Durch den Monat mit Helen Keller (Teil 1): Sind Sie eine Idealistin?

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Helen Keller ist Richterin am Europäischen Gerichtshof in Strassburg. Sie erklärt, weshalb sie dort nicht die Schweizer Interessen vertritt und weshalb die Verurteilung der Schweiz in einem Asbestfall für sie eines der wichtigsten Strassburger Urteile im letzten Jahr war.

Helen Keller: «Das schwierige Amt als Richterin in Strassburg nimmt man an, weil man der Sache dienen will.»

WOZ: Frau Keller, warum sind Sie Juristin geworden?
Helen Keller: Juristerei betreiben ist wie Haare schneiden: Damit kann man sich überall durchschlagen, ist selbstständig und finanziell abgesichert. Neben Jus war ich mehrere Jahre auch in der Slawistik eingeschrieben. Wäre es dort nicht so gemütlich gewesen, wäre ich wohl gar nicht an der Uni geblieben.

Gemütlichkeit, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Absicherung. Sehr bodenständig.
Ja. Ich wollte immer auf eigenen Beinen stehen und arbeiten.

Sie waren also mit zwanzig keine glühende Menschenrechtsaktivistin, die unbedingt an den Menschenrechtsgerichtshof wollte?
Überhaupt nicht. Ich bin ein Arbeiterkind. Damals schien mir der Europäische Gerichtshof so unerreichbar wie ein fremder Planet. Richterin kam sowieso nicht infrage. Ich machte ein Praktikum am Bezirksgericht: Am Morgen fünf Scheidungen, am Nachmittag fünf Scheidungen. Ich merkte: Nie im Leben! Da war ich mit zu viel menschlichem Elend konfrontiert.

Das sind Sie jetzt doch auch.
Ja, vieles, womit sich der Gerichtshof auseinandersetzen muss, ist in der Tat elend. Polizeigewalt, Asylfälle und Misshandlungen durch Geheimdienste. Aber bei einem Ehekrieg ist man als Richterin völlig hilflos. Da kann man nur noch die Scheidung aussprechen. Ich komme ursprünglich vom Umweltrecht, da sieht man unmittelbar wenig menschliches Leid. Aber schon damals war mir der Schutzgedanke des Rechts wichtig. Ich wollte etwas machen, hinter dem ich ethisch stehen konnte.

Sie sind also doch eine Idealistin!
Nun, dass ich jetzt Richterin in Strassburg bin, ist eigentlich ein Zufall. Das Amt am Gerichtshof ist im wahrsten Sinn des Wortes eine Berufung. Die Chance kriegt man nur einmal im Leben. Dieses schwierige Amt nimmt man an, weil man der Sache dienen will.

Spürten Sie eine Verantwortung gegenüber den Menschenrechten?
Ja, eine Verantwortung gegenüber den Menschen in Europa, aber auch gegenüber der Schweiz. Im Wahlverfahren schlägt der Bundesrat drei Personen vor in der Hoffnung, dass sie die Menschenrechte nach bestem Wissen und Gewissen schützen und schweizerische Werte in Strassburg einbringen: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Ich vertrete aber in Strassburg nicht die Schweizer Interessen. Das versteht man in der Schweiz häufig nicht. Bei unseren Urteilen, die gegen die Schweiz ergehen, kann ich in der Schweizer Presse jeweils lesen, «erstaunlicherweise hat auch die Schweizer Richterin gegen die Schweiz entschieden».

Pflegen alle Mitgliedstaaten der Menschenrechtskonvention eine derartige nationale Empfindlichkeit?
Nein. Je nach Staatsverständnis fallen die Reaktionen auf ein Urteil im betroffenen Land anders aus. In der Schweiz bringt man der nationalen Justiz viel Vertrauen entgegen. In Polen zum Beispiel, wo das Vertrauen in die Institutionen eher schwach ist, werden erfolgreiche Beschwerdeführer in den Medien wie Helden gefeiert. Hierzulande wird hingegen ein schockiertes «Schweiz verurteilt» vermeldet.

Stehen Sie in Strassburg in Konkurrenz zum Bundesgericht?
Nein, im Gegenteil, häufig kooperieren die beiden Gerichte. Ein internationaler Gerichtshof ist grundsätzlich schwach. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist nur stark, wenn die nationalen Gerichte diese gut anwenden. Das Bundesgericht macht das. Da, wo es an die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit kommt, die es ja nicht ausüben darf, kann es aber sein, dass der Gerichtshof anders entscheidet als das Bundesgericht.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Das Asbesturteil vom letzten März.

Sie meinen den Fall des ehemaligen BBC-Mitarbeiters Hans Moor, der 2005 an Lungenkrebs als Asbestfolge gestorben war. Seine Hinterbliebenen erstritten in Strassburg das Recht auf ein faires Entschädigungsverfahren.
Ja. Im Schweizer Obligationenrecht gibt es eine Norm, die die absolute Verjährung für Asbesterkrankungen auf zehn Jahre beschränkt. Das Bundesgericht bestätigte diese, weil es eben kein Verfassungsgericht ist und an bestehende Gesetze gebunden ist. Opfer merken aber oft erst nach Jahrzehnten, dass der Asbest sie krank gemacht hat. Dann ist es in der Schweiz für eine Klage zu spät.

Das ist absurd.
Im Normalfall ist eine solche Frist schon sinnvoll, weil es nach zehn Jahren schwierig ist, die nötigen Beweise zu erbringen. Bei den Asbestopfern ergibt die Regelung aber keinen Sinn. Wir fällen zurzeit etwa 1000 bis 2000 Urteile pro Jahr. Das Asbesturteil war für mich 2014 eines der wichtigsten.

Weshalb?
Tausende von Menschen werden weltweit in den nächsten Jahren noch an Lungenkrebs erkranken, weil sie mit Asbest in Kontakt gekommen sind. Dieses Urteil wird noch in anderen Fällen Schule machen.

Helen Keller (50) ist für die Schweiz Richterin 
am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Davor war sie Professorin für Staats- und Völkerrecht an der Uni Zürich und Mitglied im Menschenrechtsausschuss der Uno.