Medientagebuch: Juden im Blick

Nr. 35 –

Die Fehler und Heuchelei im Fall Geri Müller

Falschmeldungen, ungeprüfte Behauptungen und haarscharf an der Lüge vorbeiformulierte Dementis – die Leistung der Medien bei «Gerigate» ist mehrheitlich katastrophal.

Rainer Stadler, der Medienkritiker der NZZ, beschrieb die Berichterstattung in diesem Fall als «Experimental-Recherche»: Man publiziert Behauptungen und wartet auf Reaktionen. Man könnte auch sagen: Die Zeitungsredaktionen taumelten in einem einwöchigen «Breaking News»-Fieber. Es wurde in alle mögliche Richtungen recherchiert, in erster Linie aber publiziert. Der Fall wird die JournalismusstudentInnen noch eine Weile beschäftigen. Es gäbe mehr Verfehlungen aufzulisten, als hier Platz hätten. Zwei Akteure seien doch herausgehoben.

Erstens: Patrik Müller. Der Chefredaktor der «Schweiz am Sonntag» hat die Affäre ins Rollen gebracht. Seine Begründung für die Publikation (Amtsmissbrauch, Nötigung, Nacktfotos) fiel innert Kürze zusammen. Am folgenden Sonntag wechselte Müller denn auch die Argumentation: Die Erpressbarkeit des Politikers begründe das öffentliche Interesse. Das ist der Erklärungsversuch eines Opportunisten, der seine Argumentationslinie ständig dem anpasst, was die Faktenlage gerade noch hergibt.

Letzte Woche bezeichnete die WOZ Patrik Müllers Position als unhaltbar, sofern er Geri Müller nicht das Recht zur Stellungnahme gewährt habe. Recherchen des «Tages-Anzeigers» bringen den Chefredaktor weiter in Erklärungsnot: Noch am Samstagmorgen vor der Publikation beschied er Geri Müllers Anwalt, der Artikel werde nicht publiziert. Erst am Abend, gegen 18 Uhr, kontaktierte er den Politiker für eine Stellungnahme und hinterliess zwei Combox-Nachrichten. Patrik Müller bestätigt diese Version. Er ergänzt bloss, er habe Geri Müller so oder so einen Anruf für Samstagabend angekündigt.

Zweitens: die Ringier-Presse. Der «Blick» wusste offenbar seit Mitte Juli von der Geschichte, entschied sich aber gegen eine Publikation. Es handle sich um einen «Grenzfall» des Persönlichkeitsschutzes. Kaum war die Affäre publik, war dieser Schutz vergessen. Die Zeitung veröffentlichte online mutmasslich illegal aufgezeichnete Tonbandaufnahmen zwischen Geri Müller und der Chatpartnerin.

Die «Blick»-Gruppe ist für einen weiteren Tiefpunkt in der gesamten Berichterstattung verantwortlich. Letzten Donnerstag führte der «Blick am Abend» als erstes Medium die Wendung «jüdische Verschwörung» in die Debatte ein. Sie machte die Runde, und am Montag schliesslich witterte Sacha Wigdorovits, in Bedrängnis geratener PR-Berater und einer der Hintermänner in dieser Affäre, «antisemitische Klischees im ‹Geri-Gate›», wie er auf persoenlich.com schrieb. Den Antisemitismus schrieb er dabei Geri Müller und der Tamedia zu, deren Zeitungen Wigdorovits beleuchtet hatten.

Dabei vergass er ein Detail: Den Boden für den antisemitischen Diskurs legte der «Blick». Chefredaktor René Lüchinger hatte am Donnerstag einen Artikel publiziert, in dem er Müller als wirren, antisemitischen Paranoiker darzustellen versuchte. Als Grundlage diente ihm Müllers Strafanzeige gegen die Bernerin, in der namentlich Josef Bollag erwähnt ist. Bollag gilt ebenfalls als Hintermann in der Affäre, ist Rechtsberater, Treuhänder, langjähriger Politgegner Müllers und ausserdem Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Baden. Lüchinger fasste das in einem eigenwilligen Titel mit explizitem Drall zusammen: «Geri Müller bringt Juden ins Spiel».

Carlos Hanimann ist WOZ-Redaktor.