszene wurden Soli-Lesungen angeboten. Eine Crowdfundingkampagne, um die Gerichtskosten zu bezahlen, brachte innert weniger Tage 14 000  Euro zusammen. «Wir wollten ja keine Revolution anzetteln», erzählt Julius Fischer, «Knaur hatte diesen Diskurs angestossen, nicht wir. Aber wir merkten plötzlich, dass es eine riesige Community gibt, die ein Interesse am Fall hat.» – «Die David-gegen-Goliath-Geschichte klang zwar gut für die Medien», sagt V & Q-Ko-Verlagsleiter Sebastian Wolter, «aber uns ging es um die feinere Grundrechtsfrage: Satire muss sich auf Bekanntes beziehen dürfen, wenn sie funktionieren will.» Hinzu kommt, dass «Die Wanderhure» keine geschützte Marke ist, es handelt sich dabei offensichtlich um einen historischen Begriff.

Im Unterschied zu den USA, wo ausgerechnet Pornokönig Larry Flynt 1988 die Freiheit der Satire vor Gericht erstritt («Hustler Magazine» versus Falwell, eines der meist zitierten Gerichtsurteile der USA), fehlt in Deutschland eine Rechtsprechung, die Tucholskys Zitat «Satire darf alles» bestätigen würde. Seit zwei Wochen gibt es diese: Am 5. August stiess das Oberlandesgericht Düsseldorf das Urteil der Erstinstanz vollumfänglich um. Und hielt in seiner Pressemitteilung fest: «Da der Titel in seiner satirisch-ironischen Formulierung eine Kombination des heutigen Vergnügens an ‹schönen Wanderwegen› mit einer mittelalterlichen ‹Wanderhure› schaffe, sei er bereits selbst ‹Kunst›.» Fischer und Wolter fiel ein Stein vom Herzen. «Der Hype war ein paar Stunden lang lustig», so Fischer, «aber ich mache lieber mein Zeugs, ohne in Schubladen wie ‹Satiriker› oder ‹Skandalautor› gesteckt zu werden.»

Mitte September soll die zweite Auflage von «Die schönsten Wanderwege der Wanderhure» wieder erhältlich sein – mit den Namen der SpenderInnen aus der Crowdfundingaktion. Da Knaur als unterlegene Partei die Verfahrenskosten übernehmen muss, werden die 14 000  Euro nun gespendet – natürlich dem Tucholsky-Museum.