«Charlie Hebdo»: Der Islamismus ist ein Teil von uns

Nr. 3 –

Der Anschlag von zwei französischen Islamisten auf die Satirezeitschrift «Charlie Hebdo», bei dem zwölf Menschen starben, ist eine abscheuliche Tat. Genauso wie das Attentat auf einen jüdischen Supermarkt, bei dem vier Menschen hingerichtet wurden. Sie gehören verurteilt. Das ist das Erste, was es zu sagen gibt. Das Zweite: Die Meinungsäusserungsfreiheit ist gegen jeden Angriff zu verteidigen, unabhängig davon, was man von den provokativen Karikaturen über den islamischen Propheten Mohammed halten mag, die die Zeitschrift in den letzten Jahren publizierte.

Das bedeutet, drittens, jedoch nicht, dass man sich die politische Position von «Charlie Hebdo» zu eigen machen sollte. Natürlich darf man auch den Islam kritisieren. Genauer: das, was die verschiedenen MuslimInnen darunter verstehen. Die universellen Menschenrechte der Französischen Revolution müssen hochgehalten werden, gerade heute, wo sie von der politischen Rechten immer mehr unter Beschuss geraten. Lange nicht alles, was im Namen der Religion getan wird, ist Teil einer erhaltenswerten Kultur.

Allerdings sollten wir uns an den liberalen Laizismus halten, wie er einst vom englischen Philosophen John Locke erdacht wurde – und in Frankreich 1905 in einem Gesetz verankert wurde: Es gibt einen Gesellschaftsvertrag, an den sich alle BürgerInnen zu halten haben. Darin gibt es jedoch Freiräume, innerhalb derer alle ihre Religion frei leben können.

Der Laizismus jedoch, der vor allem in der französischen Linken, so auch bei «Charlie Hebdo», dominiert, ist der antiklerikale Laizismus des französischen Denkers Voltaire. Dieser versucht nicht lediglich, der Religion gewisse Schranken zu setzen: Einst wollte er die katholische Kirche zerschlagen, heute will er auch den Islam in die Knie zwingen. Die Religion als solche. Samt ihren Millionen von Gläubigen. So ist auch zu verstehen, warum «Charlie Hebdo», statt nur Islamisten zu karikieren, es etwa für nötig hält, den Propheten Mohammed auf allen vieren mit einem leuchtenden Stern als Anus zu zeichnen.

Zur Meinungsäusserungsfreiheit können sich auch MuslimInnen bekennen. Wer in der Solidarität mit «Charlie Hebdo» jedoch gleich auch dessen antiklerikale Position einnimmt, schliesst damit sämtliche gläubigen MuslimInnen aus. Ihnen bleibt die Wahl zwischen zwei Lagern: dem, das ihren Propheten verunglimpft – und jenem der Terroristen. Damit wird die Gesellschaft weiter polarisiert. Kommt hinzu: Der einstige Kampf gegen die mächtige Kirche hatte jede Berechtigung. Der heutige Kampf von «Charlie Hebdo» gegen den Islam ist jedoch der eines weissen Bildungsbürgertums gegen eine Bevölkerungsgruppe, die mehrheitlich auf der untersten Sprosse der sozialen Leiter lebt, ausgeschlossen in den Banlieues.

Darin liegt eine Doppelmoral: Den MuslimInnen wird die im Gesellschaftsvertrag verankerte Meinungsäusserungsfreiheit um die Ohren gehauen, gleichzeitig lässt man einen Grossteil von ihnen nicht an dieser Gesellschaft teilhaben. In dieser Ausgrenzung liegt auch der Grund, warum der Islamismus, der in der arabischen Welt als Widerstand gegen die vom Westen gestützten Diktatoren entstanden ist, in Europa Fuss fassen konnte. So wie sich die Pegida-Bewegung in Deutschland oder der französische Front National aus den Zukunftsängsten des weissen Kleinbürgertums und der wirtschaftlichen Marginalisierung der Unterschicht nähren, so nährt sich der Islamismus aus der ökonomischen Perspektivlosigkeit junger MuslimInnen.

So wenig also, wie die Wurzeln des Front National im Republikanismus liegen, den er für sich reklamiert, so wenig liegen jene des Islamismus im Koran. Stimmen wie die des Kolumnisten Frank A. Meyer, die dies behaupten, müssten erst eine Antwort auf folgende Frage liefern: Wie kommt es dann, dass der Islamismus bis in die siebziger Jahre weltweit marginal war? Die Wurzeln des europäischen Islamismus liegen in der europäischen Gesellschaft. Er ist Teil von uns. Oder wie der Philosoph Slavoj Zizek in dieser WOZ schreibt: So wie der Faschismus zeugt auch der Islamismus vom Versagen der Linken, das vorhandene soziale Unbehagen zu mobilisieren.

Angesichts der Massenkundgebungen für «Charlie Hebdo» ist allerdings nüchtern festzuhalten: Die Meinungsäusserungsfreiheit und die Demokratie werden in Europa nicht durch den Islamismus bedroht – die MuslimInnen insgesamt machen ein paar Prozent der Gesellschaft aus, der Rückgriff auf das Attentat als politisches Mittel zeugt von ihrer Ohnmacht. Bedroht werden diese Werte vom Rechtsnationalismus, der in Frankreich mit dem Front National nach der Staatsmacht greift.

Man muss hoffen, dass die Millionen von Menschen, die in den vergangenen Tagen für «Charlie Hebdo» auf die Strasse gegangen sind, der Beginn einer progressiven Bewegung sind, die nicht nur dem Islamismus, sondern auch dem Rechtsnationalismus den Boden entzieht.