«Polinas Tagebuch»: Ein Kind als Geschichtsschreiberin

Nr. 29 –

Als 1994 der erste Tschetschenienkrieg ausbricht, ist Polina Scherebzowa neun Jahre alt. Jahrelang dokumentiert das Mädchen den Kriegswahnsinn.

Polina Scherebzowa, 2015: Ihr Buch ist ein Augenzeuginnenbericht grausamer Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Foto: Maiju Torvinen

Polina Scherebzowas Tagebuch beginnt unbekümmert: «Sei gegrüsst, Tagebuch! Ich lebe in der Stadt Grosny.» Das Mädchen berichtet von seinem Alltag in der tschetschenischen Hauptstadt: vom Spielen mit den Nachbarskindern, den Erlebnissen in der Schule oder den Marktbesuchen mit der Mutter. Polina ist gerade neun Jahre alt geworden.

Wenige Monate später kommt der Krieg nach Grosny. Polina wächst mit dem Terror der beiden Tschetschenienkriege 1994 bis 1996 und 1998 bis 2009 auf. Mit der Zeit wird das Essen knapp, in den Strassen knallen Schüsse und explodieren Bomben. Polina wird zur Geschichtsschreiberin eines Konflikts, der eine vollständig zerstörte Republik und fast 160 000 Tote hinterlassen wird.

Bereits 2009 sind Auszüge aus dem Tagebuch in verschiedenen russischen Medien aufgetaucht, 2014 wurde das Buch in Russland veröffentlicht. In der Übersetzung von Olaf Kühl ist «Polinas Tagebuch» nun auch auf Deutsch erschienen.

Nach der russischen Erstveröffentlichung ihrer Tagebuchauszüge erhält die mutige junge Frau Morddrohungen, wird mehrmals überfallen. Als die schwangere Scherebzowa im Jahr 2012 bei einem Angriff ihr ungeborenes Kind verliert, verlässt sie zusammen mit ihrem Mann das Land. Das Paar flieht nach Finnland, nach einer Weile erhalten die beiden Asyl. Wegen ihrer Tagebücher und weil sie Russlands Aussenpolitik immer wieder scharf kritisiert, lebt Scherebzowa noch heute versteckt. Den Tschetschenienfeldzug bezeichnet sie inzwischen als «staatlich organisierten Genozid am eigenen Volk», wie sie kürzlich in einem Interview sagte.

«Alles brennt»

Als der tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew am 2. November 1994 sein Land für unabhängig erklärt, ist der Krieg noch fern. «Niemand glaubt, dass die Russen bombardieren werden. Das sind doch Menschen», schreibt die neunjährige Polina in ihr Tagebuch. Es dauert jedoch nicht lange, bis Russlands Präsident Boris Jelzin seine Armee schickt. «Alles brennt. Bomben vom Himmel.» Spätestens als bei einem Angriff auf das örtliche Spital Polinas Grossvater ums Leben kommt, hält der Krieg Einzug in das Leben des Mädchens.

Acht Jahre lang, von 1994 bis 2002, hält Polina Scherebzowa die Kriegswirren in ihrer Heimatstadt akribisch fest, dokumentiert Einsamkeit, Hunger, Kälte und das allgegenwärtige Sterben. Mit der Zeit handelt fast jede Zeile vom Krieg. Eindrücklich beschreibt Polina, wie Grosny im Chaos versinkt, die Menschen mehr und mehr verrohen. Die kindlich-naive Sprache lässt die Lektüre umso bedrückender wirken.

«6. Oktober 1998: Neulich haben Mama und Tante Marjam erzählt, dass jemand im zweiten Stock in unserem Haus gefoltert wurde. Ein Mann. Er schrie vor Schmerz. Aber niemand kümmerte sich darum.»

Wenn sie vor der Welt draussen flüchten will, begibt sich Polina in literarische Welten. Sie verschlingt die Bibliothek des Grossvaters. Remarque, Tolstoi, Bulgakow. Doch ihre Flucht kann nie lange dauern.

«23. September 1999: Krieg in Tschetschenien. Heute um 10.25 Uhr, als wir zum Handeln auf den Markt wollten (…). Flugzeuge warfen Bomben über dem Flughafen ab. Rauch! Schrecklich! (…) Letztendlich haben alle das gleiche Schicksal: Der Tod erwartet den Herrscher ebenso wie den Sklaven.»

«26. Oktober 1999: Da weinen Menschen, die nichts wiederfanden an der Stelle, an der ihre Mutter, ihre Tochter oder Schwester gestanden hatte. Absolut nichts!»

Die innere Sicht auf den Krieg

Trotz des allgegenwärtigen Kriegs schreibt Polina auch über Dinge, die einen Teenager beschäftigen: unglückliche Liebe, eine komplizierte Beziehung zur Mutter oder Freundschaften, die die Zeit nicht überdauern. Diese Episoden zeichnen das Erwachsenwerden eines tschetschenischen Mädchens nach und machen das Buch auch zu einer Coming-of-Age-Geschichte.

Doch die wahre Stärke des fast 600 Seiten dicken Buchs liegt woanders: Die Notizen sind in erster Linie ein historisches Dokument, ein Augenzeuginnenbericht grausamer Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Es ist die Sicht eines Kindes, das zum Zeugen eines Kriegs wird, an den sich kaum noch jemand erinnert.

Mehrere russische JournalistInnen haben zum Krieg in Tschetschenien umfassende Recherchen veröffentlicht. Anna Politkowskaja, die Bekannteste unter ihnen, hat ihre Enthüllungen mit dem Leben bezahlt. Und Arkadi Babtschenko, wie Politkowskaja Reporter bei der «Nowaja Gaseta», hat seine Erlebnisse in Grosny, wo er vier Jahre als russischer Soldat stationiert war, in einem verstörenden Roman verarbeitet.

Doch kein Autor und keine Journalistin hätte die humanitäre Dimension authentischer schildern können als Polina Scherebzowa. Durch die Augen eines Kindes, das alle Erlebnisse und Beobachtungen aus erster Hand und ohne Filter aufschreibt, wirkt die zerstörerische Kraft des Krieges umso bedrückender.

Polina Scherebzowa: Polinas Tagebuch. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Olaf Kühl. Rowohlt Verlag. Berlin 2015. 571 Seiten. 32 Franken