Russland: Was rumpelt denn da im Kreml?

Nr. 16 –

Aus dem stets diskreten Kreml ist von Spannungen innerhalb des Machtzirkels zu hören. Wer steht dahinter? Und was bedeuten sie für Präsident Wladimir Putins Zukunft?

Winston Churchill soll die Machtkämpfe in der Sowjetunion einmal mit zwei unter einem Teppich kämpfenden Bulldoggen verglichen haben. Von aussen sei nur das Knurren zu hören. Wenn die Knochen herausflögen, sei klar, wer gewonnen habe, so der britische Staatsmann.

Diese Analogie ist auch heute noch aktuell. Konflikte in der Moskauer Machtelite werden grundsätzlich hinter den Kulissen ausgetragen. In den letzten Wochen drangen jedoch immer mehr Gerüchte an die Öffentlichkeit. Sie lassen darauf schliessen, dass unter dem Teppich gerade die Fetzen fliegen.

Zuletzt zeigten sich die Spannungen bei den Ermittlungen zum Mord am Regierungskritiker Boris Nemzow. Bereits kurz nach der Tat hatten die russischen ErmittlerInnen eine Spur gefunden. Sie führte ins Umfeld des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow (siehe WOZ Nr. 11/2015 ). Die Behörden nahmen mehrere Verdächtige kaukasischer Abstammung fest. Einer der Männer, Zaur D., hatte kurz zuvor noch Kadyrows Privatarmee angehört. Dass der tschetschenische Präsident seine schützende Hand über den 32-Jährigen hielt und ihn als «wahren Patrioten» bezeichnete, heizte die Spekulationen in der russischen Presse über Hintermänner und Mordmotiv noch mehr an.

Kadyrow – in Moskau unbeliebt

Der für gewöhnlich gut informierte Journalist Oleg Kaschin schrieb, eine Fraktion innerhalb des russischen Geheimdienstes FSB habe die Spur gelegt, um Kadyrow zu diskreditieren. Dafür spricht nicht zuletzt, dass seit kurzem vermehrt Informationen aus dem FSB an die Öffentlichkeit gelangen. So publizierte die kremlkritische «Nowaja Gaseta» Hinweise zum Ermittlungsstand, die aus Geheimdienstquellen stammen müssen. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Presse in Russland faktisch nicht frei ist und Dokumente selten geleakt werden, wenn sie nicht speziellen Interessen dienen.

Dass Kadyrow in Moskau mehr Feinde als Freunde hat, ist kein Geheimnis. Seit seinem Machtantritt hat der 38-Jährige die einstige Unruheprovinz Tschetschenien zwar stabilisiert und sich damit Wladimir Putins Loyalität gesichert. Dieser zahlt dafür jedoch einen hohen Preis. In den letzten Jahren schuf Kadyrow in Tschetschenien einen rechtsfreien Raum, in dem er tun und lassen kann, was ihm beliebt – und in dem auch der FSB nur noch wenig zu sagen hat. Ein Umstand, der den Geheimdienst verärgern dürfte.

Zuletzt schien sich der Lokalherrscher immer mehr der Kontrolle des Kremls zu entziehen. Kadyrow hat sich mit einer Privatarmee umgeben, die ihm bedingungslos ergeben ist. KritikerInnen liess er immer erbarmungsloser verfolgen, auch auf den Strassen Moskaus sind politische GegnerInnen vor seinem Zorn nicht mehr sicher. Dazu wird sein Machtanspruch immer grösser: BeobachterInnen zufolge drängt Kadyrow immer mehr auch in die Moskauer Machtzirkel. «Der Kreml hat einen Drachen grossgezogen und muss ihn jetzt konstant füttern, damit er kein Feuer spuckt», schrieb die 2006 ermordete Journalistin Anna Politkowskaja bereits 2004 in der «Nowaja Gaseta». Was damals galt, ist heute aktueller denn je.

Falls Kadyrow seinen Machtappetit nicht bald zügelt, wird Putin sich wohl entscheiden müssen: zwischen dem tschetschenischen Herrscher und dem FSB, der Kadyrow für unberechenbar – und damit gefährlich – hält.

Putins Herrschaft gerät jedoch anscheinend auch an anderen Fronten ins Wanken. Dies zeigte sich zuletzt im März, als der Präsident mehr als eine Woche von der Bildfläche verschwand. Wilde Gerüchte machten die Runde: Von fortgeschrittener Krebserkrankung war die Rede, von der Geburt eines unehelichen Kindes in einem Schweizer Spital und von gescheiterten Putschversuchen im Kreml. Dass ein Präsident, der mit Kranichen fliegt oder sich mit nacktem Oberkörper auf dem Rücken eines Pferdes ablichten lässt, mit Grippe im Bett liegen könnte: im russischen Spekulationsuniversum unmöglich.

Eine Aussage von Gejdar Dschemal, Politologe und Gründer des russischen Islamischen Komitees, hielt sich besonders lange. Dschemal, der eine gewisse Neigung zu Verschwörungstheorien hat, vermutete einen «Patruschew-Coup». Demnach soll der ehemalige Geheimdienstchef und Sekretär des russischen Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, hinter einer versuchten Palastrevolution – dem Versuch, den Herrscher im Kreml «zu neutralisieren» – stehen. Auch wenn Dschemals These mit grosser Vorsicht zu geniessen ist: Es gibt verschiedenste Anzeichen, dass Putins Stuhl wackelt. Womöglich nahm Kadyrow sogar die Zukunft vorweg, als er auf Instagram mitteilte, er werde Putin immer treu bleiben – egal ob dieser sein Amt behalte oder nicht.

Bereits vor einigen Jahren sprachen die kremlnahen Politologen Jewgeni Mintschenko und Kyrill Petrow in einer Studie vom sogenannten Politbüro 2.0. Sie widersprachen der – gerade im Westen – weitverbreiteten Annahme, wonach der Präsident allein die Fäden in der Hand hält. Viel mehr existiere «ein Konglomerat aus Clans und Gruppen, die um die Ressourcen des Landes konkurrieren». Das Politbüro 2.0 sei eine neue Version der Strukturen in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Der Präsident spiele in dieser Konstellation den Moderator, sorge für Stabilität und bringe die unterschiedlichen Interessen unter einen Hut.

Die mächtigen Männer im Hintergrund lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Zum «liberal-technokratischen» Lager gehört etwa Ministerpräsident Dmitri Medwedew. Das andere Lager sind die sogenannten Silowiki – Vertreter von FSB und Armee, die Hardliner im Machtapparat. Zu ihnen sollen unter anderem Vizeministerpräsident und Ölkonzernmanager Igor Setschin, FSB-Chef Alexander Bortnikow und der des Coups verdächtigte Nikolai Patruschew zählen.

«Bei uns gibt es ja keine Paläste»

Dass zwischen diesen beiden Gruppen nicht immer eitel Sonnenschein herrscht, ist nicht neu. Immer wieder war von Machtkämpfen in der russischen Politiklandschaft die Rede. Zusätzlich befeuern die hausgemachte Wirtschaftskrise, der Krieg in der Ukraine und die westlichen Sanktionen die Konflikte – und sorgen für Instabilität. Und je instabiler das System, desto schlechter lassen sich die Spannungen im Machtapparat kontrollieren.

Gemäss dem US-Politologen Mark Galeotti basiert die Stabilität des Regimes auf zwei Pfeilern: der Zufriedenheit im Volk und der Einigkeit in der Elite. Vor allem der zweite Pfeiler gerate im Moment ins Wanken, so der Russlandkenner kürzlich in einem Interview mit dem Sender Radio Free Europe / Radio Liberty (RFERL).

Als Putin 2014 an seiner jährlichen Pressekonferenz gefragt wurde, ob er eine Palastrevolution im Kreml fürchte, verneinte der Präsident noch. «Nein, bei uns gibt es ja keine Paläste», sagte er. Bisher sitzt Putin tatsächlich noch im Kreml. Doch dass der Konflikt mit dem Westen und die Auseinandersetzungen im Inneren Putin nicht nur nützen, ist nicht von der Hand zu weisen.