Zivilmilitärische Aufrüstung: Der Feind steht schon in der Stadt

Nr. 47 –

In der EU mehren sich Anzeichen, dass gegen unbewilligte Demonstrationen und Blockaden künftig auch länderübergreifend vorgegangen wird. Geübt wird schon mal.

Oberstleutnant Peter Makowski steht auf einem Aussichtspunkt und zeigt mit dem Arm über die Colbitz-Letzlinger Heide. Hier, auf einem 23 000 Hektaren grossen Gelände in der Altmark, im Bundesland Sachsen-Anhalt, befindet sich das Gefechtsübungszentrum Heer, auch Güz genannt, die zentrale Bildungseinrichtung der deutschen Bundeswehr. Alle deutschen SoldatInnen, die auf einen Auslandseinsatz geschickt werden, bekommen im Güz den letzten Schliff: ein zweiwöchiges Training auf dem weiträumigen Gelände der Heide, bei dem sie dank eines hochkomplexen Simulationssystems mit Lasern auf ihre imaginierten Feinde schiessen können. Es werden Kampfbedingungen vorgetäuscht, die SoldatInnen in Afghanistan real vorfinden könnten.

Allerdings reicht das heutige Simulationssystem nicht mehr aus, um die Realität in Krisengebieten nachzubilden. «Die Auslandseinsätze der letzten Jahre fanden immer auch in urbanen Ballungsräumen statt», sagt Makowski. «Und da kann sich der Feind sehr leicht im Gewirr von Häusern und Zivilisten verstecken. Sagen wir es mal so: Da hast du winkende Kinder, und um die Ecke wartet ein Taliban und schiesst.»

Deshalb wird im Güz derzeit Schnöggersburg gebaut – eine Stadt, in der SoldatInnen den Häuser- und Strassenkampf üben können.

U-Bahn, Bahnhof und Moschee

Schnöggersburg soll die grösste Truppenübungsstadt Europas werden. Sie wird sich über eine Fläche von über sechs Quadratkilometern erstrecken und aus 520 Gebäuden bestehen, eine Kanalisation und U-Bahn-Schächte haben, ein Wasserwerk und ein Umspannwerk, ein Industriegebiet, ein Diplomatenviertel, ein Elendsviertel, eine Einkaufsstrasse, einen Sportplatz, einen Stadtwald, eine Stadtautobahn, einen Bahnhof und eine Moschee, die bei Bedarf in eine Kirche umgewandelt werden kann. Veranschlagte Kosten: hundert Millionen Euro. Kritische Fragen nimmt Makowski vorweg: «Wozu das alles?» Nach aktuellen demoskopischen Untersuchungen würden bis 2035 sechzig Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben, bis 2050 sogar siebzig Prozent. Also müsse man davon ausgehen, dass die Bundeswehr künftig vornehmlich in urbanen Räumen im Einsatz sein werde.

Schon jetzt wird das Güz regelmässig von Nato- und EU-Partnern gemietet. Auch richtet das Ausbildungszentrum gemeinsame Übungen europäischer Streitkräfte aus. «Das wird in Zukunft häufiger der Fall sein», sagt Makowski. Im fertiggestellten Schnöggersburg werden also künftig SoldatInnen und militärisch strukturierte Polizeikräfte aus unterschiedlichen Ländern trainieren. Offen bleibt die Frage, wo und wie sie ihre Kenntnisse letztlich anwenden werden.

Tatsache ist, dass schon länger der Aufbau von militärischen und polizeilichen Einheiten vorangetrieben wird, die darauf spezialisiert sind, länderübergreifend gegen Aufständische aller Art vorzugehen. Nach den Ausschreitungen von 1998 in dem von der Uno verwalteten Bosnien und Herzegowina fragten die USA die italienischen Carabinieri an, eine internationale Gendarmerietruppe aufzubauen. Diese sollte in der Lage sein, in Kriegs- und Postkriegsgebieten für Ordnung zu sorgen, sprich: die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten. So entstand die erste spezialisierte multinationale Einheit (MPU), die im Rahmen der sogenannten Stabilisierungsstreitkräfte der Nato eingesetzt wurde.

2005 wurde dann in der Carabinieri-Kaserne Armando Chinotto in Vicenza das Kompetenzzentrum für Stabilisierungseinheiten (Coespu) eingerichtet – unter der Federführung der USA, aber aufgrund einer internationalen Vereinbarung, die 2004 beim G8-Gipfel in Sea Island von den teilnehmenden Staats- und Regierungschefs getroffen wurde. Das Coespu kann mit einem Truppenübungsplatz wie dem Güz nicht verglichen werden, da es zwar über Seminar- und Trainingsräume und einen grossen Vorplatz verfügt, aber nicht über ein grosses Gelände.

Vielmehr ist es eine Ausbildungsstätte, in der Kompetenzen gebündelt und in Seminaren und Tagungen weitervermittelt werden. «Robuste Polizeikräfte» für internationale Friedensmissionen würden da ausgebildet, erklärt Carabinieri-General Paolo Nardone, der das Coespu leitet. Es handelt sich um Gendarmeriekräfte nach dem Modell der italienischen Carabinieri: hybride Einheiten, die über polizeiliche und militärische Fähigkeiten verfügen, schwere, aber auch nicht letale Waffen handhaben können, und sowohl unter zivilem als auch unter militärischem Kommando operieren können.

Einsätze im Innern?

Die Fähigkeiten zur Kontrolle von Menschenansammlungen und zur Bekämpfung von Aufruhr werden in einem Seminarbericht des Coespu als Ausbildungsziele besonders hervorgehoben: Stabilisierungspolizisten, heisst es dort, müssten in der Lage sein, Störungen der öffentlichen Ordnung zu bewältigen, sensible Infrastruktur zu überwachen, Prominente zu eskortieren, Terrorismus und Aufstände zu bekämpfen, Barrikaden zu entfernen und lokale PolizistInnen in der Technik der Aufstandsbekämpfung auszubilden. Im selben Papier wird auch eine entsprechende Ausbildung für Militärs gefordert. In der Tat ist es inzwischen üblich, dass Nato-SoldatInnen an ihren Einsatzorten solche Übungen machen.

Die Frage stellt sich, wie weit diese Art von international koordinierter Aufstandsbekämpfung auch in der EU zum Einsatz kommen könnte. Es gibt durchaus Anzeichen dazu: So forderte im August 2001, zwei Wochen nach der blutigen Niederschlagung der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua, der damalige deutsche Innenminister Otto Schily in einem Interview den Aufbau einer internationalen Polizei. Daraufhin wurde die Kooperation europäischer Polizeien und insbesondere europäischer Spezialkräfte, die für die öffentliche Ordnung sorgen sollten, verstärkt. Das Projekt einer europäischen Sonderpolizei stand bei EU-Gipfeln immer wieder zur Diskussion. Doch bisher ist daraus – anscheinend – noch nichts geworden.

Gemeinsam Häuserbesetzungen üben

Allerdings gibt es Kooperationen zwischen verschiedenen EU-Staaten: 2004 zauberten Italien, Frankreich, Spanien, Portugal und die Niederlande durch eine Absichtserklärung die European Gendarmerie Force (Eurogendfor) aus dem Hut, einen informellen Zusammenschluss von Polizeieinheiten aus den Unterzeichnerstaaten. Seit 2008 gehört auch die rumänische Jandarmeria Romana zum Verbund; die türkische Gendarmerie hat einen Beobachterstatus, die polnische und die litauische gelten als Partnerinnen. Im Einsatzfall muss innerhalb von dreissig Tagen eine 800 Mann starke Einheit zusammengestellt werden; die PolizistInnen werden von den Teilnehmerstaaten gestellt. Die Ausrichtung gemeinsamer Trainings wie auch die Organisation und Leitung der Einsätze obliegt einem Hauptquartier, das sich in derselben Kaserne in Vicenza befindet, die auch das Coespu beherbergt.

Bislang war Eurogendfor nur in Bosnien und Herzegowina, in Afghanistan und Haiti im Einsatz. Das Engagement der Europäischen Gendarmerie gelte allein Ländern, die sich ausserhalb der Union befänden, sagt denn auch Eurogendfor-Sprecher Armando Sisinni. Bedenklich ist allerdings, dass Eurogendfor von keinem Parlament überwacht wird. Sie untersteht einzig und allein einem Rat von Innen- und VerteidigungsministerInnen der beteiligten Staaten. Und wer sollte diesen Rat daran hindern, die europäischen Gendarmen bei Bedarf in ein EU-Land zu entsenden? Letztlich ist es eine Frage des politischen Willens, wie, wann und wo Streitkräfte und Polizeieinheiten eingesetzt werden.

Tatsache ist, dass der Lissaboner Vertrag der EU eine Solidaritätsklausel enthält, die einen solchen Einsatz rechtfertigen könnte (vgl. «Solidaritätsklausel der EU» im Anschluss an diesen Text). Die EU verfügt also theoretisch über Möglichkeiten, im Fall von Unruhen sowohl polizeiliche Spezialkräfte wie auch Militärs in EU-Länder zu entsenden; Einsatzkräfte, die dann vorher möglicherweise in Schnöggersburg ihren letzten Schliff erhalten haben.

Momentan beschränken sich die europäischen Regierungen allerdings darauf, die polizeiliche Kooperation punkto «Kontrolle von Menschenansammlungen» und «Bekämpfung von Aufruhr» zu verstärken. In der Antwort auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke an die deutsche Bundesregierung war zu erfahren, dass allein die deutsche Bundespolizei zwischen 2010 und 2013 an 73 gemeinsamen Übungen mit ausländischen Sicherheitskräften teilgenommen hat. Auffällig oft wurden dabei Situationen wie Hausbesetzungen und Demonstrationen geübt.

Im Juni 2012 etwa probten deutsche und österreichische PolizeibeamtInnen in Bayreuth das Szenario «Hausbesetzung, Wohnungsdurchsuchung, Schiessen, Naturkatastrophe, Schwimmen und Retten, Begleitschutz». Ende November 2012 führten deutsche, belgische und luxemburgische Polizeikräfte in Bad Bergzabern die Übung «Blockadebeseitigung» durch. Am 10. Oktober 2013 wurde in Quierschied-Göttelborn in Saarland der Einsatz bei einer Demonstration geübt; an der Übung waren eine Bereitschaftshundertschaft der saarländischen Polizei, eine Hundertschaft der französischen Gendarmerie mobile und eine Hundertschaft der Compagnies Républicaines de Sécurité beteiligt.

Die Übung beinhaltete das polizeiliche Vorgehen bei einer Demonstration mit Zwischen- und Abschlusskundgebung in Anlehnung an die sogenannten Blockupy-Aktionstage, teilte am 13. Februar 2014 die Bundesregierung mit. Das heisst: Man bereitet sich darauf vor, wie einer europaweiten Kundgebung gegen die Krisenpolitik begegnet werden kann. Blockupy ist jenes Bündnis von GlobalisierungskritikerInnen, GewerkschafterInnen und linken AktivistInnen, das sich 2012 formierte, um gegen die Krisenpolitik der Troika – Europäische Zentralbank (EZB), EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds – in Frankfurt am Main, am Sitz der EZB, zu protestieren. Unter dem Slogan «Austerity kills» will es 2015 auch die Eröffnung des neuen EZB-Sitzes blockieren. Ein Szenario, das dem Brüsseler Establishment nur ein Graus sein kann.

Solidaritätsklausel der EU

Artikel 222 des EU-Vertrags von Lissabon sieht vor, dass sich die Mitgliedstaaten im Falle eines Notstands zur gegenseitigen Hilfe verpflichten. Bei «einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer von Menschen verursachten Katastrophe» kann die Union «alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschliesslich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel» mobilisieren.

Die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton und die EU-Kommission haben 2012 präzisiert, dass diese Solidaritätsklausel dann in Kraft tritt, wenn «Menschenleben, die Umwelt, kritische Infrastrukturen oder wesentliche gesellschaftliche Funktionen» betroffen sind. Das Ereignis könne auf eine «natürliche oder von Menschen verursachte Katastrophe oder Terroranschläge» zurückgehen. Als Katastrophe wird jede Situation definiert, «die schädliche Auswirkungen auf Menschen, die Umwelt oder Vermögenswerte hat oder haben kann». Eine sehr weite Definition, die auch Streiks und Aufstände einschliesst.