«Selma»: Ein Film kommt zu spät

Nr. 9 –

Im März 1965 erzwangen der Bürgerrechtler Martin Luther King und seine MitstreiterInnen das Stimmrecht für Schwarze, wie der Film «Selma» zeigt. Just unter Präsident Obama sind die damaligen Errungenschaften aber teilweise zunichtegemacht worden.

Im Städtchen Selma im Südosten der USA ereignete sich 1965 Revolutionäres: Martin Luther King (David Oyelowo) mit dem griechisch-orthodoxen Erzbischof Iakovos (Michael Shikany). Foto: Atsushi Nishijima

Mit «Selma» hat die schwarze Filmemacherin Ava DuVernay Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung ein Denkmal setzen wollen: Vor fünfzig Jahren hatten diese mit Protestmärschen in Selma, Alabama, der US-Regierung die Durchsetzung des Stimm- und Wahlrechts abgetrotzt. Doch in den US-Medien sorgte der Spielfilm bereits vor dem Kinostart für negative Schlagzeilen.

Im Zentrum der Kritik steht die historische Darstellung des damaligen Präsidenten Lyndon B. Johnson. Er sei nicht etwa der zögerliche Reformer gewesen, als den ihn DuVernay skizziere, sondern habe als politisch gewiefter Stratege die Proteste in Selma initiiert und den Voting Rights Act, das Stimmrechtsgesetz, von langer Hand geplant. So argumentieren nicht nur Hofberichterstatter wie der Direktor des Lyndon B. Johnson Museum oder ein ehemaliger Berater Johnsons im Weissen Haus, sondern auch AkademikerInnen, die sich mit ihren Publikationen um eine historische Neubewertung von Johnson bemühen.

Das ist, mit Verlaub, unnötiges Geplänkel am Rande. Mag sein, dass es «Selma» am vergangenen Sonntag den Oscar für den «besten Film» gekostet hat. Wirklich ärgerlich ist, dass es davon ablenkt, was eigentlich ins Scheinwerferlicht gerückt werden müsste.

Der Film komme angesichts der aktuellen Fälle von weisser Polizeigewalt gegenüber Schwarzen in Ferguson und anderswo zur richtigen Zeit ins Kino, ist ein oft gehörtes Argument. Es ist falsch. «Selma» kommt zu spät, fast zwei Jahre zu spät.

Blutige Konfrontationen

Was sich 1965 in Selma abspielte, kann historisch als revolutionär bezeichnet werden. Die Mehrheit der Bevölkerung des Bezirks, zu dem Selma gehört, war schwarz. Und obwohl das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC), eine säkulare Organisation innerhalb der religiös geprägten Bürgerrechtsbewegung, über ein Jahr lang versucht hatte, lokale Schwarze als WählerInnen zu registrieren, besassen Anfang 1965 weniger als ein Prozent von ihnen das Stimm- und Wahlrecht, weil es ihnen von den lokalen Behörden mit diskriminierenden Praktiken systematisch verweigert wurde.

Als Mitte Januar Martin Luther King als frisch gekürter Friedensnobelpreisträger nach Selma reiste, kam Bewegung in die Sache: King suchte mit Versammlungen vor dem lokalen Gerichts- und Polizeigebäude, wo sich auch das Wählerregistrierungsbüro befand, bewusst die Konfrontation mit dem lokalen, als cholerischem Rassisten bekannten Sheriff Jim Clark. Denn wo ein Gesetzesvertreter sich zu Gewalt gegen friedlich Demonstrierende hinreissen liess, war der Bürgerrechtsbewegung die nationale Medienaufmerksamkeit gewiss. Doch dann wurde ein junger Schwarzer, Jimmy Jackson, nachts und fern vom Licht einer Kamera beim Versuch, seine Mutter vor Polizeiknüppeln zu schützen, erschossen.

King zündete die zweite Eskalationsstufe des Protests: Ein symbolischer Marsch von Selma nach Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, wo der für seinen Rassismus berüchtigte Gouverneur George Wallace regierte, sollte die Augen der Nation auf das Anliegen der schwarzen Bevölkerung lenken. Wallace verbot den Marsch prompt. Und als am 7. März Hunderte von schwarzen Männern, Frauen und Kindern Selma über die Edmund-Pettus-Brücke verlassen wollten, wurden sie auf der andern Seite von Wallace’ Polizeitruppen abgefangen und mit Tränengas und Knüppeln zurückgeprügelt. Als die nationalen Fernsehstationen am Abend ihr Programm unterbrachen, um die bürgerkriegsähnlichen Szenen in die Stuben Amerikas zu tragen, geriet Präsident Johnson in Zugzwang.

King rief BürgerInnen landesweit zur Unterstützung auf, um am 9. März erneut loszumarschieren – Tausende folgten seinem Aufruf, unter ihnen zahlreiche weisse Geistliche und andere weisse SympathisantInnen. Doch mitten auf der Brücke blies King nach kurzem Gebet zum Rückzug, um angesichts der bereits wartenden Polizeitruppen ein erneutes Blutvergiessen zu vermeiden.

Als King sich zu einem dritten Anlauf entschloss, musste Johnson handeln. Am 15. März kündete er vor dem Kongress eine Vorlage an, die Schwarzen das Ausüben ihrer Wahlrechte garantieren sollte, und zitierte den Titel der Hymne der Bürgerrechtsbewegung «We Shall Overcome». Schliesslich stellte er die Polizeitruppen von Wallace unter sein eigenes Kommando und befahl ihnen, für die Sicherheit der Marschierenden von Selma nach Montgomery zu sorgen.

Am 5. August 1965 setzte er den Voting Rights Act in Kraft. Und gab damit der schwarzen Bevölkerung in den Südstaaten genau das, was die Weissen mit allen Mitteln zu verhindern gesucht hatten: politische Macht.

Historisch respektvoll umgesetzt

Von diesen Ereignissen in den ersten drei Monaten des Jahres 1965 handelt «Selma». Historisch detailgenau und dramaturgisch verdichtet. Was zum Beispiel bedeutet, dass historische Fakten und Ereignisse, die chronologisch nicht zu Selma gehören, in die filmische Erzählung einfliessen: das Bombenattentat auf eine Kirche in Birmingham 1963 etwa, dem vier Mädchen zum Opfer fielen. Oder die Tatsache, dass FBI-Direktor J. Edgar Hoover Martin Luther King seit Jahren – mit Wissen und Segen des Präsidenten – überwachte, ausspionierte und mit fabrizierten «Beweisen» zu diskreditieren suchte. Dazu zählten auch diverse Tonbänder, die Kings MitstreiterInnen und seiner Frau Coretta zugespielt wurden, mit angeblichen sexuellen Eskapaden des Pastors und Bürgerrechtlers.

Einige KritikerInnen zeigten sich empört darüber, dass der Präsident in «Selma» quasi als Auftraggeber dieser Tonbänder erscheine, doch das lässt sich aus der Montage des Spielfilms gar nicht herauslesen. Und wenn sie monieren, die Regisseurin habe Dokumente ignoriert, die zeigen würden, dass Johnson King stets unterstützt und sogar zum Protest in Selma angestiftet habe, dann könnte man ihr ebenso vorhalten, jene Schlüsselrede von King weggelassen zu haben, die er nach dem Mord an Jimmy Jackson in Selma gehalten hatte und die das Gegenteil nahelegt: «Er wurde ermordet von der Ängstlichkeit jener Bundesregierung, die täglich Millionen ausgibt, um Soldaten in Vietnam zu behalten, aber nicht fähig ist, das Leben ihrer eigenen Bürger zu schützen, die ihr Wahlrecht ausüben wollen.»

Festgehalten ist diese Rede von Martin Luther King im sechsten Teil der Dokumentarfilmserie «Eyes on the Prize» aus dem Jahr 1987, der für einen Oscar als bester Dokumentarfilm nominiert war. «Eyes on the Prize» macht auch deutlich, was Regisseurin Ava DuVernay aus historischer Perspektive allenfalls vorgeworfen werden könnte – nämlich, dass sie in ihrem Film zu sehr auf Martin Luther King fokussiert und darob ausblendet, welch zentrale Rolle die vielen lokalen Schwarzen bei den Protesten gespielt haben. «Selma» zeichnet ein so differenziertes Psychogramm von King, dass selbst die zahlreichen MitstreiterInnen Kings meist bloss dazu dienen, die Figur Kings aus einer weiteren Perspektive zu beleuchten.

Um komplexe historische Sachverhalte emotional packend zu vermitteln, ist der Fokus auf King sicher ein richtiger Entscheid der Regisseurin gewesen – nicht zuletzt dank des britischen Schauspielers David Oyelowo: Er hat der Versuchung widerstanden, den historischen Martin Luther King in seinem ganzen rhetorischen und gestischen Pathos einzufangen. Stattdessen hat er eine eigene, weit zurückgenommene, aber durchaus kraftvoll-subversive Interpretation des charismatischen Predigers entwickelt. Sie beeindruckt als Bekundung des Respekts gegenüber der historischen Figur ebenso, wie sie als schauspielerische Leistung überzeugt.

Diskriminierung wieder erlaubt?

Indem sich der Film auf die faszinierende Figur Martin Luther King konzentriert, rückt das eigentlich Revolutionäre an den Protesten in Selma in den Hintergrund: Sie verhalfen den Schwarzen in den Südstaaten zu politischer Macht. Das hat die politische Landschaft im Süden der USA nachhaltig verändert. Plötzlich konnten Schwarze ihre eigenen VertreterInnen in die Behörden wählen. Ohne Widerstand verlief das kaum je – doch der Voting Rights Act garantierte, dass schwarze WählerInnen nicht länger diskriminiert wurden.

Tatsächlich? John Lewis, 1965 als SNCC-Aktivist an vorderster Front in Selma dabei und heute demokratischer Kongressabgeordneter in Washington, berichtete im Februar 2013 in der «Washington Post» von unzähligen Gerichtsfällen wegen Wahldiskriminierung, die der Kongress im Jahr 2006 begutachtet hatte. Eine in Gebieten mit einer schwarzen Bevölkerungsmehrheit besonders beliebte Methode ist es etwa, die Grenzen der Wahlbezirke so zu verschieben, dass Weisse überproportional viele Sitze holen. Der Kongress kam deshalb 2006 fast einstimmig zum Schluss, der Voting Rights Act sei ein nach wie vor zentrales Gesetz, um Schwarze vor politischer Diskriminierung zu schützen.

Ausgerechnet der Oberste Gerichtshof sah dies im Juli 2013 anders: Er erklärte den zentralen Teil des Gesetzes für überholt und setzte ihn ausser Kraft. «Das Stimmrecht ist das mächtigste gewaltfreie Instrument einer Demokratie», schrieb Lewis. «Ich habe mein Leben riskiert, um dieses Recht zu verteidigen.»

Daran erinnert der Film «Selma» – nur leider zu spät. Umso ärgerlicher deshalb, weil es die Medien in den USA bislang verpasst haben, den skandalösen Entscheid des Obersten Gerichtshofs anlässlich des Films erneut aufs Tapet zu bringen. Und dabei die Frage aufzuwerfen, wie ein solcher Gerichtsentscheid ausgerechnet unter dem ersten schwarzen Präsidenten in der US-Geschichte möglich war.

Seit 19. Februar 2015 in den Kinos.

Selma. Regie: Ava DuVernay. USA 2014