Offener Brief: Willkommen! Für ein Befreunden mit dem Fremden

Nr. 20 –

Wir brauchen einen anderen Blick auf die Einwanderung. Wie dieser aussehen könnte, schreibt unser Autor in einem Brief, den er an den Solothurner Literaturtagen vortragen wird.

Sehr geehrte Bundesräte und Bundesrätinnen,
sehr geehrte Parlamentarier und 
Parlamentarierinnen, sehr geehrte SRG-Direktion und Bildungsdirektoren

Die täglichen Schreckensmeldungen von Ertrinkenden im Mittelmeer treffen mit einer zunehmenden Ablehnung der Flüchtlinge hierzulande zusammen. Im Frühjahr 2015 meldete das GFS-Institut in Bern, dass zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung eine rassistische Grundeinstellung haben. Diese irritierende Zahl wäre höher, gäbe jeder Befragte offen über seine Abneigung oder über seine islamophoben Ansichten Auskunft. Während also immer mehr Flüchtlinge zu uns wollen, verbreitet sich eine panische Angst vor ihnen, und das Bedürfnis nach mehr Abschottung erfasst ganze Nationen. Vergessen geht dabei, dass sich unser Wohlstand auch einem globalisierten Markt mit teilweise unmenschlichen Arbeitsbedingungen verdankt, die die Menschen erst in die Flucht treiben.

Das Geschäft der Diskriminierung

Wie Sie weiss auch ich um die Befürchtung, dass die eigenen Lebensbedingungen durch einen zu starken Zuzug von Flüchtlingen Schaden nehmen könnten. Wie begründet diese Angst ist, sei dahingestellt. Fremdenangst aber ist keine Naturtatsache. Die Sorge, dass das Klima in unserem Land durch die Bewirtschaftung dieser Angst weiter angeheizt wird, muss auch Ihre Sorge sein. Denn igelt man sich im Eigenen ein, werden einem die anderen erst recht fremd. Die Mentalität der Selbstverbunkerung macht aus den Flüchtlingen – und wie wenigen gelingt die Aufnahme in unser Land! – eine Landplage, eine infektiöse Gruppe, die man nirgends unterbringen will. Die meisten Eingewanderten schaffen zudem den Eintritt in die mit Traditionen zugestellte Schweizer Gesellschaft so oder so nicht. Die Zahlen der Lehr- und Schulabschlüsse, die Arbeitsmarkt- und Vermögensverhältnisse zeigen dies deutlich.

Erlauben Sie mir, angesichts des durch die Flüchtlingskrise verschärften Klimas der Angst und Ablehnung auf eine Verantwortung hinzuweisen, die uns alle betrifft. Sie und ich wissen, dass die Ablehnung des Fremden in unserem Land eine lange Geschichte hat und nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch jenen Teil der Schweizer Bevölkerung mit erkennbar ausländischen Wurzeln trifft, also fast ein Drittel. An sie ergeht seit einem halben Jahrhundert die Forderung nach Assimilation, nach mehr Integration. Möglichkeiten aber, wie sich die Einheimischen positiv befremden lassen könnten und auf die Zugewanderten zugehen, wurden nie als Empfehlungen verabschiedet. Während die offizielle Politik und auch ein grosser Teil der Medien die Fremdenangst «verstehen», praktizieren die selbst ernannten Retter der Nation, die niemand anderen als ihresgleichen akzeptieren, immer perfekter das Geschäft der Diskriminierung. Sie stellen Fremdheit her, statt diese zu vermindern, sie dämonisieren das Andere, statt es als Teil von sich und der Welt zu sehen.

Die täglichen Ausgrenzungen verlaufen mitten durch die Gesellschaft, auch durch unsere. Diese «stille Apartheid» (ein Begriff des französischen Premierministers Manuel Valls), seien wir ehrlich: Wir kennen sie alle. Sie beginnt bei der Wahl des Zugabteils (dunkelhäutige Männer sitzen immer allein, solange der Zug nicht voll ist), sie geht weiter bei der Wohnungs- und Stellensuche und frisst sich in die Ausbildungschancen der Kinder. Als Lehrer weiss ich, dass Ausgrenzungen gerade bei Jugendlichen einen Knick in der Biografie erzeugen, einen Makel des Scheiterns und ein Lebensgefühl, das ins Haltlose gleiten kann. Dadurch werden Menschen geschädigt und wird Gewaltbereitschaft erzeugt. Statt Integration, Lernförderung, Nachteilsausgleich und interkulturelle Pädagogik zu unterstützen, zwingen die Kantone die Schulen zum Sparen.

Von den Schulen lernen

Die Schweiz ist ein Einwanderungsland ohne Einwanderungspolitik. Bis jetzt hat sie Integration nur als Einbahnstrasse verstanden, als Bringschuld der Heimatverlorenen, denen die Aufnahme nur mit grossen inneren Anpassungsleistungen gewährt wird. Kein Bleiberecht im Paradies ohne Unterwerfung unter die Leitkultur. Mit der Wiederbelebung urschweizerischer Mythen, mit der Verwandlung des Landes in ein Ballenberg-Museum, mit der Reduzierung von Schweizer Geschichte auf eine Endlossage von Rechtschaffenheit, Ehrlich- und Redlichkeit werden immer neue Instrumente der Ausgrenzung geschaffen. Neunzig Prozent der eingewanderten Bevölkerung sind bestens integriert und spüren dennoch immer wieder die Zurückweisung.

Zur Schaffung einer Willkommenskultur braucht es nicht nur den Abbau von strukturellem Rassismus und mehr Barrierefreiheit für die Zugewanderten in die Institutionen. Es braucht auch andere Bilder und eine andere Sprache für die Eingewanderten. Die Politik könnte von den Schulen lernen, in denen in jeder Klasse eine Handvoll Jugendlicher sitzt, die den Schrecken der Entwurzelung in sich tragen. Die Politikerinnen und Politiker könnten die Erzählung von der grossen Diaspora hören, um sie dem Volk weiterzuerzählen. Auch die Literaten schreiben andere Geschichten vom Fremden und vom Fremdsein. Nur so gelingen auf die Dauer andere Begegnungen mit den Eingewanderten. Eine Sprache, die nur verwaltungstechnisch redet und rechnet – und wann reden Schweizer Politikerinnen und Politiker anders über das «Flüchtlingsproblem» und über «Ausländer» –, macht die Ankömmlinge gerade noch einmal zu Fremden.

Die Selbstverwandlung der Schweiz

Wir brauchen einen Perspektivenwechsel in diesem Land, einen anderen Blick auf die Immigration. Wir brauchen einen farbigen Nachrichtensprecher, denn die Nachrichten tönen anders aus seinem Mund; eine Seconda im Bundesrat, mehr Eingewanderte in Polizei und Verwaltung; Kurse für die Einheimischen, in denen sie lernen, sich mit dem Fremden zu befreunden – zumindest in diesem Bereich ist die Wirtschaft demokratischer und emanzipierter.
 Eine Selbstpolitik, die das Andere in sich tilgt, wird an den Bildern ertrinkender Flüchtlinge ruchbar: Die Katastrophen flimmern völlig abgetrennt von ihren Ursachen über den Bildschirm, als gingen sie uns nichts an. Für das Mitgefühl fehlt uns ein Organ, das über die Identifikation mit unseresgleichen hinausginge. Diese die Hände über dem Kopf zusammenschlagende Nichtbetroffenheit aber wendet sich früher oder später auch gegen das Eigene, wenn es nicht mehr gleich genug ist.

Die Austreibung des Fremden, habe ich in meinem Buch «Verbeugung vor Spiegeln» geschrieben, bringt kein Heil, nicht mehr Vertrautheit und nicht mehr Gerechtigkeit; sie beraubt uns zuletzt nur der Fähigkeit zur Toleranz. Sie nimmt uns ein Rätsel, eine Dimension der Erfahrung weg, die im Staunen, in der Überraschung oder im Schock ihren Ausdruck findet. Und in der Verwandlung. Die Schweizer und Schweizerinnen brauchen einen Perspektivenwechsel, eine Selbstverwandlung, sonst fehlt ihnen die Zukunft.

Der Schweizer Schriftsteller Martin R. Dean lebt in Basel. Soeben ist von ihm «Verbeugung vor Spiegeln» im Salzburger Jung und Jung Verlag erschienen. Den Brief verliest er in Solothurn am Samstag, 16. Mai 2015, um 17 Uhr. www.literatur.ch