Ueli Maurers Tabubruch: Menschenrechte: unverhandelbar

Nr. 48 –

Ueli Maurer hat ein entspanntes Wochenende hinter sich. Er war im französischen Lille: Tennis schauen. Da war bereits vergessen, dass der SVP-Bundesrat kurz zuvor beantragt hatte, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu kündigen.

Die Gleichgültigkeit, mit der Maurers Tabubruch hingenommen wurde, sagt viel über den politischen Zustand dieses Landes aus. Denn Maurers Forderung lässt – mit kühlem Kopf und historischem Bewusstsein betrachtet – nur einen Schluss zu: Dieser Mann hat in einer demokratischen Regierung nichts verloren. Stattdessen konnte Ueli Maurer als Sportminister genüsslich in den nationalen Freudentaumel über den Davis-Cup-Triumph verfallen.

Die universalen Menschenrechte sind die grosse Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Die EMRK garantiert deren Schutz und ist somit das wichtigste Fundament der modernen europäischen Werte. Die Konvention des Europarats, dem 47 Mitgliedstaaten angehören – nur Weissrussland, der Kosovo und der Vatikan stehen aussen vor –, schützt unsere Grundrechte, und zwar die von allen Menschen, die sich durch einen Mitgliedstaat in ihren Rechten verletzt fühlen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wacht über die Einhaltung der Grundrechte. Dabei garantiert die EMRK nicht nur den Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen wie willkürlicher Tötung, Folter, Sklaverei und Zwangsarbeit, sondern sie regelt auch die Rechte von Personen in Haft und im Strafverfahren – etwa das Recht darauf, einen Anwalt beizuziehen – oder das Recht auf den Beitritt zu Gewerkschaften.

Die EMRK trat 1953 in Kraft, als die Schrecken des Zweiten Weltkriegs noch frisch waren und damit auch das Bewusstsein vom Absturz demokratischer Staaten in die Barbarei, die schliesslich im Holocaust gegipfelt hatte. Die Schweiz trat der EMRK 1974 per Bundesbeschluss des Parlaments bei – mit Unterstützung der SVP, die die Konvention damals als «Bollwerk gegenüber den Staaten, die die Menschenrechte mit Füssen treten», bezeichnete.

Die ehemals kommunistischen Staaten, auf die die SVP vor vierzig Jahren anspielte, sind nach 1989 der EMRK beigetreten. Heute ist es die SVP, die die Menschenrechte mit Füssen tritt. Dafür benützt sie bewusst falsche Bilder. So sind die RichterInnen in Strassburg nicht wie immer behauptet «fremd». Von den 47 RichterInnen stammen zwei aus der Schweiz: Helen Keller und Mark Villiger, der Liechtenstein vertritt. Und vor allem kann kein Urteil gegen die Schweiz ergehen, ohne dass ein Gerichtsmitglied schweizerischer Herkunft mitgewirkt hat.

Das zweite falsche Bild ist jenes der «classe politique», die sich in Form von Staats- und VerfassungsrechtlerInnen angeblich um den «Volkswillen» foutiere. Dabei ist gerade die EMRK der beste Schutz von Grundrechten des Einzelnen gegenüber dem Staat: ein Schutz, der allen zusteht, also auch den Angehörigen einer Minderheit. Ein funktionierender Grundrechts- und Minderheitenschutz ist Voraussetzung für eine Demokratie. Folglich ist der Angriff der SVP auf die Menschenrechte auch ein Angriff auf die Demokratie.

Solange die anderen Parteien die antidemokratischen Vorstösse der SVP ignorieren, lassen sie zu, dass die Menschenrechte im kommenden Wahljahr zur taktischen Manövriermasse geraten. Mit Ausnahme der Grünen («Die SVP gehört nicht mehr in den Bundesrat») hat jedenfalls keine andere Partei die Regierungsbeteiligung der SVP infrage gestellt. Selbst die SP druckst herum und sagt, die Frage stelle sich erst in einem Jahr – nach den Wahlen.

Auch die Medien haben Maurers Tabubruch vor allem taktisch und politstrategisch bewertet. Fast schon bewundernd wurde sein Vorstoss als «Beweis für die Raffinesse» des SVP-Bundesrats ausgelegt. Andernorts war von «Befürwortern» der EMRK die Rede – als ob es völlig normal wäre, dass es in der Frage der Menschenrechte auch eine legitime Gegnerschaft gibt. Die Reaktionen auf Maurers Antrag sind Ausdruck davon, wie sehr die SVP in den letzten Jahren Grenzen verschoben hat. Als könne man die Menschenrechte befürworten oder ablehnen. Aber die Menschenrechte sind nicht verhandelbar.