Fussball und andere Randsportarten: Geld für Klicks, Klicks für Sex

Nr. 25 –

Pedro Lenz über die grenzenlose Toleranz eines selbst ernannten Aufklärers

Neulich, wir sassen in trauter Runde, hat uns ein Fachmann erklärt, wie die Onlinepresse funktioniert. Je mehr ein Artikel angeklickt wird, desto interessanter wird es für die Werbewirtschaft, den Artikel mit Werbung zu unterlegen. Das heisst grundsätzlich, dass ein Artikel nicht zwingend gelesen werden muss. Es genügt vollauf, wenn er angeklickt wird.

Daraus folgt wiederum, dass der Inhalt eines Texts überhaupt keine Rolle spielt, weil ja jeder Inhalt erst nach dem Klick ersichtlich wird. Da es für die Onlinepresse also keine Leserinnen oder Leser von Artikeln mehr braucht, sondern nur noch Leute, die einen Artikel anklicken, sind nur noch die Titel und Untertitel wichtig. Die Titel von Onlineartikeln müssen so konzipiert sein, dass sie möglichst viele Menschen dazu verleiten, sie anzuklicken.

Am meisten Klicks schafft ein Titel, wenn darin Begriffe vorkommen, die direkt oder indirekt mit Sex zu tun haben. Deswegen brauche es auf der Onlineplattform einer Zeitung möglichst viele Titel mit Anspielungen auf sexuelle Themen.

Dass das System tatsächlich so banal funktioniert, zeigt die Berichterstattung über die gegenwärtig stattfindende Frauenfussball-WM in Kanada. «Früher stand sie auf Frauen», «Sie alle stehen zu ihrer Homosexualität», «Unsere WM-Heldin zeigt ihre Freundin» – das sind bloss einige der Schlagzeilen, die in den letzten Tagen im Sportteil des hiesigen Boulevards zu lesen waren.

Fairnesshalber soll auch erwähnt sein, dass sich nicht ganz alle Titel zur Frauen-WM um Homosexualität drehen. Einmal hiess es beispielsweise auch: «Frauen-Nati: Alle singen die Hymne», und einmal wurden die Sportfans zudem mit Informationen über die Fingernagelbemalung der Fussballerinnen beglückt.

Den Höhepunkt der Sportberichterstattung zur Frauen-WM erreichte freilich jener Sportredaktionschef, dessen Name uns gerade nicht einfallen will. Es handelt sich um einen vermutlich heterosexuellen Redaktor mit vielen Jahren Berufserfahrung im Sportbereich. Am vergangenen Sonntag nahm er sich beinahe 2000 Zeichen Raum, um einer Schweizer Profifussballerin zu versichern, ihre Homosexualität sei im Fall wirklich okay. «Die Homosexualität ist in breiten Gesellschaftsschichten längst kein Tabu mehr», erklärte der selbst ernannte Aufklärer einer staunenden Öffentlichkeit. Dann rühmte er die angesprochene Fussballerin mit Sätzen wie: «(…) frisch und forsch steht sie erstmals in dieser öffentlichen Form zu ihrer Homosexualität. Sie macht es mutig zum Thema. Jetzt, wo die Fussballerinnen im Scheinwerferlicht stehen wie noch nie. Sie nutzt die Gunst der Stunde, scheut die Konsequenzen nicht. Und inspiriert hoffentlich andere, es ihr gleichzutun.»

Da spricht ein arrivierter Herr aus der Mitte der Gesellschaft zu einer jungen Frau, und es tönt, als wollte er ihr sagen: «In meiner grenzenlosen Toleranz verzeihe ich dir deine sexuelle Orientierung. Meine Toleranz ist so unheimlich gross, dass ich dir nicht bloss verzeihe. Ich bin sogar bereit, dich zu rühmen. Aber schön wäre es natürlich, wenn du nun die eine oder andere deiner Kolleginnen zu ähnlichen Coming-outs überreden könntest, dann hätten wir noch mehr Lesbenschlagzeilen, was noch mehr Klicks generieren würde, was wiederum mehr Werbeeinnahmen in unsere Kasse spülte. Als aufgeklärter Mann bin ich persönlich, wie schon erwähnt, voll offen, was sexuelle Orientierung betrifft, aber meine leicht verklemmte Stammleserschaft reagiert zum Glück noch mit reflexartiger Neugierde und spontanen Klicks auf alles, was entfernt mit Sex in Zusammenhang gebracht werden kann.»

Die fussballinteressierte Öffentlichkeit kann bei der Lektüre von so viel Heuchelei und Selbstgerechtigkeit nur staunen. Das ist vielleicht nicht weiter schlimm, denn das Staunen gehört zum Fussball wie die Klicks zum Onlinejournalismus.

Pedro Lenz (50) ist Schriftsteller und lebt in Olten. Er staunt gern und viel und über alles Mögliche.