Geschichtsdebatte: Raus aus der Hohlen Gasse

Nr. 13 –

Wenn jede Geschichtsschreibung zuerst etwas über die Gegenwart erzählt, in der sie geschrieben wird, dann ist offenkundig: Im Jahr 2015 tobt zwischen den rechten Milieus in der Schweiz ein heftiger Streit. Er dreht sich, trotz fortschreitender Wirtschaftskrise, allerdings nicht um ökonomische Fragen. Denn was die angeht, werden die alten Rezepte feilgeboten, und so applaudierten die bürgerlichen Parteien, als ausgerechnet der Chef einer vom Staat geretteten Grossbank einen Deregulierungspakt forderte. Wann war schon wieder die UBS-Rettung? Vor oder nach Marignano?

Nein, es geht im Streit um Deutungsmuster, um einen Kulturkampf, und entsprechend sind die Schauplätze die Medien und die Geschichte. Erstmals sichtbar wurde der Konflikt bei der freisinnigen «Neuen Zürcher Zeitung». Nur dank des Aufstands der Beschäftigten entging die Redaktion einer Übernahme durch die «Nationalkonservativen». Als solche fanden sich die Kreise um Christoph Blocher plötzlich bezeichnet, und Markus Somm als designiertem Statthalter blieb nur die verdutzte Frage: «Was heisst schon nationalkonservativ?»

Zuvor hatten er und der heutige «Weltwoche»-Politiker Roger Köppel sich Mühe gegeben, einen Schulterschluss zwischen SVP und FDP herbeizuschreiben. Die Übernahme der NZZ wäre eine Machtdemonstration zum Wahlauftakt gewesen. Bloss eben, irgendwo knirscht es rechts im Gebälk. Wo genau?

Nun also die zweite Auseinandersetzung. Thomas Maissen, Haushistoriker der NZZ, hat ein Buch vorgelegt, in dem er Mythen der Geschichte der Schweiz – anhand von Zitaten von Blocher und SVP-Bundesrat Ueli Maurer – mit den überlieferten Quellen konfrontiert. Dass Wilhelm Tell nicht in der Hohlen Gasse lauerte, sondern aus einer nordischen Legende stammt, oder die Schweiz den Zweiten Weltkrieg nicht im Alpenréduit, sondern wegen ihrer Kollaboration mit dem NS-Regime überstanden hat – all das ist schon länger bekannt.

Doch zieht sich eine interessante Spur durchs Buch: die Entwicklung der Freiheitsrechte. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit, führt Maissen aus, waren sie nur als Vorrecht einer Gruppe konzipiert, und entsprechend war Demokratie die Herrschaft von Vollbürgern über UntertanInnen. Erst mit der Verfassung von 1848 setzte sich die Vorstellung durch, dass alle Individuen gleich und frei seien. Maissen schreibt: «Wenn Armengenössige, Hintersassen, Fahrende, Juden, Frauen viel länger warten mussten, dann lag das daran, dass nur der männliche christliche Familienvorstand und Militärdienst leistende Vollbürger als freies Individuum galt.» Bis heute seien in der Schweiz vormoderne Freiheitsvorstellungen spürbar: «Verweigert wird die Freiheit denen, die in die Kategorie des Fremden fallen.»

Man darf, auch wenn man der Diskussion müde ist, nicht übersehen, dass die SVP in letzter Zeit noch extremer geworden ist: Ihre neue Initiative, die mit dem Propagandawort «Selbstbestimmung» in die Köpfe gehämmert wird, will nichts anderes als die Aufkündigung der Menschenrechtskonvention, die dem einzelnen Individuum Schutz vor staatlicher Verfolgung bietet. So gesehen ist es höchste Zeit, dass einzelne Bürgerliche mit historischem Bewusstsein aufwachen: Die vormoderne Attacke der SVP bedroht auch ihre Freiheitsvorstellungen im Kern.

Wenn zwei sich streiten, dann merken die historisch Neugierigen: Mit einer Rückkehr der Nationalgeschichtsschreibung wird es nicht getan sein. Wenn in Kommentaren gejubelt wird, dass endlich die kollektive Identität verhandelt werde, so ist das eine Reduktion der Geschichtsforschung auf Kulissenschieberei. Die nationale Engführung blendet soziale Konflikte sowie globale Verflechtungen aus. Die Industrialisierung beispielsweise, die mit zum Bundesstaat geführt hat, fehlt in Maissens Buch fast gänzlich, von den Maschinenkindern in den Spinnereifabriken bis zu den BaumwollsklavInnen in den Kolonien. Und wer, neben den ArbeiterInnen, zuerst aus der Geschichte fällt, wenn es nicht sowieso um ihren Ausschluss aus der Demokratie geht, ist auch klar: die Frauen und die Migranten.

Ob in der Geschichte oder in der Gegenwart: Wer dauernd von der Nation spricht, verpasst das Leben.