Graphic Novel «Here»: Mit Dinosauriern und Benjamin Franklin im selben Raum

Nr. 4 –

Epischer Tapetenwechsel: Der US-Zeichner Richard McGuire hat seinen Kultcomicstrip «Here» zu einer hinreissenden Fuge auf die Flüchtigkeit der Zeit und die Kraft der Erinnerung veredelt.

Fenster in andere Zeiten: Ausschnitt aus «Hier», Richard McGuires neuem Werk.

Auf Seite 187 von Richard McGuires neuer Graphic Novel «Hier» fliegt ein Pfeil, abgeschossen von einem Indianer. Auf den nächsten paar Seiten ist der Pfeil immer noch unterwegs, bis da plötzlich ein Paar in einem Wohnzimmer steht und kritisch die Jagdtrophäe eines kapitalen Hirschs über einem Kamin betrachtet. «Ich mag es nicht», sagt die Frau über das Geweih, und das klingt ziemlich endgültig.

Aber was heisst schon endgültig in einem Buch, das sich explizit mit der Vergänglichkeit und Wandelbarkeit von Ereignissen befasst: Zwischen der Jagdszene und dem ästhetischen Gnadenstoss liegt ein assoziativer und historischer Sprung von über 800 Jahren. Was beides zusammenhält, ist nicht die Einheit der Zeit, sondern diejenige des Orts; der Schauplatz ist immer derselbe, eben «Hier».

Im Elternhaus

McGuire kennt diesen Ort gut, er ist da aufgewachsen. Das ebenerdige Wohnzimmer gehörte zu seinem Elternhaus in der Kleinstadt Perth Amboy, New Jersey, wo der Musiker und Zeichner 1957 unweit von New York geboren wurde. 1989 hatte er diesen Raum schon einmal in einem Comicstrip unter demselben Titel gezeichnet: In 36 Panels, verteilt auf sechs Seiten, erzählte «Here» gleichsam die Biografie dieser vier Wände – die Geschichte eines Zimmers, die gleichzeitig in die Zukunft und in die Vergangenheit führt.

So findet im selben Panel zum Beispiel eine beschauliche Familienszene um 1965 statt, während Jahrzehnte später eine Abrissbirne krachend durch die Mauer bricht. Oder dieselbe Person wird dreimal in derselben Zimmerecke fotografiert, als Kind, als junger Erwachsener und als alter Mann: Es ist McGuires älterer Bruder. Das Nebeneinander der zeitlich versetzten und paradoxen Bildinhalte, nur durch einen dünnen Rahmen voneinander getrennt, erzeugt Schwindelgefühle. Und machte den auf Schwarzweiss und klare Linien reduzierten Comicstrip «Here» zum Soforterfolg.

Für den Bauplan seiner Ein-Zimmer-Zeitmaschine liess sich McGuire von verschiedenen Quellen inspirieren: «Maus»-Erfinder Art Spiegelman brachte den Zeichner auf die Idee einer diagrammartigen Bildsprache, die ohne festgelegte Erzählrichtung auskommt. Und das Microsoft-Betriebssystem Windows steuerte die Inspiration für das zentrale Gestaltungsmittel bei, mit dem McGuire die Begrenzung seiner Panels aufbrach – das Fenster im Fenster.

Sein Nachfolgewerk «Hier» hat McGuire am Computer koloriert. Eineinhalb Jahre lang hat er daran gezeichnet, doch die Vorarbeiten dauerten etliche Jahre länger. Er habe seiner ursprünglichen Idee nicht einfach mehr Seiten hinzufügen wollen, erklärt McGuire, der vor der Fertigstellung der 300 Seiten starken Graphic Novel den Haushalt seiner verstorbenen Eltern auflösen musste. Der Zeichner studierte deshalb nicht nur alte Familienalben, er beschäftigte sich auch mit der Geologie seines Heimatorts und lokalen historischen Begebenheiten.

Wasserfarben und Computergrafik

Da fährt etwa zu Beginn des US-amerikanischen Unabhängigkeitskrieges 1775 eine Kutsche vor dem Nachbarhaus vor, aus der dann der Gründervater Benjamin Franklin steigt. Der Revolutionär wird sich an diesem Abend mit seinem Sohn verkrachen, der loyal zum britischen König hält – Progressivität ist eben keine Frage des Alters oder der Generationenfolge. Das prominente Haus steht tatsächlich in McGuires früherer Nachbarschaft, trotzdem wird dem historisch kostümierten Gastauftritt nicht mehr Bedeutung beigemessen als einer Halloween-Scharade.

«Hier» lässt die Zeit als Bilderflut durch das Wohnzimmer strömen, die gestaltlose Urwelt ebenso wie das künftige Meer, das in hundert Jahren den Schauplatz bedecken wird, als Folge der Klimaerwärmung. Die Zeichnungen und Malereien sind stilistisch so abwechslungsreich wie die Zeitalter selbst: Zarte Wasserfarben treffen auf Computergrafik, Schraffuren auf die ornamentale Fläche der ständig wechselnden Tapeten. Das Verblüffende an der Graphic Novel ist dabei, dass sie trotz ihres epischen Zeitraums das menschliche Mass nie verliert. Die Alltagsbeobachtungen zu verlorenen Schlüsselbünden, indianischen Stelldicheins oder einem Besuch am Sterbebett von McGuires Vater werden durch vorbeitrampelnde Dinosaurier oder das gleichgültige Rauschen eines Waldes nicht gemindert. Der Zeichner hält es mit Mark Twain: Geschichte kennt keine Wiederholung, aber sie reimt sich. Dieses Prinzip verleiht noch den flüchtigsten Auftritten im Buch eine Resonanz, die sie vor dem Vergessen bewahrt.

«Es gab da einen Moment, in dem wir alle im selben Raum waren. Ich glaube nicht, dass es irgendwer gemerkt hat», heisst es einmal. «Hier» lädt uns ein, diesen Raum mit den Geistern der Zukunft und der Vergangenheit zu teilen. Die Vorstellung ist so beunruhigend wie tröstlich: Was auch immer passiert, wir sind nicht allein.

Richard McGuire: Hier. DuMont. Köln 2014. 300 Seiten. Fr. 37.90