Heisse Tage in Athen: Der Weg zum grossen «ochi»

Nr. 28 –

Das Nein der GriechInnen zur Sparpolitik der EU bedeutet auch eine Neuerfindung der Linken aus dem Süden Europas. Unterwegs auf den Strassen Athens in den Tagen der Entscheidung.

  • Ohne Folklore, aber mit Dringlichkeit: Versammlung der Regierungspartei Syriza im Athener Stadtteil Vyronas. Foto: Kusha Bahrami
  • In der Sozialklinik Helleniko: Die Sekretärin Maria Vamvakousi (links) und die Biologin Vasiliki Iliopoulo klären die Verfügbarkeit eines Medikaments ab. Foto: Kusha Bahrami
  • Gegen Erpressung, für Demokratie: Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras spricht am Freitag vor Zehntausenden von AnhängerInnen. Foto: Kusha Bahrami.
  • Kein Wasser und kein Strom: In diesem Raum wohnt das afghanische Flüchtlingspaar Alihosaini. Foto: Kusha Bahrami.
  • Syriza heisst Koalition der radikalen Linken: Sonntagnacht auf dem Syntagmaplatz in Athen. Foto: Kusha Bahrami

Das Titelbild ist der Blickfang am Kiosk: Es zeigt den verdutzten Vorsitzenden der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, darunter die beiden Zahlen: 61,3 Prozent für «ochi» (nein), 38,7 Prozent für «nai» (ja). Mit diesem Resultat lehnten die GriechInnen am letzten Sonntag die Sparpläne der Troika aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds ab. Das Titelbild stammt von der «Efimerida ton Syntakton» (Zeitung der Redaktoren), die vor drei Jahren als Genossenschaft gegründet wurde. In den engen Redaktionsräumen wird noch geraucht, nach der Abstimmung herrscht Hektik. Die Tageszeitung hat als einzige das Nein und damit die Syriza-Regierung von Alexis Tsipras unterstützt. Politredaktor Nikos Sverkos nimmt sich Zeit, das Phänomen Syriza zu erklären.

«Syriza ist sowohl eine Partei als auch eine soziale Bewegung.» Die AnhängerInnen engagierten sich in Menschenrechtsgruppen, Umweltorganisationen oder Gewerkschaften. Vor allem aber in den Solidaritätsnetzen, die sich überall im Land gebildet haben. Sie erbringen für die Bevölkerung lebensnotwendige Leistungen, die wegen der «Schockdoktrin» weggespart wurden, wie Sverkos sagt. «Der Unterschied zu den übrigen Parteien besteht darin, dass sich Syriza bewusst nicht als Stellvertreterin ihrer WählerInnen versteht. Alle kämpfen eigenständig und praktisch für eine Alternative zum Neoliberalismus.»

Wer in der Diskussion über Griechenland bisher meinte, die Europäische Union habe es bloss mit einem Nationalstaat und einer starrköpfigen Regierung zu tun, hat den entscheidenden Punkt nicht begriffen: In Griechenland ist eine soziale Bewegung an der Macht, wie in den Tagen vor der Entscheidung auf der Strasse spürbar war.

Mittwoch, 1. Juli:
 Blitzdemokratie

«Blitzdemokratie» haben die internationalen Medien gespottet, als Ministerpräsident Alexis Tsipras ein Referendum innert Wochenfrist ankündigte. Was das bedeuten kann, ist am Mittwochabend im Amphitheater im Stadtteil Vyronas zu sehen. Vorne auf Plastikstühlen sitzen die Älteren, hinten im Kreis haben die Jüngeren Platz gefunden. Wie an einer Landsgemeinde – minus Folklore, plus Dringlichkeit.

Ein Vertreter von Syriza steht Rede und Antwort, hinter ihm weht ein Transparent: «Nein zum Sparen, Ja zur Würde.» An die Versammlung gekommen ist auch der 29-jährige Giannis Konstantinidis. Als Buchhändler verdient er 500 Euro pro Monat, deshalb wohnt er noch bei den Eltern. Flüsternd erklärt er: «Hör zu, es geht hier nicht um Ökonomie, es geht um Politik. Die Gläubiger wollen eine linke Regierung absetzen, weil sie ihnen nicht passt.» Die Banken habe man gerettet, die Bevölkerung lasse man hängen. Was erhofft er sich vom Referendum – einen besseren Lohn? «Hoffnung», sagt Giannis Konstantinidis.

Auch anderswo wird das Nein-Sagen geprobt. Spätnachts läuft in einem Park im Stadtteil Exarchia der Film «No!» über die Werbekampagne, die 1988 die Transformation von Pinochets Chile einleitete. Der Park war einst ein Parkplatz, ehe er mittels Urban Gardening von den BürgerInnen in Beschlag genommen wurde. Heute wachsen hier Bäume, auf einem Abhang sitzen die Leute dicht an dicht. Von der Leinwand singt der chilenische Werbechor: «No, me gusta no! No, no, no!»

Donnerstag, 2. Juli:
 Medikamente gesucht

Arixtra, Baraclude, Cardura und so weiter bis Xeristar, Yekast, Zidrolin: Sauber geordnet stapeln sich in der Sozialklinik Helleniko die Medikamente. Doch der Eindruck von Vollständigkeit täuscht. Die Medikamente sind Spenden von PatientInnen, die sie nicht benötigen, oder aus dem Ausland. Gerade gestern brachten StudentInnen aus Genf Medikamente im Wert von 2000 Euro. Die 2011 eröffnete Sozialklinik war eine der ersten ihrer Art, erzählt Sekretärin Maria Vamvakousi. Die Rentnerin gehört zu den Freiwilligen, die den Betrieb ermöglichen. «Drei Millionen Menschen, also mehr als ein Viertel der Bevölkerung, haben in Griechenland keine Krankenkasse», sagt Vamvakousi. Da die Prämie vom Lohn abgezogen wird, sind Arbeitslose nicht krankenversichert. Für das Heer der Unversicherten leisten Sozialkliniken wie diese kostenlos die medizinische Grundversorgung. Noch nehmen die öffentlichen Spitäler Notfälle und Schwerkranke auf, doch die Behandlung wird in Rechnung gestellt. Ein Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Verschuldung beginnt.

Die Idee zur Sozialklinik hatte der Arzt Giorgos Vichas. «In der Wirtschaftskrise haben bestimmte Krankheiten wegen mangelnder Behandlung zugenommen, so etwa Herzkrankheiten, Krebs, Tuberkulose, Hepatitis und Aids», zählt Vichas auf. Dazu kommen psychische Probleme. Für den Arzt ist klar: «Die Krise macht die Menschen krank.» Und sie fordert Todesopfer. Von den 300 Krebskranken, die die Klinik behandelt hat, verloren 20 ihr Leben, weil sie nicht mit den für sie notwendigen Medikamenten versorgt werden konnten.

Giorgos Vichas wird von der ärztlichen Ethik angeleitet, doch versteht er sein Engagement darüber hinaus politisch: «Das Gesundheitssystem muss von Grund auf verändert werden.» Eine öffentliche Krankenkasse und die Bekämpfung der Korruption – auch von Pharmafirmen betrieben – lauten seine Forderungen. Syriza habe zwar Änderungen vor, doch bisher existierten sie bloss auf dem Papier. Unabhängig vom Ausgang des Referendums am Sonntag bleibe der Bedarf an Medikamenten hoch. Vichas plädiert für ein Nein: «Es braucht ein Signal gegen die Austeritätspolitik, die mit in die Gesundheitskrise geführt hat.»

Freitag, 3. Juli:
 Ja gegen Nein

Wie viele Wörter stammt auch der Begriff «Dramaturgie» aus dem Griechischen, die Lehre von der Gesetzmässigkeit des Dramas. Und der Freitagabend verläuft dramaturgisch perfekt. Die BefürworterInnen eines Ja und diejenigen eines Nein versammeln sich zu ihren Abschlusskundgebungen, getrennt nur von einem Park – und von sehr viel Polizei.

Zu den Ja-SagerInnen gehört auch die Jurastudentin Dimitra Vytogianni: «Griechenland muss ein Teil Europas bleiben.» Sie will selbst dazugehören, an der London School of Economics ihren Abschluss machen. Die junge Frau, die für die konservative Nea Dimokratia stimmt, betont ihren Realitätssinn: «Tsipras und sein Finanzminister Varoufakis sind Lügner, die einer Utopie nachleben.» Weitsicht reklamieren auch die Älteren. Sie warnen wahlweise vor «Lügner Tsipras», einem Einbruch des Tourismus oder der Unsicherheit generell. Es ist ein gebildetes, polyglottes Publikum, das sich versammelt hat. An blauen und gelben Ballonen befestigt steigt eine Europaflagge in die Luft. Aus den Boxen dröhnt auch mal Manu Chao. Der Groove erinnert an eine Party von Erasmus-StudentInnen.

«Ochi, ochi, ochi!», rufen auf der anderen Parkseite die GegnerInnen. Von der Bühne ist überraschenderweise Deutsch zu hören. Gregor Gysi, Spitzenpolitiker der Partei Die Linke, ermuntert das Publikum: «Eure Regierung kämpft wie David gegen Goliath.» Statt Sparpolitik brauche es soziale Wohlfahrt. «Wir wollen in jeder Hinsicht ein anständiges Europa, auch für Flüchtlinge.»

Gysis einsamer Auftritt zeigt, dass Syriza von den europäischen Linken wenig beachtet oder – wie von den deutschen SozialdemokratInnen – gar bekämpft wird. Dabei gäbe es von der griechischen Bewegung auch in der Politkultur einiges zu lernen: An der Kundgebung treten die Stars der griechischen Musikszene auf. Dann kommt Alexis Tsipras: «Heute feiern wir die Demokratie! Von Athen ist sie ausgegangen, hierher kehrt sie zurück», ruft er den Zehntausenden Versammelten zu. An den Grillständen werden Souflaki und Mais gebraten, Rauch weht über den Platz. Es kommt Volksfeststimmung auf, doch keine Ausgelassenheit. Die letzte Umfrage prognostiziert einen äusserst knappen Ausgang: 44,1 Prozent Ja zu 43,7 Prozent Nein.

Samstag, 4. Juli: 
Bei den Vergessenen

Die Wohnung des Ehepaars Alihosaini besteht aus einem Raum: zwei Betten, ein Regal, in der Ecke ein Gaskocher. Die Frau offeriert Tee und Datteln. Vor vierzehn Monaten ist die Familie in Kandahar im Süden Afghanistans aufgebrochen. Den minderjährigen Kindern gelang die Überfahrt von der Türkei auf die griechische Insel Samos. Die Eltern wurden von der türkischen Küstenwache zurückgedrängt. Die Kinder schafften es weiter nach Deutschland, die Eltern im zweiten Anlauf nach Athen. Nun sitzen sie wie andere Flüchtlinge in diesem Abbruchhaus fest: «Es gibt kein fliessendes Wasser und keinen Strom», erzählt das Ehepaar. Dazu kommen Kontrollen der Polizei und Konflikte untereinander: Drogenabhängige Flüchtlinge – aber auch süchtige GriechInnen – gehen ein und aus. «Einmal im Monat telefonieren wir mit den Kindern», sagt die Mutter. Die Familie hat ein Gesuch gestellt, damit sie in Deutschland zusammenfindet.

Die Odyssee der Familie ist typisch für viele Flüchtlinge. Entweder dient ihnen Griechenland als Transitland, dann sind sie in ein paar Tagen weiter. Oder sie bleiben hier in der Falle sitzen. Unter den früheren Regierungen gab es kein funktionierendes Asylwesen. Stattdessen wurde beim Fluss Evros ein Zaun an der Grenze zur Türkei errichtet. Seit der Syriza-Machtübernahme im Januar sei in der Asyl- und Migrationspolitik ein Stimmungswandel festzustellen, berichtet Muhammadi Yonous vom griechischen Flüchtlingsforum. Die Zahl der Asylsuchenden, die grundlos in Lagern inhaftiert sind, ist deutlich zurückgegangen. Die Anwältin Tasia Christodoulopoulou wurde zur Vizeministerin für Migration ernannt, das Asylwesen untersteht nicht länger der Polizei. Weil das Ministerium über wenig Personal verfügt, können zwar noch immer fast keine Asylgesuche gestellt werden. «Doch die Menschenrechtsorganisationen haben die Möglichkeit, an die Tür der Politik zu klopfen und gehört zu werden», sagt Yonous. Syriza will ausserdem, dass in Griechenland geborene Kinder von MigrantInnen das Bürgerrecht erhalten. Ein Gesetzesentwurf ist im Parlament hängig. Wegen der Troika-Verhandlungen ist er blockiert.

Sonntag, 5. Juli: 
Die Neuerfindung

Im Pressezentrum im ehemaligen Königspalast haben mehr als hundert JournalistInnen aus aller Welt ihre Laptops aufgeklappt, ein knapper Ausgang des Referendums wird erwartet. Um 19 Uhr vermelden die Fernsehstationen die ersten Exit Polls: Ein leichter Vorsprung für das «ochi»! Er wächst sich zu einem Triumph für Ministerpräsident Alexis Tsipras aus. Im Pressezentrum weiss niemand, ob Tsipras hier vorbeikommt. Ein deutscher Kollege meint: «Das ist ein Populist, der spricht zuerst zu seinen Leuten.» Wenn der Ministerpräsident nicht kommt – dann spricht man wohl am besten mit seinen Leuten.

Zu den Feiernden, die auf den Syntagmaplatz strömen, gehört auch Thanos Lykonzgias, Mitglied von Syriza seit der ersten Stunde, heute Vizesekretär in einem Athener Stadtteil. Mit dem deutlichen Resultat hat Lykonzgias nicht gerechnet. «Die Griechen haben sich von den Bankenschliessungen und dem Medienterror nicht beeindrucken lassen.» Im Lärm holt Lykonzgias zu einer Geschichtslektion aus: «Die Anfänge von Syriza liegen in den Antiglobalisierungsprotesten gegen den G8-Gipfel in Genua und in den Demonstrationen gegen den Irakkrieg.» Aus den Kämpfen auf der Strasse sei Syriza gewachsen. Bis 2012 erzielte das Bündnis der radikalen Linken nur wenige Prozente der Stimmen. Dann gelang der Durchbruch: Syriza wurde die wichtigste Oppositionskraft, im Januar dieses Jahres übernahm sie die Regierung.

An der Feier auf dem Syntagmaplatz tanzen an diesem Sonntag um einen kitschig beleuchteten Brunnen auch die RechtspopulistInnen der Partei Unabhängige Griechen (Anel). Syriza paktierte mit ihnen, um an die Mehrheit für eine Regierung zu kommen. Kein Widerspruch? Parteimitglied Lykonzgias wäre es lieber gewesen, man hätte ohne Anel zu regieren versucht. Wie aber das Bürgerrechtsgesetz zeige, biete Syriza den Rechtspopulisten in den entscheidenden Punkten die Stirn.

Die Geschichte der Bewegung macht deutlich: Alexis Tsipras, der seit den Anfangstagen bei Syriza aktiv ist, blieb vorletzte Woche gar nichts anderes übrig, als zum Referendum zu greifen. Er konnte die Sparvorschläge akzeptieren und damit seine Partei verlieren – oder die Mehrheit der Bevölkerung für ein Nein gewinnen. Nun wird in einem Land sowohl auf der Strasse als auch im Regierungspalast gefeiert.

Wie auch immer die weiteren Verhandlungen um die griechischen Staatsschulden und der EU-Gipfel vom kommenden Sonntag ausgehen, für Politredaktor Nikos Sverkos von der «Zeitung der Redaktoren» ist Syriza bis jetzt eine Inspiration für die europäische Linke: «Die Linke braucht junge, unverbrauchte Köpfe wie Tsipras. Sie muss Streitigkeiten zwischen Gruppen vermeiden und als Bündnis agieren. Und sie muss konsequent den Neoliberalismus kritisieren: indem sie nicht nur den Status quo verteidigt, sondern einen eigenen wirtschaftlichen Plan verfolgt.»

Sie finden den Blog «Heisse Tage in Athen»,
 auf dem dieses Griechenlandtagebuch basiert, 
unter www.woz.ch/d/heisse-tage-in-athen.