Suizid: Matthias’ letzter Tag

Nr. 4 –

Alles scheint wie immer, als der dreizehnjährige Matthias an einem Frühlingsmorgen zur Schule fährt. Doch am Abend ist er tot, er hat sich umgebracht – und lässt seine Familie und seine LehrerInnen mit quälenden Fragen zurück.

Es ist kühl an diesem Morgen, ein Dienstag. Matthias steht auf dem Bahnsteig. Zur rechten Seite liegt der Wald, zur linken das Städtchen. Hier ist er aufgewachsen: Einfamilienhäuser mit grossen Autos in den Auffahrten, eine Kirche mit goldenem Wetterhahn und ein Schlösschen mit Rittersaal.

Irgendwo dazwischen, in einer der Gassen, die Rathaus-, Schul- oder Friedhofsweg heissen, steht ein Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert. Es gehört seinen Grosseltern, Matthias lebt bei ihnen. Wenn der Wind richtig steht, ist das Rauschen des Flusses zu hören. Im Sommer geht es mit dem Velo an den Baggersee. Ein guter Ort, um gross zu werden. So wirkt es jedenfalls.

Matthias ist dreizehn Jahre alt, er hat kurze braune Haare und blaue Augen. An diesem Frühlingstag trägt er einen dunklen Armeeparka und auf dem Rücken seinen Schultornister. Um kurz vor sieben kommt der Zug, Matthias steigt ein. Erst vier Stationen mit der Bahn, dann zwanzig Minuten mit dem Bus, das ist sein Schulweg, den er seit ein paar Jahren allein fährt. Morgens hin und abends zurück.

An diesem Tag wird er nicht zurückkommen.

Seine kleine Welt

Matthias geht in die fünfte Klasse einer Förderschule: kleine Klassen, engagierte LehrerInnen, von Therapiereiten über Werken bis zu Zirkusprojekten wird aufgeboten, was bezahlbar ist. Als um zehn vor acht der Unterricht beginnt, scheint es ein ganz normaler Morgen zu sein. Matthias sitzt an seinem Tisch hinten links. Er hat den Kopf auf das Pult gelegt und versteckt sich hinter den verschränkten Armen. Morgens braucht er eine Weile, um anzukommen. Die sechs anderen Jungs ignorieren ihn. Sie kennen das. Matthias muss weniger machen als sie. Seine Aufgaben sind leichter als ihre. Die Lehrerin hat eigens eine Ecke für ihn eingerichtet. Abgeschirmt durch eine Arbeitswand hat er dort seine kleine Welt. Hierhin kann er sich zurückziehen, wenn er unruhig wird.

Wenn seine Lehrerin an die Zukunft von Matthias denkt, dann sieht sie ihn im Freien, in Bewegung, bei Arbeiten, die seine Hände beschäftigen. Eine praktische dreijährige Anlehre im Gartenbau würde er schaffen. Doch Matthias bekommt diese Wutanfälle. Wenn er glaubt, dass ihn jemand provoziert, ihn angreift, wird er laut und ausfallend. Dann schimpft er einen Mitschüler «Ausländerschwein» oder seine Lehrerin «Fotze». Wenn er vergessen hat, seine Tabletten zu nehmen, brüllt er los, rennt herum, springt über Tische, stösst Tiergeräusche aus, ist nicht mehr zu bändigen. Wie ein Rennauto ohne Bremse und Lenkrad, das auf eine Wand zurast. Matthias hat ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung): Er ist hyperaktiv, unaufmerksam, aufbrausend. Die Lehrerin überlegt, ob er weiter in der Klasse bleiben kann, ob er in einer Sonderschule nicht besser aufgehoben wäre. Auch mit seiner Mutter hat sie schon darüber gesprochen. Matthias will aber nicht in eine andere Schule.

Manchmal schlägt er zu. «Ich weiss, das ist falsch, aber ich werde so wütend, ich kann nicht anders», hat er einmal gesagt. Wenn er es nicht mehr aushält, flieht er aus dem Klassenraum und rennt nach draussen auf das Gelände. Er versteckt sich auf dem Spielplatz oder hinter den Büschen. Er darf das, alle hier wissen, dass es ihm guttut. Aber wiederkommen muss er, sobald er sich beruhigt hat, spätestens nach einer halben Stunde. Anschliessend will er sich entschuldigen, weiss aber nicht wie. Er gibt seiner Lehrerin die Hand oder bleibt in ihrer Nähe, abtastend, ob sie noch böse auf ihn ist. Oder er fragt nach Strafarbeiten, will etwas abschreiben, für ihn fühlt sich das am meisten nach Bestrafung an.

Auch heute knallt es. Er beschimpft seine Lehrerin. Danach verlangt er eine Strafe. Dreimal erinnert er die Lehrerin, spricht sie selbst in der Pause noch darauf an, bis sie ihm eine Seite aus dem Deutschbuch zum Abschreiben aufgibt.


Es sei nur eine kleine Auseinandersetzung gewesen, sagt seine Lehrerin drei Monate später, aber Matthias habe unbedingt eine Strafe gewollt. Die junge Frau steht im leeren Klassenraum, sie ist Anfang dreissig, unter ihrem T-Shirt wölbt sich ein Babybauch. Bald beginnen die Ferien, sie ist erleichtert, endlich sechs Wochen Pause, nicht mehr den leeren Stuhl und den leeren Tisch von Matthias sehen. Die Bilder, die er gemalt hat, hat sie abgehängt und zusammen mit seinen anderen Sachen in eine Box gepackt, die jetzt auf dem Lehrertisch steht. Grau ist die Box und aus Karton, ein Jungenleben in einer Schachtel. Die Grosseltern sollen sie bekommen.

Die Lehrerin erinnert sich, wie sie immer wieder vor Matthias stand und nicht mehr wusste, wie sie auf ihn reagieren sollte. Wie sie nur langsam gelernt hat, seine Stimmungen zu lesen. Wie sie sich in ihrer Ratlosigkeit seine Akte angeschaut hat. Das macht sie sonst nie. Sie will nicht, dass ein lebendiges Kind zu einem Aktenkind wird, zu viele kalte Begriffe. «Seit der ersten Klasse steht da über Matthias das Gleiche drin», sagt sie, «wie er stört, wie er kaum was lernt, seine Bindungsängste.» Während sie erzählt, ist ihre Stimme ruhig, und ihre Bewegungen sind sparsam. Sie wirkt vollkommen klar, fast emotionslos, und vielleicht ist das der einzige Weg, wie sie mit dem Unerklärlichen umgehen kann. «Da war nichts, kein Anzeichen, kein Hinweis.»

Draussen vor dem Fenster wächst ein kleiner Kirschbaum, den haben sie für ihn gepflanzt. «Wir müssen jetzt nach vorne schauen», sagt die Lehrerin plötzlich, wie um das Kapitel Matthias abzuschliessen. «Diese ganzen Überlegungen, warum, was. Wir müssen uns um die Kinder kümmern, die da sind.»


Auch zu Hause, im alten Bauernhaus der Grosseltern, hat Matthias sein Reich. Sein Zimmer ist ihm heilig. Hier darf niemand ohne seine Erlaubnis herein. Matthias sammelt, was er nützlich findet: alte Handys, eine ausgediente Schreibmaschine. Schlüssel und Schlösser faszinieren ihn, drei Dutzend hat er davon. Aufschliessen, zuschliessen, sichern. Das alte Bauernhaus ist selbst eine Festung, dicke Mauern, kleine Fenster. Der Grossvater hat es renoviert, zwei Jahre hat er dafür gebraucht. Matthias mag seinen Grossvater, dicker Bauch, dicke Arme, wenige Worte. Lieber tut er etwas. Er arbeitet in der Nachtschicht bei einem Autobauer. Matthias will auch dort arbeiten, wenn er gross ist. In der Garage steht ein kleiner, alter Traktor, den sie beide zusammengeschraubt haben.

Matthias hört gern Rapmusik, die Boxen voll aufgedreht. Sido findet er gut, der ist stark, genauso wie Mario Balotelli, der schwarze Fussballer aus Italien, der mit den Muskeln, der gegen Deutschland im Halbfinal der Europameisterschaft zwei Tore geschossen hat. Matthias hätte gern die gleiche Frisur wie Balotelli, die Seiten rasiert und in der Mitte einen kurzen gefärbten Haarstreifen.

Ich habe alles im Griff

Wenn Matthias zu Hause seine Wutanfälle bekommt, schreit er seine Oma an: «Du Hure!» Danach tut es ihm leid. Zur Oma geht er, wenn er in den Arm genommen werden will. Nachts, wenn er sich gruselt oder wenn es gewittert, kriecht er zu ihr unter die Bettdecke. Sie beschützt ihn, dann ist er wieder ihr kleiner Junge. Vor ein paar Monaten sollte er in der Schule übernachten. Die Grosseltern waren besorgt, Matthias braucht noch eine Windel. Doch abends, kurz vor dem Schlafengehen, kam er allein von der Toilette zurück, grinste, hob sein Hemd hoch und zeigte der Lehrerin die Windel. Ich habe alles im Griff, sollte das heissen.

Solange er jünger war, konnten die Grosseltern mit seinen Eigenheiten umgehen. Ihn morgens einfach in Ruhe lassen, sein Zimmer als sein Reich respektieren, ihm gut zureden. Jetzt, wo er sich verändert, in die Pubertät kommt, genügt das nicht mehr. Vielleicht, so die Überlegung, wäre Matthias in einem betreuten Jugendwohnheim besser aufgehoben.


Drei Monate später: Das Haus der Grosseltern steht offen, man kann in den Flur schauen, in die Garage mit dem Traktor, in den Keller, in dem Matthias’ Grossvater seine Schlangen füttert. Hinter den weissen Gardinen kocht seine Grossmutter das Essen. Es ist, als könnte Matthias jeden Moment die Treppen heruntergerast kommen, sich sein Fahrrad schnappen und losdüsen.

Die Grossmutter fragt sich, ob Matthias’ «Tschüss, ich hab dich lieb» an jenem Dienstag sein Abschied war. Verstehen und akzeptieren, was passiert ist, ist für die beiden unmöglich. Jemand muss ihm Drogen gegeben haben, glaubt das Ehepaar, ihn gezwungen haben. Sie wollen nicht viel sprechen über ihren Enkel. Sie halten es einfach nicht aus. Vom Haus geht es über die Strasse, vorbei an dem Kindergarten, in dem es so viel Ärger mit den ErzieherInnen gab, runter zur Bahnstation, von der aus Matthias zur Schule fuhr.


Dreizehn war seine Mutter, als sie mit ihm schwanger wurde. Der Vater war knapp achtzehn. Der Säugling wachte jede halbe Stunde auf, schrie, liess sich nicht beruhigen. Das Mädchen, selbst noch ein Kind, war überfordert. Heute wohnt sie in einer Nachbarstadt, mit den drei Geschwistern von Matthias und ihrem neuen Freund.

Matthias bewundert seinen Vater, jederzeit würde er zu ihm und mit ihm gehen – wenn der nur wollte. Obwohl sein Vater ihn, als er noch kleiner war, oft geschlagen hat. Obwohl er mit ansehen musste, wie sein Vater seine Mutter schlug, ein Mal, zwei Mal, viele Male. Matthias blieb bei den Grosseltern. Das erschien allen besser so, das alte Bauernhaus war sein Zuhause geworden. Seine Eltern besucht er am Wochenende. Er kann sich aussuchen, zu wem er gehen möchte, seine Mutter sieht er häufiger.


Eine grosse, helle Neubauwohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses, auf der Kommode im Wohnzimmer stehen dicht nebeneinander Fotos von Matthias, wie ein Altar, nur Kerzen fehlen. Die Mutter sitzt am Esstisch. Wie soll man mit jemandem sprechen, der sein Kind verloren hat? Hübsch ist sie, sie hat sich geschminkt, auf den Armen hat sie Tattoos, Sterne sind dabei. Matthias’ jüngerer Bruder sitzt vor dem Fernseher und spielt Playstation. Doch eigentlich hört er dem Gespräch zu. Er ruft herüber, wenn ihm etwas einfällt.

Der Freund der Mutter steht in der Küche und raucht. Welche Bilder tauchen vor ihren Augen auf, wenn sie an Matthias denkt? Sie sagt: Matthias, der wie ein Verrückter Rad fährt, Matthias, der mit seinem Bruder Süssigkeiten teilt. Sie erzählt von schönen Situationen, dann lacht sie. Und davon, wie Matthias sie immer wieder zur Verzweiflung gebracht hat. Das ist ihr wichtig. Es war nicht einfach mit ihm. Sie hat sich auch mehr als Schwester gefühlt.

Plötzlich springt sie in ihrer Erzählung zum Vater von Matthias. Wie er sie beide schlägt, wie er sich nicht kümmert, wie Matthias ihn trotzdem bewundert hat. Sie wird so wütend, dass die Worte wie ausgespuckt im Raum stehen. Doch auf einmal steht Matthias’ Bruder am Tisch. Er will protestieren, es ist auch sein Vater, über den sie da spricht. Doch seine Mutter ist so wütend, dass sie nicht auf ihn hört und einfach weiterredet. Wenn jemand an allem Schuld hat, dann er, sagt sie.


Viertel nach zwölf, es klingelt, die Schule ist zu Ende. Matthias hat seine Strafarbeit bekommen und läuft wie immer hinüber in die Tageshilfe, eine spezielle Nachmittagsbetreuung. Drei Erzieher, eine Praktikantin und eine junge Frau im Freiwilligen Sozialen Jahr kümmern sich um acht Jungs. Über die Strasse, nach rechts, nach links, zur Haustür rein, die Treppe hoch, schon ist Matthias da. Im Gang hängt ein Bild, das hat er gemalt. Ein feuerrotes Rennauto mit Turboantrieb. Er ist der Älteste in der Gruppe und seit sechs Jahren dabei, von allen Kindern am längsten. Doch nach diesem Schuljahr ist definitiv Schluss, dann ist für ihn die Altersgrenze erreicht. Morgen soll es deshalb ein Gespräch mit dem Jugendamt geben. Alle kommen zusammen, die Grossmutter, die Mutter, der Erzieher, die Lehrerin und Matthias. Sie wollen beraten, wie es weitergehen soll.

Mittagstisch, acht Jungs, wilde Kerle mit Engelsgesichtern. Matthias kommt herein, vibriert vor Unruhe. Mit tiefer verstellter Stimme sagt er: «Ich schlag dich zusammen, ich schlag dich zusammen, ich hole meinen Vater, der schlägt dich zusammen.»

Beim Essen reden alle Kinder durcheinander: Einer fühlt sich angegriffen, der andere kontert, drei wollen wissen, wie heute das Programm aussieht. Wie ein Pingpongspiel, und jeder hat einen Ball. Matthias redet ununterbrochen mit. Er redet viel, aber nur sehr wenig über sich, nicht darüber, wie es ihm geht, nicht über das, was er erlebt hat.

Einmal haben sie in der Tageshilfe Weihnachtskarten gemalt. Der Erzieher zündete eine Kerze an und erzählte die Geschichte von Maria und Josef. Matthias malte drauflos, eine Krippe mit einem Baby, dann einen Mann neben der Krippe. «Das ist Josef, der beschützt das Baby», erklärte er dem Erzieher. Danach nahm er einen Pinsel, tunkte ihn in rote Farbe und übermalte das Bild.


Überall hängen Fotos von Matthias. Wohin man auch schaut, man sieht in die blauen Augen des Jungen. Mal lacht er, dann ist es, als ob der Schnee schmilzt, meistens schaut er aber misstrauisch in die Kamera. Der Erzieher hat sie aufgehängt, Matthias soll nicht einfach vergessen werden. Auch auf der Geburtstagsliste steht noch sein Name. An der Wandtafel stecken Zettel, auf denen die anderen Jungs «Gute Reise, Matthias» und «Ich hoffe, dass es dir besser geht, da, wo du jetzt bist» geschrieben haben.

Der Erzieher dreht an seinem Ring, fährt sich mit den Händen durch die Haare. Er geht zum Fenster, zur Kaffeemaschine, wieder zum Fenster und zeigt nach draussen: «Den Zaun habe ich mit ihm gebaut, da haben wir gesägt, während die anderen schon aufgegeben haben.» Er fragt sich, was er falsch gemacht hat. Was er übersehen hat. Es war doch klar, dass Matthias nicht länger in der Tageshilfe würde bleiben können, dass er zu alt geworden war. Er wollte doch auch selbstständiger werden und zu den Grossen gehören. Lag es am Streit, den sie im Sommer während der Velotour hatten?


Wie immer ist um 15 Uhr die Hausaufgabenzeit beendet. Matthias hat die Strafarbeit erledigt, die er so dringend von seiner Lehrerin bekommen wollte. Jetzt ist Freizeit. Er will Lego spielen. Normalerweise vergisst er alles, wenn er mit Legosteinen Autos, Garagen und Strassen zwischen den Häusern baut. In solchen Momenten ist er so in Gedanken versunken, dass er singt oder pfeift.

Doch heute ist etwas anders. Die junge Freiwillige trifft Matthias im Gang. «Mir ist langweilig», sagt er, geht in den Keller, greift sich sein blaues Fahrrad, das mit dem elektronischen Tachometer, und trägt es die Treppe hoch. Oben stösst er auf einen Erzieher. Fahrradfahren war heute nicht abgemacht. Er muss sich an die Regeln halten. Der Erzieher denkt noch, dass es deswegen Krach gibt, doch heute nicht. Matthias zankt nicht, er wird auch nicht wütend, er bringt einfach sein Velo wieder in den Keller. Später werden sie es finden, ordentlich abgestellt.

Nur wenige Minuten vergehen, bis die Erzieher merken, dass Matthias fehlt. Einer geht ihn suchen, aber weil Matthias oft abhaut und sie verabredet haben, dass er auf dem Gelände bleiben und, wenn er sich besser fühlt, nach einer halben Stunde zurückkommen soll, warten sie danach erst mal ab. Die junge Freiwillige feiert ihren Geburtstag, sie hat Muffins mitgebracht. Für Matthias lassen sie einen übrig, er kann ihn ja auf dem Weg nach Hause essen.

«Da ist was passiert»

Die Tageshilfe ist zu Ende, es ist halb fünf, und Matthias ist immer noch nicht zurück. Seine Mappe hat er auch dagelassen. Sie rufen die Mutter an und informieren die Vorgesetzten. Dann gehen sie ihn alle noch einmal suchen. Überall dort, wo er sich versteckt haben könnte, auf dem Spielplatz, auf dem Fussballplatz. Nichts.

Es wird dunkel, es regnet, und es ist kalt. Um 21.45 Uhr geht bei der Polizei ein Notruf ein. Matthias’ Mutter ist dran, ihr Junge ist nicht nach Hause zu den Grosseltern gekommen. «Es ist bestimmt alles in Ordnung», versucht der Beamte sie zu beruhigen. Bestimmt übernachtet er bei einem Freund. Doch die Mutter wird panisch: «Da ist was passiert.» Sie schicken einen Streifenwagen.

Es ist Mittwoch, der erste Tag nach Matthias’ Verschwinden. Die Grosseltern kommen in die Tageshilfe. Jetzt hätte das Gespräch mit dem Jugendamt stattfinden sollen. Irgendwie hatten sie alle gehofft, dass er einfach am nächsten Tag in die Schule kommen würde. Die Grosseltern sind aufgelöst, blass, sie zittern.

Jetzt geht auf einmal alles ganz schnell. Suchmeldungen gehen über Facebook raus. Die Nachricht, dass ein Junge verschwunden ist, verbreitet sich. Vor der Schule taucht der Übertragungswagen eines Fernsehsenders auf. Die Polizei sucht mit einer Einsatzhundertschaft, mit einem Helikopter, mit Spürhunden, am Fluss, im Wald, auf dem Gelände der Schule, in der Nähe des Hauses der Grosseltern. Immer wieder fährt die Mutter alle Orte ab, an denen sie Matthias vermutet. Doch der bleibt verschwunden.

Es ist Samstagabend und der vierte Tag nach Matthias’ Verschwinden. Nur hundert Meter Luftlinie von der Schule entfernt geht eine Anwohnerin einen kleinen Weg entlang. Es ist dämmrig. In den Gebüschen, an einem Schuppen, sieht sie eine Gestalt. Sie bleibt stehen, schaut genauer hin, die Gestalt bewegt sich nicht. Die Frau verlässt den Weg, läuft die paar Meter durch die Büsche, steht vor dem Schuppen.

Es ist ein Junge. Es ist Matthias. Er ist tot. Aufgehängt.

Die Sonne bricht durch die Wolken, mit einem Mal wird es warm. Es ist Montag, der erste schöne Tag nach langen Regenwochen. Auf dem Schulhof stehen LehrerInnen und Schulkinder im Kreis, in der Mitte ein Tisch mit einem Foto von Matthias. Ein Pfarrer spielt ein Lied auf der Gitarre. Matthias wird nicht wiederkommen, das wissen sie jetzt. Alle schweigen, auch die Kinder, die sonst kaum stillhalten können. Später sprechen sie in der Klasse über ihn, schauen auf seinen leeren Stuhl, manche Schüler fragen: Was ist passiert? Wo ist Matthias jetzt? Fragen, auf die ihre Lehrerin keine Antworten hat. Sie fängt an zu weinen.

Schnee schaufeln, Muscheln sammeln

Abends besucht der Erzieher die Grosseltern in ihrem alten Haus. Auch sie suchen nach Erklärungen. Jemand muss ihm Drogen gegeben, ihn angestiftet oder alles arrangiert haben. Doch die Untersuchungen der Polizei haben ergeben, dass Matthias sich das Leben genommen hat. Keine Fremdeinwirkungen, keine Spuren, keine Drogen. Der Todeszeitpunkt: Dienstagabend. Warum Matthias Suizid beging, kann die Polizei nicht beantworten. Darauf gibt es keine Hinweise.

Alles geht so schnell. Die Beerdigung muss vorbereitet werden, am Dienstag kommt ein Pfarrer, er wird die Trauerrede schreiben. Die Familie sitzt zusammen, sucht nach Worten, um zu erklären, was für ein Mensch Matthias war. Es fällt ihnen schwer, erst nach und nach kommen die Erinnerungen: «Matthias hat sich frühmorgens um seinen Bruder gekümmert, hat ihn gewickelt und mich schlafen lassen.» – «Mir hat er Kaffee ans Bett gebracht und über die Wange gestreichelt.» – «Er hat der Frau von gegenüber den Schnee weggeschaufelt.» – «Im Urlaub auf dem Campingplatz am Meer mit dem Boot, da hat er Muscheln gesammelt, da war er immer fröhlich.»


Im Jahr 2012 haben sich in Deutschland 9890 Menschen das Leben genommen, mehr als doppelt so viele, wie Menschen durch Verkehrsunfälle sterben. Nur 11 davon waren Jungen im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren. Das sind 0,1 Prozent aller Suizide.

So weit die Zahlen. Eine Antwort geben sie nicht. Auch der Leiter einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, der die Erzieher und Lehrerinnen nach dem Tod von Matthias besucht und mit ihnen geredet hat, weiss keine Antworten. Er weiss nur, dass Kinder sich eigentlich nicht das Leben nehmen. Wenn sie es dennoch tun, war es nicht beabsichtigt, mehr ein Unfall als eine bewusste Tat. Er beschreibt, wie Kinder zum Beispiel auf einem Dach stehen und mit dem Gedanken spielen, hinunterzuspringen, dann erschrecken, weil plötzlich jemand die Treppe hochkommt, und stürzen. Sie probieren aus, wie es wäre, wenn, und finden dann nicht mehr aus der Situation heraus.

War das bei Matthias auch so? Keiner der Menschen, die ihn begleiteten, hat eine Erklärung. Sie können nur sagen, dass er es schwer hatte. Dass er viele bis zur Verzweiflung getrieben hat. Dass er dabei war, ein Jugendlicher zu werden, was die Probleme noch verstärkte. Und dass sein Leben am Ende im Umbruch war. Es war nicht klar, ob er an der Schule würde bleiben und ob ihn die Grosseltern weiter würden betreuen können. Seine Fixpunkte drohten wegzubrechen.


Am Donnerstag wird Matthias beerdigt. Mehr als hundert Menschen sind gekommen. Neben dem Sarg steht Matthias’ Fahrrad, sie spielen sein Lieblingslied, «I Follow Rivers», der treibende Rhythmus des Popsongs hallt über den Friedhof. Der Pfarrer sagt: «Was in diesem Moment geschah, was Matthias dachte und fühlte, wissen wir nicht. Es wird sein Geheimnis bleiben, das wir zu respektieren haben, auch wenn es schwerfällt.» Langsam versinkt der Sarg in der Erde. Erst regnet es Rosen, dann Erdklumpen, dann ist es still.

Matthias hiess in Wirklichkeit anders. Aus Rücksicht auf seine Familie werden die Interviewten, auf deren Erzählungen der Text basiert, nicht namentlich genannt, und auch nicht der Ort, an dem er lebte.