Mit Ska Keller im Europaparlament: «Ich vergeude keine Energie an die Antieuropäer»

Nr. 14 –

Das EU-Parlament gilt als politisches Abstellgleis. Und in der Öffentlichkeit sind fast nur jene Abgeordneten bekannt, die die EU eigentlich abschaffen wollen. Für Ska Keller von den Grünen ist es hingegen der schönste Arbeitsort der Welt und die einzige Institution, die die EU retten kann.

  • Engagiert: Ska Keller (Grüne) gehört zur Minderheit der EU-Abgeordneten, die sich auch während einer Debatte im Plenarsaal aufhält.
  • In einem der endlosen Flure des EU-Parlaments telefoniert Ska Keller mit einem deutschen Journalisten.
  • «Was läuft nächste Woche zum Thema?» Ska Keller und ihr Assistent Michael Bloss besprechen die Pressestrategie zum Freihandelsabkommen TTIP mit Ruth Reichstein, der Presseberaterin der Europäischen Grünen.
  • Ska Keller steht für das ARD-Magazin «Report Mainz» im Foyer des Plenarsaals vor der Kamera. In der Sendung am 17. März kritisiert sie die militärische Aufrüstung der europäischen Aussengrenze.

«Das Sicherheitspersonal des EU-Parlaments hat mich am Anfang oft für eine Praktikantin gehalten», sagt Ska Keller und schmunzelt. Obschon sie seit über fünf Jahren EU-Abgeordnete ist, winke sie das Sicherheitspersonal erst seit dem letzten Herbst durch. Damals ist die 33-jährige Brandenburgerin als gesamteuropäische Spitzenkandidatin der Grünen bei den Europawahlen angetreten. Gegen eine schwergewichtige Riege alter Männer: Ihre Gegner hiessen Jean-Claude Juncker (Christdemokraten), Martin Schulz (Sozialdemokraten) oder Guy Verhofstadt (Liberale). Die Aussenseiterin Ska Keller liess sich davon nicht beeindrucken. Sie profilierte sich im Wahlkampf nachdrücklich als Antinationalistin und überzeugte Europäerin, indem sie politische Fragen konsequent aus einer europäischen Perspektive beantwortete, während ihre männlichen Konkurrenten immer wieder die nationale Karte spielten, um auf Stimmenfang zu gehen.

Seither verkörpert Keller endgültig das linke Gegenstück zu den aufstrebenden antieuropäischen und nationalistischen Kräften am rechten Rand. Wie tickt und arbeitet die Politikerin? Woher kommt ihre europäische Perspektive? Wieso ist es kein Zufall, dass sie bei den Grünen ist? Die WOZ hat Keller zwei Tage lang bei ihrer Arbeit im Strassburger EU-Parlament begleitet.

Vormittag – Der Assistent

Dienstag, 10. März: Das Strassburger EU-Parlament (vgl. «Der 200-Millionen-Euro-Wanderzirkus» im Anschluss an diesen Text) ist ein Labyrinth, das aus unendlich vielen Korridoren und Büros, einem grossen Plenarsaal, mehreren kleineren Sälen und Bars mit scheusslichen Teppichen besteht. Als Medienvertreter wird man aber zunächst in das Pressezentrum gelotst: Ein ausladender zweistöckiger Saal mit unzähligen Arbeitsplätzen, die mit Monitoren ausgestattet sind, auf die die Debatten und Abstimmungen aus dem Plenarsaal übertragen werden. Gerade geht es um «Abmessungen und Gewichte von Strassenfahrzeugen». Das Interesse hält sich sowohl im Plenarsaal als auch im Pressezentrum in Grenzen.

Im Pressecafé am Ende des Flurs geht es lebhafter zu. Zwei Journalistinnen unterhalten sich beim Anstehen an der Bar angeregt auf Polnisch, die Bestellung geben sie auf Französisch auf. Vor ihnen hat ein eleganter Italiener seinen Espresso bereits erhalten. Er redet auf zwei Begleiterinnen ein und setzt sich dann an einen freien Tisch neben zwei britische Fernsehleute. Die fragen sich, ob Nigel Farage, der Parteichef der fremdenfeindlichen United Kingdom Independence Party (Ukip), wohl im Haus sei.

Dann taucht auch schon Michael Bloss auf. Der Assistent von Ska Keller bittet in ihr Büro, das im fünften Stock des kreisförmig angelegten Parlamentsgebäudes liegt. Keller selbst sitzt gerade im Plenarsaal, wo mittlerweile Detailabstimmungen zum aktuellen Budget anstehen, ehe um 12 Uhr Abdullah II. Bin al-Hussein, der König von Jordanien, eine Rede halten wird.

Michael Bloss ist einer von insgesamt fünf AssistentInnen, die für Ska Keller tätig sind. Er betreut schwerpunktmässig das Thema Handel und unterstützt Keller bei ihrer Arbeit im Handelsausschuss des Europäischen Parlaments. Zurzeit hat Bloss alle Hände voll zu tun, die Verhandlungen über die beiden Freihandelsabkommen Tisa und TTIP befinden sich im Endspurt. Im Handelsausschuss werden die Weichen gestellt, ob das EU-Parlament die Abkommen absegnet oder verwirft. «Das Rennen ist offen», sagt Michael Bloss, «aber Ska und die anderen grünen Mitglieder im Handelsausschuss arbeiten fieberhaft daran, dass Tisa und TTIP im EU-Parlament keine Mehrheiten finden.»

Mittag – «Nicht nur Opa für Europa»

«Ein furchtbarer Ort», sagt Ska Keller zur Begrüssung in der proppenvollen Kantine. Sie hat einen schweren Stand. Für sie als Vegetarierin gibt es genau ein Menü: einen pampigen Gemüseburger. Während des Essens bespricht Keller mit Michael Bloss eine Pressemitteilung zu Tisa, die am Nachmittag raus soll. Über ihr Smartphone gebeugt, geht Keller Satz für Satz durch. Ihre Anweisungen sind knapp und klar, der Text gewinnt an Schärfe. Der Europäische Rat hat das Verhandlungsmandat veröffentlicht. Das wird grundsätzlich begrüsst, doch die Veröffentlichung komme «spät und reicht nicht aus», heisst es in der redigierten Version: «Das Verhandlungsmandat ist nur ein Feigenblatt. Die wichtigen Dokumente aus den Verhandlungen, aus denen hervorgeht, was konkret beschlossen wird, sind nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Das verhindert eine demokratische Kontrolle der Verhandlungen und muss sich schnellstens ändern.»

Die Europäischen Grünen sind zusammen mit der Vereinigten Linken (nicht zu verwechseln mit den Sozialdemokraten) die vehementesten GegnerInnen der Freihandelsabkommen. Ihr Widerstand hat mehrere Gründe. «Erst mal fordern wir transparente Verhandlungen – also Zugang zu allen Dokumenten und detaillierte Informationen von der Kommission sowie die Einbeziehung von Zivilgesellschaft und Parlamenten in die Verhandlungen», so Keller. Zudem setzten sie sich für einen starken VerbraucherInnen- und Datenschutz ein, weil die Macht der Konzerne sonst fast uneingeschränkt wäre. «Schliesslich bekämpfen wir die geplanten Investorenschiedsgerichte, die es den Konzernen ermöglichen, Staaten zu verklagen.»

Nach dem Mittagessen gönnt sich Ska Keller einen Kaffee auf der hässlichen Betonterrasse neben ihrem Büro. Immerhin ist die Aussicht sehenswert. Am Horizont steht die Silhouette der Strassburger Altstadt, die Konturen des bekannten Münsters sind klar erkennbar. «Meine politische Karriere begann eigentlich mit einem Zufall», erzählt Keller. Als Gymnasiastin habe sie in ein Rhetorikseminar der Grünen Jugend reingeschaut. «Es hat gleich gefunkt. Ich dachte: ‹Boah, die sind ja wie ich.› Die Leute interessierten sich beispielsweise für den Tierschutz, der mir damals am Herzen lag.» Kurze Zeit später trat Keller der Partei bei und legte eine fulminante Karriere hin. In Brandenburg baute sie mit regionalpolitischer Basisarbeit erfolgreich die Partei auf – die Grünen sitzen mittlerweile im dortigen Landtag. Ihr Blick und ihr Engagement waren aber von Beginn an stark auf Europa gerichtet. Keller gründete 2004 in Rom die European Green Party mit, die erste gesamteuropäische Partei. Ausserdem war sie längere Zeit Sprecherin der Vereinigung Junger Europäischer Grüner (FYEG) in Brüssel. In diesem Umfeld fand Ska Keller ihr politisches Zuhause, und bis heute liegt hier ihre Machtbasis innerhalb der Partei. Es waren die Stimmen der jungen und europäisch ausgerichteten Grünen, die Keller im letzten Herbst zur grünen Spitzenkandidatin im Europawahlkampf machten. Über die FYEG lernte sie auch ihren heutigen Ehemann Markus Drake kennen, der zurzeit mitten im Wahlkampf fürs finnische Parlament steckt.

Wenig verwunderlich, dass Ska Keller sich für den europäischen Weg entschied, statt für den Brandenburger Landtag oder gar den Bundestag zu kandidieren. 2009 liess sie sich auf die Liste für die Europawahlen setzen und zog mit 27 Jahren ins EU-Parlament ein. Ihr Wahlmotto lautete: «Nicht nur Opa für Europa». Ihr europäischer Weg hat zwangsläufig zu einem europäischen Leben geführt. Keller pendelt ständig zwischen Brüssel, Strassburg, Berlin, Helsinki und Halle, wo sie ein Regionalbüro hat. Dazu kommen Vorträge, Konferenzen, Sitzungen oder Demos in vielen weiteren Städten.

Später Nachmittag – Aufruhr wegen Finnisch

Am Nachmittag stehen zunächst zwei Sitzungen an, die nicht öffentlich sind. Zuerst trifft sich die Innenausschuss-Arbeitsgruppe der Grünen. Dort geht es unter anderem um die Migrationspolitik – jenes Thema also, dem sich Ska Keller neben den Freihandelsabkommen am intensivsten widmet. Es folgt die Sitzung des Fraktionsvorstands, und anschliessend geht Keller im nahen Park mit ihrem Büronachbar Jan Philipp Albrecht joggen, dem zweiten Shootingstar der Europäischen Grünen. Albrecht hat sich vor allem als vehementer Datenschützer einen Namen gemacht (siehe WOZ Nr. 8/2015 ).

Der letzte Arbeitstermin von Keller ist um 18 Uhr die «Frasi»: die öffentlich zugängliche Fraktionssitzung. Hier suchen und formulieren die Europäischen Grünen ihre politischen Positionen. Die grüne Fraktion umfasst fünfzig Mitglieder aus siebzehn Mitgliedstaaten. Es ist die zweitkleinste der sieben Fraktionen im EU-Parlament – weit abgeschlagen hinter den ChristdemokratInnen (220 Mitglieder) und SozialdemokratInnen (191). Viele Abgeordnete haben ihre AssistentInnen mitgenommen, die in den hinteren Reihen des halbrunden Saals Platz nehmen. Es werden Kaffee und Tee serviert.

Rebecca Harms leitet die Sitzung. Die angesehene Parteiveteranin musste im letzten Jahr feststellen, dass die Jüngeren langsam, aber sicher an die Macht drängen. Allen voran ihre deutsche Parteikollegin Ska Keller. «Nachdem mich unsere europäische Parteibasis in der Onlinewahl zur Europa-Spitzenkandidatin bestimmt hatte, war es für mich naheliegend, auch in Deutschland an der Spitze der Grünen zu stehen», sagt Keller. Deshalb habe sie ihre eigentlich gesetzte Parteikollegin Rebecca Harms zu einer Kampfwahl um den ersten Listenplatz herausgefordert. «Ein bisschen was bleibt immer hängen, mein Gott! Aber wer in der Politik etwas erreichen will, muss nun mal nach gewissen Positionen streben», sagt Keller heute über die Kampfwahl, die sie schliesslich verloren hat. Sie nahm die Niederlage gelassen, im Wissen, dass ihr die Zukunft gehört.

Von solcher Kampfeslust ist an der Frasi nichts zu spüren, sie verläuft diszipliniert. Für etwas Aufruhr sorgt nur die finnische Abgeordnete Heidi Hautala, als sie sich erdreistet, in ihrer Muttersprache zu sprechen. Dem Selbstverständnis als europäische Partei entsprechend haben zuvor alle anderen Englisch gesprochen. Immerhin kommen nun endlich die DolmetscherInnen zum Einsatz, die in ihren Glaskabinen sitzen, die in die halbrunde Wand eingebracht sind. Ohne die DolmetscherInnen würde die EU mit ihren 28 Mitgliedstaaten mit 23 Sprachen nicht funktionieren. Allein in Strassburg sind während der Plenartage rund tausend ÜbersetzerInnen im Einsatz.

Erst gegen Ende wird die Diskussion lebhafter. Zunächst geht es um eine mögliche europäische Armee: eine Frage, die EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kürzlich in den Medien aufgeworfen hat. Viele Abgeordnete melden sich zu Wort, kaum ein Votum ist substanziell. Keller beteiligt sich nicht an der Diskussion. «Das Thema ist mir zu abstrakt», sagt Keller nach der Sitzung. «Eine europäische Armee bleibt völlig utopisch, solange sich Europa nicht mal auf eine gemeinsame Aussenpolitik einigen kann.» Spannender ist die abschliessende Debatte um «grüne Jobs» und eine «grüne Wirtschaft». Hier zeigt sich die Partei durchaus selbstkritisch. Sie habe es bisher nicht geschafft, den BürgerInnen zu vermitteln, was unter diesen Begriffen zu verstehen sei, heisst es. «Es gibt den Irrtum, dass es sich um Jobs für hoch qualifizierte Ingenieure handle. Das ist fatal», sagt ein französischer Abgeordneter. Ska Keller erzählt von ihren Erfahrungen im Europawahlkampf: «Ich habe den Leuten gesagt, es stecken gemäss Studien eine Million Jobs in der ‹grünen Wirtschaft›. Das war ein starkes Signal, damit konnten sie was anfangen. Wir müssen konkret sein.»

«Total easy, der Tag», sagt Keller, als sie kurz vor 21 Uhr das Parlamentsgebäude verlässt.

Morgen – Theater im Plenarsaal

Mittwoch, 11. März: Nach einer Joggingrunde am frühen Morgen beginnt der neue Arbeitstag um 9 Uhr im Plenarsaal. Neben Keller sind lediglich etwa 200 weitere Abgeordnete von den insgesamt 751 anwesend. Auch in den Sitzreihen der grünen Fraktion klaffen Löcher. Das wird sich erst um die Mittagszeit ändern, wenn Abstimmungen anstehen. Derweil eröffnet Kommissionspräsident Juncker die Plenarsitzung mit einem Ausblick auf den kommenden EU-Gipfel, bei dem es um die geplante Energieunion, die Ukrainekrise und die Lage in Griechenland gehen wird. Im Anschluss melden sich die Fraktionsvorsitzenden zu Wort, um die Parteipositionen im Hinblick auf den Gipfel zu erläutern. Die Redezeit ist strikt begrenzt, wer sie überschreitet, den stoppt Parlamentspräsident Martin Schulz erbarmungslos mit einer Glocke. Als Rebecca Harms spricht, reicht es gerade aus, um die Sanktionen gegenüber Russland als notwendig zu bezeichnen und mehr Support für die Ukraine zu verlangen.

Das rechte Lager übt sich den ganzen Vormittag über in Störfeuern. Ukip-Chef Nigel Farage drischt als Vertreter der Allianz für Direkte Demokratie in Europa uninspiriert auf die EU ein, worauf seine Parteijünger brüllen und wild auf ihre Pulte klopfen. Für noch mehr Unruhe sorgt der wild gestikulierende französische Front-National-Abgeordnete und Holocaustleugner Bruno Gollnisch, der mehrfach in die Schranken gewiesen werden muss.

Ska Keller ignoriert das Theater – wie die meisten im Saal. «Ich vergeude meine Energie im Parlament nicht an die Antieuropäer. Es gibt Wichtigeres zu tun», sagt sie. Dann erzählt sie mit süffisantem Lächeln, dass die EU-Antibetrugsbehörde gestern Ermittlungen gegen den Front National aufgenommen habe. «Die rechtsextreme Partei steht im Verdacht, zwanzig Mitarbeiter auf Kosten des EU-Parlaments zu beschäftigen, die eigentlich für die französische Partei arbeiten», so Keller. Es ist von 7,5 Millionen veruntreuten Euro die Rede. Kein Wunder, sei die Laune von Monsieur Gollnisch nicht sonderlich gut.

Vormittag – Vor der Kamera

Um 10.30 Uhr verlässt Ska Keller den Plenarsaal. Es steht ein Interviewtermin mit dem ARD-Politmagazin «Report Mainz» an. Der Reporter will wissen, in welchem Ausmass Rüstungskonzerne Einfluss auf die europäische Flüchtlingspolitik nehmen. Kellers Antwort ist deutlich: «Die Entscheidungen, ob wir Drohnen einsetzen wollen, ob wir Satelliten einsetzen wollen, die sind oft schon gefallen, wenn sie hier im Europäischen Parlament landen. Denn die Pilotprojekte sind längst gelaufen. Die Verträge sind längst unterschrieben. Das heisst, wir als Parlament können das hier nur noch abnicken.» Das sei nicht gerechtfertigt für die europäische Demokratie, die sie hier erschaffen und erhalten wollten. Das Parlament müsse zwingend früher in die Gesetzgebungsprozesse eingebunden werden.

Stattdessen werden die entscheidenden Weichen gemäss Keller in den sogenannten Expertengruppen gestellt: von BeraterInnen der zuständigen EU-Kommission. «Die sollten möglichst unabhängig sein, sind aber meist von privatwirtschaftlichen Interessenvertretern mit klaren Absichten durchsetzt», so Keller. Entsprechend sei die Stossrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik: «Die Grenzen werden mithilfe von Drohnen, Schnellbooten, Satelliten und Wärmebildkameras dicht gemacht. Die Rüstungs- und Technologiekonzerne sind die grossen Profiteure dieser milliardenschweren militärischen Aufrüstung, während das Mittelmeer zu einem Massengrab für die Flüchtlinge geworden ist.»

Keller fordert ein politisches Umdenken: «Wir brauchen humanitäre Visa für Flüchtlinge, mehr dauerhafte Niederlassungen, besonders für verletzliche Personen, sowie einfachere Möglichkeiten, Familien nachzuholen, und ein vernünftiges Einwanderungsgesetz für Menschen, die in der EU arbeiten wollen.» Zudem brauche es eine neue Regelung der Verantwortlichkeit: «Das heutige System überfordert die südlichen Küstenstaaten der EU wie Italien, Griechenland und Malta, wo die Mehrheit der Flüchtlinge ankommt und gemäss Gesetz auch bleiben muss. Wir brauchen dringend ein Asylsystem, das alle Mitgliedstaaten in die Verantwortung nimmt.»

«Zwei Erfahrungen haben mein politisches Bewusstsein nachhaltig geprägt», sagt Keller. «Ich habe meine Kindheit in einem totalitären Staat und meine Jugend in einer Stadt mit vielen Nazis verbracht.» Ska Keller ist in der ehemaligen DDR in der Kleinstadt Guben an der deutsch-polnischen Grenze aufgewachsen. Ihr Elternhaus sei nicht sonderlich politisch gewesen, sie hätten nicht direkt unter der Staatsrepression gelitten. «Ich habe vor allem das Gefühl der fehlenden individuellen Freiheit mitgenommen. Sie ist heute ein zentraler Wert für mich.» Nach dem Mauerfall 1989 blieb der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung in der Region aus, stattdessen grassierte der Rassismus. Er gipfelte im Februar 1999 in einer Attacke von Rechtsextremen auf drei Flüchtlinge, die für den 28-jährigen Algerier Farid Guendoul tödlich endete. «Die Nazis waren in den neunziger Jahren in Guben sehr präsent. Sie waren in meiner Schulklasse, sie lungerten in der Stadt herum. Wer sich antirassistisch engagierte, musste unter Umständen rasch abhauen, wenn die Nazis auftauchten. Es war wichtig, dass die Fahrradreifen immer gut aufgepumpt waren», erzählt Ska Keller. Heute hätten sich die Zustände zum Glück geändert. Sie war erst kürzlich mal wieder in Guben an einer Antinazidemo: «Es war grossartig. 300 Einheimische protestierten gegen eine Gruppe von 30 Nazis, die mehrheitlich von auswärts kamen.»

Nachmittag – In die Presse

Der Nachmittag steht ganz im Zeichen von Kellers Arbeit im Handelsausschuss. Wiederum geht es um die geplanten Freihandelsabkommen. Am 18. April ist ein globaler Aktionstag gegen TTIP und Tisa geplant. Er wird dezentral organisiert, es gibt also keine grosse Demonstration an einem bestimmten Ort, sondern eine Vielfalt von Aktionen an möglichst vielen Orten (weitere Infos auf www.globaltradeday.org). Keller und Bloss treffen Ruth Reichstein, die deutschsprachige Presseberaterin der Europäischen Grünen. Mit der ehemaligen «taz»-Redaktorin gehen sie ihre selbst erstellte Agenda mit themenrelevanten Ereignissen durch. «Nächste Woche wird die zuständige EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström über die internationalen Schiedsgerichte informieren», sagt Bloss. «Sie wird beschwichtigen und die Bedeutung der Schiedsgerichte herunterspielen. Da müssen wir dagegenhalten», erwidert Keller. «Gut, wir bereiten eine Pressemitteilung vor», sagt Reichstein.

Neben den Freihandelsabkommen kommt am Nachmittag ein weiteres Thema auf: die sogenannten Konfliktmineralien, Rohstoffe also, die in Konfliktregionen angebaut oder gefördert werden. Die grünen Mitglieder im Handelsausschuss arbeiten zurzeit intensiv daran, ihre KollegInnen davon zu überzeugen, dass Rohstofffirmen zur Transparenz verpflichtet werden müssen, woher ihre Rohstoffe stammen. Bisher sieht die EU-Gesetzgebung lediglich eine freiwillige Transparenz vor.

Der Arbeitstag von Keller endet heute nicht nach der Frasi, sondern wesentlich später. Sie darf im Plenarsaal zur Debatte über «die Zunahme von Antisemitismus, Islamophobie und gewalttätigem Extremismus» ein kurzes Votum halten. Um 23 Uhr ist es so weit. Keller liefert ein zweieinhalbminütiges Plädoyer gegen jede Art von Rassismus – auf Englisch natürlich.

Ska Keller brennt für Europa, und sie hält das EU-Parlament für den demokratischsten Ort innerhalb der Institutionen, auch «weil wir als kleine Fraktion wirklich viel erreichen können». Kellers bisher grösster Erfolg war, dass sie im Europaparlament der Grenzschutzagentur Frontex vor vier Jahren eine Menschenrechtsbeauftragte aufzwang. Und 2012 haben die EU-Abgeordneten das Urheberrechtsabkommen Acta in einer «demokratischen Sternstunde» abgelehnt. Gemeinsam mit ihrer Partei fordert Keller nun auch bei TTIP ein volles Mitentscheidungsrecht. «Bisher kann das EU-Parlament solche Abkommen am Ende nur abnicken oder ablehnen. Aber es kann die Verhandlungen nicht selbst beeinflussen. Wir bekommen ja nicht einmal alle Verhandlungsdokumente zu sehen. Dieser blinde Fleck in der europäischen Demokratie gehört endlich abgeschafft.»

Viel mehr, als Keller jetzt für ihre Partei und die grünen WählerInnen leistet, liegt an diesem Ort aber nicht drin. Das weiss sie selbst auch: «Ich will nicht mein Leben lang hier sitzen. Aber was danach kommt? Tja, mal schauen, ich habe keinen Zehnjahresplan. Aber ich werde immer ein politischer Mensch bleiben.»

EU-Parlament in Brüssel und Strassburg : Der 200-Millionen-Euro-Wanderzirkus

Einmal im Monat zieht das Europaparlament für vier Tage von Brüssel ins elsässische Strassburg um. Mehr als 4000 Personen treten die 400 Kilometer lange Reise an: 751 Abgeordnete, ihre AssistentInnen, Dolmetscherinnen und Lobbyisten. Die schwarze Plastiktruhe, in der für alle Abgeordneten Protokolle, Entwürfe und Berichte transportiert werden, ist zum Symbol für diesen Wanderzirkus geworden, der gemäss NZZ jährlich etwa 200 Millionen Euro an Steuergeldern kostet und etwa 19 000 Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre bläst.

«Wir Abgeordneten haben 2013 mit grosser Mehrheit beschlossen, dass wir nicht mehr zwischen Brüssel und Strassburg pendeln wollen», sagt die Grüne Ska Keller und verdreht die Augen. «Der monatliche Umzug des ganzen Trosses ist ein Irrsinn, ökologisch und finanziell gesehen.» Auch ihren Assistenten Michael Bloss nervt der monatliche Umzug: «Die Hotelpreise während der Plenarwoche in Strassburg sind horrend hoch, ich muss mir während der vier Tage eine teure Wohnung leisten.»

Dumm nur: Das EU-Parlament hat keine Befugnis, über die Standortfrage zu entscheiden. Diese ist im Vertrag von Amsterdam geregelt, der 1997 unterzeichnet wurde. Die Verantwortung dafür trägt der Europäische Rat, also die StaatschefInnen. Nur der Rat kann die Standortfrage klären, Entscheide müssen einstimmig gefällt werden. Und da liegt das Problem: Frankreich blockt standhaft sämtliche bisherigen Versuche, das EU-Parlament auf einen Standort zu beschränken.

So bleibt die absurde Pendelei ein Symbol dafür, woran die EU krankt: Im mächtigen Rat fällen die StaatschefInnen ihre Entscheidungen allzu oft im nationalen statt im europäischen Interesse – ein Steilpass, den die antieuropäischen Kräfte nur allzu gerne aufnehmen, um die angebliche Unfähigkeit der EU zu belegen.

Jan Jirát

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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