Migration: «Ohne Fluchthilfe gäbe es kein Asyl»

Nr. 13 –

Flüchtlinge, die nach Europa kommen, sind bei der Einreise meist auf fremde Unterstützung angewiesen. Schnell ist die Rede von skrupellosen Schleuserbanden. Aber was ist kriminelle Schlepperei? Und was legitime Fluchthilfe?

In Asmara schmierte Abigail H.* den Beamten auf der eritreischen Migrationsbehörde. Für 400 US-Dollar stellte er ihr einen Pass aus, obwohl sie ihren Militärdienst noch nicht beendet hatte. In Nairobi gab sie einem Mann 300 Dollar. Er erklärte ihr, wie sie die strengen Kontrollen am Flughafen überwinden könne und welcher Mitarbeiter sie ungehindert ins Flugzeug steigen lassen würde. Ihr Bruder liess ebenfalls Geld für sie springen, für ein kubanisches Visum, das ihr die Ausreise möglich machte – obwohl Kuba nie Ziel ihrer Reise war.

Abigail H. zahlte keine Schlepper im eigentlichen Sinn. Aber ohne die bezahlte Unterstützung dieser drei Männer hätte sie es wohl nicht in das Flugzeug geschafft, das sie in die Schweiz brachte. Das war vor drei Jahren.

«Ohne Fluchthelfer gäbe es kein Asyl mehr», sagt die Basler Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz, die nie von «Schleppern» spricht, egal ob diese für das, was sie tun, Geld verlangen oder nicht. Anni Lanz hat selbst immer wieder Menschen auf ihrer Flucht unterstützt und sie über die Grenze begleitet, entweder in die Schweiz oder in ein Nachbarland. Das sei aber alles lange vor dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens im Jahr 2008 gewesen, sagt sie. Damals war es abgewiesenen Asylsuchenden noch möglich, in einem anderen Land ein weiteres Asylgesuch zu stellen.

Heute geht das nicht mehr, obwohl sich die Anerkennungsquoten der verschiedenen Schengen-Staaten zum Teil stark unterscheiden. Hinzu kommt, dass Menschen auf ihrer Flucht durch Europa nun nicht mehr nur an den Grenzübergängen, sondern überall – auf der Strasse, in Bussen und Zügen – kontrolliert werden können. «Die Grenze hat sich von einer Linie zu einer Fläche ausgedehnt», sagt Lanz. In der Schweiz wohnhafte Personen können gemäss Ausländergesetz nun auch bestraft werden, wenn sie Menschen, die nie Schweizer Boden betreten haben, innerhalb des Schengen-Raums schleusen. Die grösste und gefährlichste Hürde für Flüchtlinge bleibt jedoch die Schengen-Aussengrenze, die Festung Europa.

Vermeintliche «Geisterschiffe»

Seit der Ratifizierung des Dublin-Abkommens im Jahr 2009 können Asylsuchende theoretisch nur noch per Flugzeug direkt in die Schweiz gelangen. Über Land würde der Weg über einen «sicheren Drittstaat» führen. Dort müssten sie ein Asylgesuch stellen, würden registriert und ihre Daten in der Datenbank Eurodac gespeichert. Dass dennoch die meisten Flüchtlinge auf dem Landweg in die Schweiz einreisen und teils direkt in den Empfangs- und Verfahrenszentren des Bundes vorstellig werden, führt das Bundesamt für Polizei (Fedpol) in erster Linie auf Schleppertätigkeiten zurück.

In einem Mitte Dezember 2014 publizierten Bericht hält das Fedpol fest, dass der gewerbsmässige Menschenschmuggel in der Schweiz nicht genug Aufmerksamkeit erhalte. Dieser wird mitunter für den Anstieg der Asylgesuche verantwortlich gemacht. So sollen gemäss einer im Bericht zitierten Schweizer Studie achtzig Prozent der befragten Asylsuchenden mithilfe von SchlepperInnen in die Schweiz eingereist sein. Und ausnahmslos alle Befragten gaben an, an irgendeinem Punkt ihrer Reise auf die Dienste von SchlepperInnen angewiesen gewesen zu sein. Das ist angesichts der Hochrüstung an der Schengen-Aussengrenze nicht weiter verwunderlich.

«Eine neue Stufe der Grausamkeit» titelten die Zeitungen Anfang Jahr, als über die sogenannten «Geisterschiffe» geschrieben wurde, die angeblich schrottreif und führerlos, von der Besatzung im Stich gelassen, auf dem Mittelmeer trieben und von der italienischen Küstenwache gerade noch gerettet werden konnten, bevor sie an den Felsen zerschellten. Die skrupellosen Menschenschmuggler hätten den Tod von Hunderten von Menschen in Kauf genommen, nur um sich selbst zu bereichern, berichtete die europäische Grenzschutzagentur Frontex.

Recherchen des deutschen Journalisten Stefan Buchen ergaben jedoch, dass das «Geisterschiff» Blue Sky M erstens vollkommen seetauglich und zweitens die Besatzung nie von Bord gegangen war. Erfahrene syrische Seeleute, die selbst auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg waren, hatten das Boot gesteuert. In Italien drohen ihnen nun bis zu sieben Jahre Haft. Frontex fand es auch nach Bekanntwerden dieser von der italienischen Staatsanwaltschaft bestätigten Tatsachen nicht nötig, ihre Informationspolitik über die «Geisterschiffe» zu revidieren. Denn solange es «skrupellose Schleuserbanden» sind, die Menschenleben aufs Spiel setzen, kann sich Frontex leichter als Retterin in der Not aufspielen.

Stefan Buchen hat auch ein sehr lesenswertes Buch geschrieben: «Die neuen Staatsfeinde. Wie Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden». Er zeichnet darin präzise den Fall des Syrers Hame Darwish nach, der zusammen mit fünf anderen Männern 270 syrischen Kriegsflüchtlingen half, nach Deutschland zu kommen. Darwish lebte bereits seit Jahren in Athen, als er immer wieder von Menschen aus seinem syrischen Heimatdorf um Hilfe gebeten wurde. Von Griechenland aus organisierte er deren Flucht nach Deutschland. Und er gibt offen zu, dass er dafür auch Geld verlangte, einerseits für die entstandenen Kosten, andererseits blieb ihm irgendwann auch keine Zeit mehr, einer sonstigen Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Darwish wurde nach seiner Auslieferung nach Deutschland 2013 wegen gewerbsmässigen Einschleusens von AusländerInnen vor dem Landgericht Essen zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Der Fall zeigt auf, wie verkürzt die Debatte um Schlepper in Europa geführt wird. Darwish war kein selbstloser Fluchthelfer, der aus rein ideellen Beweggründen handelte, er war aber auch kein profitgieriger Menschenhändler, der das Vertrauen der Flüchtlinge missbrauchte und sie ausbeutete.

Zur Flucht überredet

Die Kriminalisierung und Verunglimpfung jener Menschen, die anderen dabei behilflich sind, die Festung zu überwinden, Schlupflöcher zu finden, hindurchzukriechen, ist Bestandteil der europäischen und schweizerischen Abschottungspolitik. Sie werden nicht «Fluchthelfer» genannt, die Rede ist von «Schleppern», von kriminellen Schleuserbanden. Es sind die Schleusergruppen, die das Leben und die Sicherheit der migrierenden Menschen riskieren, nicht die europäischen Staaten, die mit der Aufrüstung an der Grenze, der Überwachung mit Drohnen, sogenannten Push-Back-Aktionen von Frontex auf dem Mittelmeer, dem Hochziehen von Zäunen und nicht zuletzt der Verschärfung von Gesetzen – wie jüngst in der Schweiz der Abschaffung des Botschaftsasyls – Geflüchteten eine menschenwürdige Einreise verunmöglichen.

Der Kampf gegen SchleuserInnen wird als Massnahme verkauft, die primär dem Schutz der Flüchtlinge dient. Um diese Erzählung zu stützen, wird so manches verkehrt. SchleuserInnen sind in erster Linie DienstleistungserbringerInnen. Glaubt man dem Bericht des Fedpol, sind sie jedoch aggressive Marketingfachleute. So beschreibt das Fedpol, wie Schlepper ihre KundInnen anwerben, ja geradezu dazu überreden, ihr kriegsversehrtes Land zu verlassen und nach Europa zu kommen: «Sehr häufig streuen die Schleuser Falschinformationen über die Situation im Zielland und wecken so die Hoffnung von zahlreichen Personen auf eine bessere Zukunft in Europa, bis sie sie dazu verleitet haben, ihr Herkunftsland zu verlassen.» Die kriminologischen Erhebungen einer deutschen Studie zeigen jedoch, dass nur in ungefähr acht Prozent der Fälle die Initiative von den SchlepperInnen ausgeht.

Die Kriminalisierung von Flucht und Fluchthilfe ist nichts Neues. Bekanntestes Beispiel ist wohl der St. Galler Flüchtlingshelfer und Polizeihauptmann Paul Grüninger, der Ende der dreissiger Jahre mehrere Hundert Flüchtlinge vor der Verfolgung durch die Nazis rettete und ihnen beim Grenzübertritt behilflich war. Zu Lebzeiten vom Dienst suspendiert, bestraft und als Krimineller verunglimpft, wurde er erst 1993 rehabilitiert – 21 Jahre nach seinem Tod.

Die Polizei bei der Erstbefragung

Migration wird nach wie vor in erster Linie als sicherheitspolitischer Aspekt verhandelt. Das zeigt etwa die Ansiedelung des Staatssekretariats für Migration (SEM, vormals Bundesamt für Migration) im Justizdepartement. Laut Bundeskriminalpolizei kommt es jedoch nur selten zu Verurteilungen wegen gewerbsmässigen Menschenschmuggels. Das soll sich nun ändern. Dem Fedpol schweben hierfür verschiedene Massnahmen vor. Neben der Ernennung von Expertinnen und der speziellen Schulung von Polizeiaspiranten schlägt es auch vor, die Kriminalpolizei von Anfang an ins Asylverfahren zu integrieren. So soll nach österreichischem Vorbild die allererste Befragung von Asylsuchenden von der Kriminalpolizei vorgenommen werden, um so Auskünfte über die «Schlepperbanden», ihre Methoden und Schleusungsrouten zu erhalten und diese konsequent verfolgen zu können.

Abigail H. sitzt in ihrer kleinen Einzimmerwohnung auf dem Bett und spielt mit ihrem Kind, während sie ihre Geschichte erzählt. Sie spricht vom Vater ihrer Tochter, einem Algerier. Wie sie sich im Durchgangszentrum kennengelernt hatten und sich verliebten. Wie die Schweiz ihn nach Italien zurückschickte und er doch immer wieder kam, um sie zu besuchen, um bei ihr und der gemeinsamen Tochter zu sein, bis er wieder verhaftet und nach Italien ausgeschafft wurde. Wie sie einmal selbst ohne gültige Reisepapiere über die Grenze nach Como fuhr, um ihn zu holen. Sie liess ihn den Kinderwagen schieben, als sie den Regionalzug nach Chiasso bestiegen. Die Polizei war da, doch beachtete sie sie nicht – ein Paar mit Kinderwagen und ohne Gepäck schien ihnen unverdächtig. Dass sie sich der Beihilfe zur illegalen Einreise schuldig gemacht hat, entlockt ihr bloss ein Schulterzucken.

Ohne Hilfe geht es nicht. Wer sich als Flüchtling nach und in Europa bewegen will, ist meist gezwungen, irgendwelche Gesetze zu brechen. Und darauf angewiesen, dass es auch andere tun. Das weiss Abigail aus eigener Erfahrung.

Vom 26. bis zum 29. März 2015 findet in der Roten Fabrik in Zürich die 11. Kritnet-Tagung statt. Einer der zahlreichen Workshops widmet sich der Frage 
der Kriminalisierung von Flucht(hilfe). Details zum Tagungsprogramm: www.kritnet.ch.