NZZ Print: Die letzten Tage in Schlieren

Nr. 26 –

Die Maschinen könnten vor lauter Aufträgen Tag und Nacht weiterrotieren. Nun aber wird der Betrieb geschlossen und die gesamte Belegschaft vor die Tür gestellt. Vor dem Seiteneingang der NZZ-Druckerei: ein Abschiedsbesuch.

Mittwochabend, 18. Juni 2015: Zum zweitletzten Mal wird die WOZ in Schlieren gedruckt. Thierry Grandchamp ist da schon nicht mehr dabei.

Thierry Grandchamp scheint bestens gelaunt an diesem Freitagabend. Er begrüsst mich vor dem Seiteneingang des NZZ-Print-Gebäudes in Schlieren, gleich neben den Bahngeleisen.

Grandchamp ist einer der 125 MitarbeiterInnen, die bis Ende Juni ihre Garderobenkästen für immer räumen müssen. Seit Februar, als der Entscheid der NZZ-Unternehmensleitung, die Druckerei zu schliessen, besiegelt wurde, sind die Aufträge des florierenden Unternehmens sukzessive heruntergefahren worden.

Begehrte MitarbeiterInnen

Der 44-jährige Grandchamp arbeitet wie viele seiner KollegInnen seit Jahren in Schlieren. 1988 hatte er als Druckerlehrling bei NZZ Print begonnen – die beiden ersten Jahre noch in der alten Druckerei beim Zürcher Kreuzplatz, bis 1990 der Neubau in Schlieren bezogen wurde. In all den Jahren bei NZZ Print erlebte er die Entwicklung der verschiedenen Rotationsdruckverfahren vom Hoch- bis zum Offsetdruck – und gestaltete sie mit.

Es ist an diesem Abend das viertletzte Mal, dass der Drucktechnologe – so werden gelernte Drucker heute bezeichnet – in Schlieren eine Nachtschicht antritt. Ende Mai hörte er hier definitiv auf. Und doch ist Grandchamp, der seit seiner Lehre gewerkschaftlich engagiert ist (zuerst im Lithografenbund, dann in der Comedia und seit 2010, mit der Fusion der Comedia mit der Gewerkschaft Kommunikation, in der Syndicom), erleichtert: Bis auf vier haben zu diesem Zeitpunkt alle der 73 MitarbeiterInnen in der Produktion, die noch zu jung sind, um wie 33 ältere KollegInnen frühpensioniert zu werden, eine neue Stelle gefunden: «Es hat sich gezeigt, dass NZZ-Print-Mitarbeiter in der Branche einen guten Ruf haben. Auch von den Nichtgelernten haben die meisten eine Stelle in einer Druckerei gefunden.» Grandchamp selbst hat eine Stelle in einem Tiefdruckverpackungsunternehmen in Volketswil gefunden, nur wenige Autominuten von seiner Wohnung entfernt.

Schon zu diesem Zeitpunkt hängt eine gewisse Nostalgie über dem Seiteneingang. Grandchamp spricht zunehmend in der Vergangenheitsform – die Augen leicht zugekniffen vom Abendlicht, das von den Bahnschienen gleisst. Tag für Tag wird es stiller in den Gängen und Räumen. Bis Ende Juni, wenn die letzten Bögen gedruckt werden, wird es noch gespenstischer werden. Als ob bewährte MatrosInnen von Bord und Deck geworfen würden – von einem Schiff, das voll auf Kurs ist.

Einige der fünfzehn MitarbeiterInnen, die zu den Aargauer AZ Medien wechseln, haben bereits mit der Arbeit am neuen Ort begonnen. Demnächst werden drei Drucker zu Ringier wechseln. Vier KollegInnen haben beim «St. Galler Tagblatt», das noch immer im Besitz der NZZ-Gruppe ist, neue Stellen gefunden; einige bei der «Südostschweiz», ein paar weitere in Kleindruckereien. Ein ehemaliger Mitarbeiter hat im NZZ-Haus an der Falkenstrasse grad eben seine Arbeit als Abwart aufgenommen, mit einem jungen Kollegen, der dort seine Ausbildung zum Informatiker fortführt. Ende Juni, am Tag der offiziellen Schliessung, werden zehn weitere KollegInnen nahtlos in die Druckerei der Tamedia wechseln – und weiterhin die NZZ drucken, die ab dann bei der einstigen Hauptkonkurrentin produziert wird. «Mit der Tamedia ist vereinbart worden», so Grandchamp, «dass sie ausschliesslich NZZ-Print-Mitarbeiter übernehmen.»

Ein schlechtes Signal für die Branche

Der Protest von vielen NZZ-MitarbeiterInnen gegen die Schliessung, nachdem diese im vergangenen November angekündigt worden war, darunter auch von Redaktionsmitgliedern sowie weiteren Medienschaffenden und solidarisch Verbündeten, scheint die NZZ-Unternehmensleitung zumindest so weit beeindruckt zu haben, dass sie sich zusammen mit den Sozialpartnern zu einem vergleichsweise guten Sozialplan durchgerungen hat. Ansonsten hätte der Abbau nicht derart störungsfrei über die Bühne gehen können: Die Gefahr eines Streiks und einer nachhaltigen medialen Rufschädigung des Gesamtunternehmens wäre zu gross gewesen – immerhin etwa die Hälfte der Belegschaft besteht aus Gewerkschaftsmitgliedern.

«Mit den relativ hohen Abgangsentschädigungen wollte die Unternehmensleitung sicherstellen, dass kein längerer Arbeitskampf entsteht. Der Widerstand gegen die Schliessung hielt sich darum in Grenzen», bestätigt Dominik Dietrich, Regionalsekretär der Mediengewerkschaft Syndicom. Je nach Dienstalter seien mehrere Monatslöhne plus Schichtzulagen ausbezahlt worden.

«Einen so guten Sozialplan hat es in der grafischen Branche in den letzten zwanzig Jahren kaum gegeben», sagt auch Grandchamp. Verglichen mit dem Sozialplan bei den Entlassungen im Februar dieses Jahres in der Druckerei Ziegler in Winterthur (die zum Grossteil der Tamedia-Gruppe gehört) sei er sogar sehr gut.

«Das heisst aber nach wie vor nicht, dass die Schliessung für uns nachvollziehbar ist», betont Dietrich, der selber jahrelang als Drucker gearbeitet hat und sich mit Syndicom im Rahmen eines Konsultationsverfahrens bis zum definitiven Entscheid im Februar vehement für die Weiterführung des Betriebs eingesetzt hat. Die Betriebskommission legte in ihrem Bericht im Januar detailliert dar, weshalb eine Schliessung «betriebswirtschaftlich unnötig, strategisch falsch und bei langfristiger Perspektive sogar gefährlich» sei. Doch alles nützte nichts. «Offensichtlich», sagt Dietrich, «geht es der Konzernleitung nur um Gewinnmaximierung. Den Preis zahlt die ganze Branche: Die Schliessung ist ein schlechtes Signal für die grafische Industrie.»

Der Betriebsleitung der NZZ Print hingegen attestiert Dietrich guten Willen: «Die Leute von der Betriebsleitung und der Personalabteilung gaben sich alle Mühe. Der Entscheid kommt ja auch nicht von ihnen, sondern von der Konzernspitze.» Auch Dietrich ist froh, dass die meisten MitarbeiterInnen bereits Anschlusslösungen gefunden haben: «Am schwierigsten, eine neue Stelle zu finden, war es für Ungelernte, die nicht gut Deutsch sprechen. Gelernte hingegen haben relativ schnell neue Stellen gefunden.»

Insgesamt sei man bei der NZZ Print «mit einem blauen Auge davongekommen», bilanziert Dietrich. «Bei Swiss Printers, der ehemaligen Druckerei des ‹St. Galler Tagblatts›, die ebenfalls zur NZZ-Gruppe gehört, war es viel schlimmer.» Ende 2011 wurden dabei in Zürich und St. Gallen über 300 MitarbeiterInnen auf die Strasse gestellt. «Ich habe Kollegen», so Dietrich, «mit denen ich in St. Gallen als Drucker zusammengearbeitet habe, die inzwischen ausgesteuert sind.»

Hohe Abfindungen, Weiterbildungsbeiträge, Unterstützung bei der Stellensuche: All das ändert nichts daran, dass es unternehmerisch verantwortungslos ist, so einen Betrieb zu schliessen. Dafür ist der Preis – Schliessung eines florierendes Unternehmens, Auseinanderreissen eines Teams, Arbeitsplatzabbau – viel zu hoch. Die Strategie, die dahintersteckt, ist so simpel wie zynisch: Profitmaximierung. Ziel soll sein, so liess die Unternehmensleitung vor dem Schliessungsentscheid durchblicken, mit der Opferung des Zeitungsdrucks das operative Ergebnis der Gruppe «um jährlich einen hohen einstelligen Millionenbetrag» zu verbessern.

«Seit Jahren ist in der NZZ Print niemand entlassen worden. Die vielen langjährigen Mitarbeiter bildeten ein perfekt eingespieltes Team. Und die Identifikation mit dem Betrieb war überdurchschnittlich hoch», sagt Grandchamp.

Und schon ist sie wieder da: die Vergangenheitsform beim Rauchen vor dem Seiteneingang. Thierry Grandchamp wirft einen Blick auf die Uhr. Wenige Minuten noch bis zur Nachtschicht. Jetzt erst, in diesen paar Schweigesekunden, ist Trauer spürbar. «Am meisten wird mir wohl die Teamatmosphäre fehlen» sagt Grandchamp. «So einen Zusammenhalt: So etwas gibt es heute fast nicht mehr – das ist, wie wenn man eine Familie auseinanderreisst.»

«Eine fröhliche Multikultitruppe»

In diesem Moment tritt ein Mann vor die Tür, der nicht namentlich erwähnt werden will. Der 69-Jährige war bereits pensioniert, als man ihn – wenige Monate vor der Ankündigung, den Betrieb zu schliessen – fragte, ob er nicht doch wieder arbeiten wolle. Derart voll waren die Auftragsbücher. Erst im September hatte man einen Fünfjahresvertrag mit Coop abgeschlossen und investierte dafür drei Millionen Franken in die Aufrüstung des Maschinenparks – die Schliessungsankündigung traf die MitarbeiterInnen mitten in einer Zeit, da sie auf Hochtouren im Dreischichtbetrieb arbeiteten. Würde der Pensionär bis Ende Juni nicht freitags in der Plattenherstellung aushelfen, müssten einige Kollegen einen Tag mehr arbeiten.

«Ich hatte 46 ganz gute Jahre in dieser Druckerei», sagt er. «Ende Juni ist jetzt aber definitiv Feierabend. Diese ganze neue Unternehmenskultur gefällt mir nicht. Früher hatten wir noch eine richtige Direktion – jetzt haben wir CEOs. Das ist nichts für mich.»

Fünf vor acht. Thierry Grandchamp drückt die Zigarette aus und greift zur Türklinke. «Jede Woche Abschiedstränen», sagt er. Und lacht. Noch ein kurzer Schwatz mit Tyrone Stevenson, einem Australier, der ebenfalls die Nachtschicht antritt und demnächst zu Ringier wechselt. «Wir sind schon eine fröhliche Multikultitruppe», sagt Grandchamp zum Abschied. «Hier ein Australier, dort ein Amerikaner – und dort drüben, schau: Da kommt ein Aargauer!»

Und schon ist Grandchamp im Gebäude verschwunden. Nun eilt er wohl durch die Gänge und wird alsbald vor dem Computerbildschirm stehen, wo er die Seiteneinstellungen für die «Literatur und Kunst»-Beilage der NZZ-Samstagsausgabe programmiert.

Wenig später ist aus dem Gebäude ein mächtiges Dröhnen zu hören. Und während nun also die 120 Tonnen schwere, 68 Meter lange und 13 Meter hohe Hochleistungsmaschine rotiert und rattert und die 124 000 Exemplare über die Rollenwechsler und Drucktürme und durch die Wendestrasse in die Falzapparate jagt, da regiert sie wieder, laut und akut, als würde es ewig so weitergehen: die Gegenwartsform.

Alles ist voll auf Kurs.

Die Fotoserie von Ursula Häne mit Porträts von neunzehn NZZ-Print-MitarbeiterInnen, die in der WOZ bis vor zwei Wochen seit dem definitiven Schliessungsentscheid im Februar erschienen sind, ist zu finden auf www.woz.ch.

Ein letztes Dankeschön

Dies ist die letzte WOZ, die in Schlieren gedruckt wurde. Ein kleiner Teil der Belegschaft arbeitet noch bis September – zum Abbauen der Maschinen, Aufräumen, Putzen und Reinigen, sodass die Liegenschaft mit direktem Bahnanschluss und der Maschinenpark zu einem möglichst hohen Preis verkauft werden können.

Das WOZ-Kollektiv bedankt sich noch einmal bei allen DruckereimitarbeiterInnen. Ab Juli wird die WOZ in St. Gallen in der Druckerei des «St. Galler Tagblatts» gedruckt, die ebenfalls zur NZZ-Gruppe gehört.