Schweizer Filme im Ausland: Aber bitte nicht zu selbstkritisch!

Nr. 14 –

Empörung auf der Botschaft, Aufregung in Bern: 1973 sorgten Schweizer Filme in der Sowjetunion für rote Köpfe. Doch ein aktueller Fall zeigt: Die Haltung der offiziellen Schweiz bei kritischen Filmen ist heute nicht offener als zur Zeit des Kalten Kriegs.

Ein alter Schweizer Softporno? Nein, es war Bruno Soldinis Film «Storia di confine», der 1973 an den Moskauer «Wochen des Schweizer Films» für Aufregung sorgte – allerdings in der Schweiz. ©  Collection Cinémathèque suisse.

Die Kritiken waren hervorragend. Die Presseagentur Nowosti hob besonders die «realistische Ausrichtung der schweizerischen Filmkunst» hervor und lobte das Bestreben der Filmemacher, «den sozial en Problemen des Lebens auf den Grund zu gehen und nicht Werbung im Stil schöner Postkarten für Touristen zu betreiben».

Die Rede ist von den «Wochen des Schweizer Films», die im November des Jahres 1973 in der damaligen Sowjetunion veranstaltet wurden. In Moskau, Leningrad und Tiflis wurden fünfzehn zeitgenössische Filme gezeigt: Werke wie «La Salamandre» von Alain Tanner, «Les Arpenteurs» von Michel Soutter, «Le Fou» von Claude Goretta, Kurt Frühs «Dällebach Kari», Maximilian Schells «Erste Liebe» und «Siamo italiani» von Alexander J. Seiler. Als offizielle Delegation begleiteten die Regisseure Seiler, Markus Imhoof und Yves Yersin die Filmvorführungen in der Sowjetunion.

Die in den sowjetischen Metropolen völlig unbekannten Schweizer Filme stiessen auf ein gewaltiges Publikumsinteresse. Zehntausende besuchten die Vorstellungen. Grund dafür, so der Diplomat Willy Hold, der den Vorführungen als Botschaftsvertreter beiwohnte, war dabei wohl weniger ein spezifisches Interesse an der helvetischen Filmszene als ganz allgemein das «Spectaculum aus einem unzugänglichen Kulturbereich, welches auf weite Kreise besonders der städtischen Bevölkerung eine mit Neugierde gepaarte Faszination hervorruft, trotz oder vielleicht gerade wegen der zur Genüge bekannten offiziellen Propaganda». Bereits gingen Anfragen ein, die Werke nach Ende der Filmwoche in weiteren Städten wie Taschkent in die Kinos zu bringen. Ein schöner Erfolg für die «Kulturwerbung» im Ausland – könnte man meinen.

«Völlig verfälschter Eindruck»

Weit gefehlt: Die Botschaft in Moskau war irritiert ob der Auswahl der gezeigten Filme, die «unser Land praktisch ausnahmslos in einem sehr negativen Lichte zeigen». Das sowjetische Publikum, einheimische Propagandablockbuster gewohnt, sei «in keiner Weise in der Lage, solche Filme, über welche auch in der Schweiz verschiedene Meinungen bestehen dürften, intellektuell zu verarbeiten», so Hold.

Im Zentrum der Kritik standen zwei Produktionen: einerseits «Black Out» von Jean-Louis Roy über ein paranoides altes Ehepaar, das sich in seinem Haus einbunkert und von der Aussenwelt abschottet – eine Allegorie des Genfer Regisseurs auf den Isolationismus der Schweiz. Besonders übel stiess den Diplomaten jedoch «Storia di confine» des Tessiner Filmemachers Bruno Soldini auf. Seine «Grenzgeschichte» behandelt eine fiktive Episode an der Schweizer Südgrenze im Herbst 1944: Ein junger Schweizer Grenzsoldat erschiesst einen italienischen Schmuggler und wird kurz darauf von zwei Kontrabanditen ermordet. Alarmiert kabelte Hold nach Bern: Bei Soldinis Film handle es sich um eine tendenziöse, «krasse Verzerrung der Darstellung der Tätigkeit des schweizerischen Grenzwachtkorps». Der Film erwecke einen «völlig verfälschten Eindruck von den sozialen Verhältnissen und von den Beziehungen zwischen Bürger und Staat».

Dabei war es doch Jean de Stoutz gewesen, der Schweizer Botschafter in Moskau, der die Filmwochen überhaupt initiiert hatte – als Kooperation zwischen dem Filmarchiv in Lausanne, der Kulturstiftung Pro Helvetia und dem sowjetischen Staatskomitee für Kinematografie. Und de Stoutz hatte explizit gewünscht, die Schweiz solle nicht nur als «Zentrum der Technologie», sondern auch als «schöpferische Kulturnation» vermittelt werden. Kurz vor Beginn der Filmwoche jedoch war er, nach über dreissig Jahren im Dienst der Eidgenossenschaft, im Amt verstorben. Seine Gattin Claude de Stoutz-Ott verliess noch während der Vorführung von «Storia di confine» als Zeichen des Protests den Saal. In einem persönlichen Brief an Ernesto Thalmann, den Generalsekretär des Politischen Departements (EPD, heute EDA), schrieb sie empört, dass da ein «betrübliches Bild unseres Landes» vermittelt werde. «Wir sind keine Engel, aber in diesem Land ein derart marodes Bild der Schweiz auf die Leinwand zu bringen, ist skandalös, und ich glaube nicht, dass Jean dies zugelassen hätte.» Man brauche nicht ausgerechnet in der Sowjetunion, wo jede freie Meinungsäusserung unterdrückt werde, seine schmutzige Wäsche zu waschen, so der Unterton. Dass gerade ein Film über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zum Skandal gereichte, spricht für sich.

Die Zentrale in Bern war aufgeschreckt. Thalmann notierte prompt: «Ich bin der Meinung, dass dieser Unfug sofort abgestellt werden sollte – mit oder ohne Einwilligung der Pro Helvetia!» Auch altgediente «Kenner der russischen Verhältnisse» im EPD schlossen sich der Meinung der Botschaft in Moskau an, die Vorführungen sollten ausgesetzt werden. «Storia di confine», das Corpus Delicti, hatte zu diesem Zeitpunkt notabene keiner der Verantwortlichen gesehen. Auch nicht Lukas F. Burckhardt, Chef der Sektion für kulturelle Angelegenheiten des EPD. In einer Notiz, die gar auf dem Schreibtisch des Departementsvorstehers, des Neuenburger SP-Bundesrats Pierre Graber, landete, bemühte er sich gleichwohl um eine Situationsanalyse. Einzelne Filme aus der Zirkulation in der Sowjetunion herauszuziehen, war seines Erachtens «nicht opportun», könnte es doch den «Eindruck einer Zensur der schweizerischen Filmschaffenden und der in ihrer kulturpolitischen Tätigkeit unabhängigen Stiftung Pro Helvetia» erwecken und Anlass zu einer «entsprechenden Pressepolemik» bieten, warnte Burckhardt: «Würden wir aber damit nicht unsere eigenen freiheitlichen Grundsätze aufgeben und uns das Gesetz des Handelns von einer uns innerlich fremden Mentalität aufzwingen lassen?»

Austausch von «Menschen und Ideen»

1973 war die Hochzeit der sogenannten Entspannungspolitik. Die verfeindeten Blöcke um Moskau und Washington traten in einen zaghaften Dialog. In Genf hatte gerade die Verhandlungsphase der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa begonnen, wo neben sicherheitspolitischen Fragen auch der Austausch von «Menschen und Ideen» zwischen Ost und West auf der Agenda stand. Die heisse Phase des Kalten Kriegs war auch in der Schweiz vorbei, die Exportindustrie entdeckte die Sowjetunion als riesigen Absatzmarkt. Bilaterale Abkommen förderten den Austausch nicht nur von Technologien, Investitionen und Gütern, sondern erleichterten auch den Zugang zu kulturellen Angeboten. «Ohne Rücksicht auf uns lieb gewordene Gewohnheiten», so Burckhardt, «stellt uns das Schicksal brutal vor die Notwendigkeit, immer enger mit Menschen und Völkern einer uns fremden Art irgendwie freundschaftlich zusammenzuleben, d.h. mit ihnen auch kulturelle Beziehungen zu pflegen.»

Tatsächlich herrschten in der Sowjetunion der Breschnew-Ära auch in der Kulturpolitik eisige Erstarrung und rigide Kontrolle durch die Parteioberen. Freie und unabhängige Ideen konnten die Menschen nur über subtile subversive Zwischentöne einbringen – oder sie mussten sie gänzlich im Geheimen und in der Illegalität ausleben. Im Vergleich dazu hatte sich in der bürgerlichen Schweiz im Gefolge von 1968 eine regelrechte Kulturrevolution ereignet. Der junge zeitgenössische Film war eines der Felder, in denen gesellschaftliche und politische Prozesse reflektiert und offen kritisiert wurden. In der jüngeren Generation Schweizer Filmschaffender gebe es niemanden mehr, «dessen Grundhaltung gegenüber unserem eigenen Wesen nicht ausgesprochen selbstkritisch wäre», wurde im Rahmen einer Krisensitzung festgehalten, die man auf Geheiss von Bundesrat Graber einberufen hatte. Die Präsentation in Moskau bedingte deshalb «zwangsläufig den Einschluss des sozialkritischen Elements». Sowohl die Pro Helvetia, die Sektion Film des Eidgenössischen Departements des Innern wie auch – nachdem sich Burckhardt den Film angesehen hatte – die Kultursektion des EPD gaben sich dabei nun einmütig überzeugt, dass die in «Storia di confine» enthaltene «unvoreingenommene Kritik an gewissen Erscheinungen in unserem Lande in keiner Weise landesschädigend» sei. Die Vorbehalte der Botschaft, so der Konsens, würden «der sachlichen Grundlage entbehren».

«Enttäuschung und Desinformation»

Die Besprechungen und auch ein differenzierter Bericht aus Moskau ergaben, dass die Filmwochen zwar in vielerlei Hinsicht optimaler ausgestaltet hätten werden können. Die Übersetzung der Filme war oft mangelhaft, sodass etwa der Eindruck entstand, bei den Deutschschweizer Grenzwächtern in «Storia di confine» handle es sich um deutsche Besatzungstruppen. Einführende Vorträge von Experten hätten das Publikum vorbereiten und das Ausmass an «Verständnislosigkeit, Verwirrung, Enttäuschung, ja Desinformation» begrenzen können. Man wolle ja keine «schönfärberische Propaganda» betreiben, allerdings auch keinen «überwiegend negativen Eindruck» hinterlassen. Nachdem sich die Wogen etwas geglättet hatten – die Filme wurden nicht abgesetzt und das sowjetische Interesse verflog schnell –, hatte sich aus der Affäre eine spannende Grundsatzdebatte darüber entwickelt, «inwiefern ein selbstkritischer Schweizer Film ausserhalb des Bereichs der sogenannten ‹Wohlstandsgesellschaft› richtig verstanden und gewürdigt werden kann». Abschliessend geklärt wurde diese Frage seither wohl nie.

Ein gewisser Wandel trat wohl aber ein: Markus Imhoof, der 1973 zur Schweizer Delegation in der Sowjetunion gehörte, erinnert sich im Gespräch mit der WOZ, wie erstaunt etwa das chinesische Publikum zu Beginn der achtziger Jahre darauf reagierte, dass der Schweizer Botschafter in Beijing ganz selbstverständlich die Präsentation von Imhoofs Film «Das Boot ist voll» (ebenfalls eine Grenzgeschichte aus dem Weltkrieg) einleitete. Er sei immer schon der Ansicht gewesen, man könne «neben Schoggi und Uhren auch Meinungsfreiheit exportieren», so Imhoof. Umso mehr irritiert, dass heute wieder zur Disposition zu stehen scheint, ob der Export gewisser kritischer Filme überhaupt von staatlichen Stellen unterstützt werden soll (vgl. «Eine Form von Zensur» im Anschluss an diesen Text). Dass hierbei wieder eine Art Grenzgeschichte Stein des Anstosses ist – ein Zufall?

Die Notiz an Bundesrat Pierre Graber wird in Band 26 der Aktenedition «Diplomatische Dokumente der Schweiz» abgedruckt (erscheint 2015). Die zitierten Dokumente sind als PDF-Faksimile online abrufbar: www.dodis.ch/38766, www.dodis.ch/38796, www.dodis.ch/39263 und www.dodis.ch/38797.

«Eine Form von Zensur»

Aus Gabun gab es 2013 bereits eine offizielle Einladung für «Vol spécial» (2011), Fernand Melgars preisgekrönten Dokumentarfilm über abgewiesene Asylbewerber, die im Gefängnis auf ihre Ausschaffungsflüge warten. Doch dann wollte Präsenz Schweiz, die PR-Agentur des Eidgenössischen Departements des Äusseren (EDA), die Aufführung des Films im westafrikanischen Land nicht unterstützen.

Im Herbst 2014 äusserte der Westschweizer Filmemacher gegenüber den Medien dann auch Zweifel, ob Präsenz Schweiz nun Aufführungen von «L’abri» (2014), dem letzten Teil seiner Trilogie über das Schweizer Asylwesen, im Ausland unterstützen würde. «Eine Institution, die diese Art von Filmen nicht ins Ausland schicken will, betreibt eine Form von Zensur», so Melgar. Nicolas Bideau, früher Filmchef des Bundesamts für Kultur und jetzt Direktor von Präsenz Schweiz, wollte sich dazu nicht äussern und liess verlauten, es liege noch kein offizielles Gesuch für die Unterstützung von «L’abri» vor.

Gegenüber der WOZ kritisierte Melgar, dass die Unterstützung von Kulturprojekten durch das EDA seit einer Umstrukturierung 2012 von Bideaus Dienststelle für Imageförderung abhänge. Diese sei an kritischen Inhalten wenig interessiert.