Andreas Berger: «Wenn die Polizei schiesst, schiesse ich auch»

Nr. 39 –

Seit über zwanzig Jahren hält Andreas Berger mit seiner Kamera das Geschehen in und um die Berner Reitschule fest. Das Kulturzentrum ist auch der Protagonist seines neuen Dokumentarfilms «Welcome to Hell».

Andreas Berger vor der Berner Reitschule: «Mir ist wichtig, alle Sonnen- und Schattenseiten des polarisierenden Kulturbetriebs aufzuzeigen.»

Ein Zug rattert über die Brücke oberhalb des Berner Kulturzentrums Reitschule. Links des Eingangs zur Reitschule steht eine grosse SBB-Uhr. Deren Zeiger zucken willkürlich und nervös in alle Richtungen. «Herzschlag» wird die Uhr in Andreas Bergers Dokumentarfilm über die Reitschule «Welcome to Hell» liebevoll genannt – gedacht als eine poetische und politische Betrachtung der Zeit.

Andreas Berger steigt aus seinem Auto, die Kameratasche in der Hand. Nein, die lasse er sicher nicht im vor der Reitschule geparkten Wagen, sagt er, und seine Augen blitzen lachend auf. Als «Ändu» stellt er sich vor, und so nennt ihn auch sein Umfeld. Im Innenhof der Reitschule wird er von allen Seiten begrüsst. Seit mehr als dreissig Jahren filmt und dokumentiert der gebürtige Berner die Berner Bewegung, von ihren Anfängen in den achtziger Jahren bis heute. Er ist bei jeder Aktion dabei, meistens an vorderster Front und immer mitten im Geschehen.

AKW-freundliche Hippies

Berger bestellt Süssmost und Kaffee – und zündet sich eine Zigarette an. Hier hat alles begonnen, erinnert er sich: erste Kiffererlebnisse und eine Telefonzeitung, die man anrief, um herauszufinden, wann und wo Demos stattfinden. Diese Zeiten sind vorbei – heute freut sich der 53-Jährige, wenn ihm wie selbstverständlich sein Schlummertrunk hingestellt wird.

Am Nebentisch tauchen Gesichter aus «Welcome to Hell» auf, Gesichter, die Geschichten erzählen. «Der Fokus meines neuen Films liegt auf der Reitschule, sie ist die ‹Hauptfigur›. Ich will das selbstverwaltete Kulturzentrum durch die Augen der Mitarbeitenden zeigen.» Meistens folgt Berger ihnen eng mit der Kamera, zeigt sie bei ihrer Arbeit und befragt sie nach ihren Haltungen. «Mir ist wichtig, alle Sonnen- und Schattenseiten des polarisierenden Kulturbetriebs aufzuzeigen.»

Anders als bei Bergers frühen Filmen «Zafferlot» (1986) und «Berner beben» (1990), in denen er die Geschehnisse oft in der Totalen und bewusst einseitig dokumentierte, kommt im neuen Film vermehrt auch die gegnerische Seite zu Wort. Das habe damit zu tun, dass die Stimmung im Allgemeinen toleranter geworden sei: «Vieles, was damals nicht erlaubt war, kann man heute einfach so haben und leben», sagt er. «In den achtziger Jahren dachte ich in Schwarz und Weiss, heute differenzierter. Im Umfeld des AKW-Ade-Camps 2011 lernte ich AKW-kritische Polizisten kennen und auf dem Bahnhofsplatz Pseudohippies, die für Mühleberg und die Atomenergie argumentierten.» Er schmunzelt und steckt sich eine neue Zigarette an.

Nach seinen ersten Erinnerungen an die Reitschule gefragt, kommt die Antwort sofort: «1981 im Dachstock beim Kiffen.» Zu Beginn der achtziger Jahre ist die Reitschule ein legales AJZ, das 1982 geschlossen und 1987 wieder besetzt wird. Berger, der aus einem kleinbürgerlichen Elternhaus stammt, trägt die Haare lang und ist wenig an Politik interessiert. Doch wie viele andere in dieser Zeit ist auch er Rebell und vor allem genervt über die wenigen kulturellen Freiräume in der Stadt Bern.

Und so fängt alles an: Protestaktionen, Katz- und Mausspiele mit der Polizei, Steine werfen und Scheiben zerbrechen – ganz zum Missfallen der Eltern. Seine militante Phase ebbt bald ab, als der Gymnasiast das Actionkino entdeckt. Die Super-8-Kamera wird zu seiner neuen Waffe. «Wenn die Polizei schiesst, schiesse ich zurück. Nur tut mein Zurückschiessen niemandem weh», meint Berger lakonisch. Erste «Filmli» mit Freunden entstehen – «cinéma copain». Andreas Berger schüttelt sich vor Lachen, wenn er an seine Filmanfänge zurückdenkt, an «Last Game», einen fünfzehnminütigen Spielfilm mit siebzehn Toten.

Berger hat aufgehört, über das gedrehte Material für «Welcome to Hell» Buch zu führen. Zwei Jahre dauerte allein der Schnitt, drei Jahre die Drehzeit. Liefe es nach marktwirtschaftlichen Regeln, wäre er schon dreimal bankrottgegangen. Die Vorstellung, einen Produzenten oder eine Redaktion im Rücken zu haben, ist ihm ein Graus. Er sieht sich als Einmannunternehmen. Filme machen heisst für ihn, politisch aktiv zu bleiben. Wenn er ganz zufrieden wäre mit der Welt, hätte er schon längst aufgehört.

Nachwuchs auf Abwegen

Wenn er nicht gerade filmt, findet man Berger im Wald beim Pilzen oder unterwegs mit seinen drei Kindern. In welcher Szene bewegen die sich? Berger hält kurz inne. «Die gehen ihre eigenen Wege und statt in die Reitschule lieber ins Westside», in diesen Konsumtempel, wo man im McDonald’s esse und Mainstreamkino konsumiere. Deshalb hätten sie ab und zu Streit. Berger selber ist grosser Fan von Italowestern, Splattermovies und dem Film noir. Von diesen Genres kauft er sich jede DVD-Neuausgabe; fast 2000 Filme umfasst seine Sammlung.

Zurzeit schreibt Berger an einem Spielfilm, und so viel sei verraten: Es geht um einen Journalisten, der zu viele Filme schaut.

Andreas Berger drückt seine Zigarette aus. Ein Restgeruch von Bratensauce weht über den Hof und mischt sich mit Mick Jaggers durchdringender Stimme – «Jumpin’ Jack Flash». Vor dem Ausgang tickt unaufhörlich der Herzschlag der Reitschule.

«Welcome to Hell» läuft ab Donnerstag, 25. September 2014, im Kino in der Reitschule in Bern und ab Sonntag, 28. September 2014, im Kino Kunstmuseum in Bern.

Welcome to Hell. Regie: Andreas Berger. Schweiz 2014