Korruption: Alle sollen verschwinden

Nr. 32 –

Schmiergelder im grossen und kleinen Stil gehören zum Alltag in Lateinamerika. Jetzt regt sich in vielen Ländern Widerstand. Die Protestbewegungen werden einen langen Atem brauchen.

Erst waren es nur einzelne Brennpunkte des Protests. Mittlerweile sieht es so aus, als könnte ein Flächenbrand daraus werden. Jede Woche gehen quer durch Lateinamerika Menschen zu Zehntausenden auf die Strasse und klagen ihre Eliten an. Ehemalige Präsidenten stehen vor Gericht, gegen amtierende hohe RegierungsfunktionärInnen wird ermittelt. Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendwo ein Minister zurücktreten muss. Und egal, ob sich das in Guatemala, Honduras oder El Salvador abspielt, in Panama, Brasilien oder Chile – es geht immer um dasselbe: um Korruption.

Lange sah es so aus, als hätten sich die Menschen in Lateinamerika damit abgefunden. Als sei es völlig normal, dass man den städtischen Müllmann dafür bestechen muss, dass er tatsächlich den Müll abholt. Dass man das Gehalt der Postbotin aufbessert, um sicherzustellen, dass man tatsächlich Post bekommt. Dass man dem Polizisten ein paar Scheine zuschiebt, damit er einen eben ausgestellten Strafzettel für einen nie begangenen Verstoss gegen die Verkehrsregeln zurücknimmt. Kleine Leute bezahlen kleines Schmiergeld an kleine öffentliche Bedienstete – und jedem ist klar: Die Grossen bezahlen grosse Batzen, damit Ministerinnen und Präsidenten das tun, was sie von ihnen erwarten.

Gegen das neoliberale Dogma

Irgendwie passte das ja auch zum System. Lateinamerika war das erste Experimentierfeld des Neoliberalismus der Chicagoer Schule von Nobelpreisgewinner Milton Friedman. Im Chile des Militärdiktators Augusto Pinochet war schon ein paar Jahre früher dereguliert und privatisiert worden als in Britannien unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan. Während der Schuldenkrise der achtziger Jahre diktierten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank den anderen Ländern der Region dieselbe Rezeptur. Alles wurde zur privat gehandelten Ware: Wasser, Strom und Strassen, die Altersvorsorge, Gesundheit und Bildung.

Wenn es keinen Gemeinsinn mehr gibt, sondern nur noch Individualismus; wenn alles käuflich ist und gekauft werden muss – warum eigentlich nicht auch PolitikerInnen und das, was von der öffentlichen Verwaltung übrig geblieben ist? Letztlich ist Korruption, im Kleinen wie im Grossen, also nur eine höhere Stufe des Neoliberalismus. Sie ist zwar in aller Regel illegal, bestraft aber wurde sie in Lateinamerika lange nicht. So betrachtet, sind die Proteste gegen die schlimmsten Auswüchse der Korruption zugleich eine Rebellion gegen das neoliberale Dogma.

Auch in Europa ist diese Kombination aus neoliberaler Politik und Korruption bekannt. In Spanien gingen vor vier Jahren die Indignados massenhaft dagegen auf die Strasse. Sie rebellierten gegen ihre Eliten, die knallhart überschuldete Familien aus ihren noch nicht abbezahlten Häusern werfen liessen und sich gleichzeitig selbst schamlos an öffentlichen Geldern bereicherten. Heute beziehen sich die Protestbewegungen von Guatemala bis Chile auf ebenjene Indignados.

Damit jedoch sind die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Bewegungen auch schon fast erschöpft. Um die Dynamik, durch die die Proteste ausgelöst wurden, zu verstehen, muss man jedes Land für sich betrachten.

Immer neue Details

Die günstigsten Voraussetzungen für den Kampf gegen Korruption hatte Guatemala, denn dort gibt es seit Ende 2007 die von den Vereinten Nationen entsandte Kommission gegen die Straffreiheit (Cicig). Diese Gruppe von Staatsanwältinnen und Kriminalisten hat die Aufgabe, sogenannte Parallelstrukturen zum verfassten Staat – oder anders gesagt: korrupte Netzwerke auf höchster Ebene – zu enttarnen und vor Gericht zu bringen. Es waren ErmittlerInnen von Cicig, die im April eine Seilschaft aus hohen Regierungsbeamten und Unternehmern rund um den Privatsekretär von Vizepräsidentin Roxana Baldetti auffliegen liessen. Das Verbrechersyndikat hatte den Zoll und damit die Staatskasse um viele Millionen US-Dollar betrogen.

Dieser Skandal löste Ende April die Massenproteste aus. Sie halten bis heute an und werden von kritischen Medien wie der Tageszeitung «El Periódico» und der Internetnachrichtenplattform «Plaza Pública» mit immer neuen Details versorgt. Baldetti musste zurücktreten, nun rücken neue Enthüllungen Präsident Otto Pérez Molina immer mehr ins Zentrum der schmutzigen Geschäfte. Die wöchentlich vor seinem Regierungspalast aufziehenden DemonstrantInnen wollen nicht aufgeben, bis auch er seinen Hut genommen hat.

Auch in Honduras war es ein mutiger Staatsanwalt – sogar ein lokaler und keiner, der internationalen Schutz geniesst –, der die politisch brisante Bombe platzen liess. Er fand heraus, dass ein Zirkel prominenter Unternehmer das öffentliche Gesundheitswesen des armen Landes mit gefälschten Rechnungen um über 200 Millionen US-Dollar betrogen hatte. Laut Gesundheitsorganisationen sind in der Folge weit über tausend Menschen gestorben, weil sich die öffentlichen Krankenhäuser nicht einmal mehr eine Notausstattung an Medikamenten leisten konnten. Mit einem Teil des geraubten Geldes wurde der sündhaft teure Wahlkampf des heutigen Präsidenten Juan Orlando Hernández finanziert. Der Staatsanwalt lebt heute in Frankreich im Exil – und das vernünftigerweise: In Honduras können die Mächtigen solche Leute noch immer einfach erschiessen lassen.

Die konservative Presse von Honduras stützt zwar weiterhin den Präsidenten. Aber an jedem Freitag stehen Zehntausende gegen ihn auf der Strasse. Der durch den Skandal provozierte Bürgerzorn erweckte eine gut organisierte linke Protestbewegung, die 2009 nach dem Militärputsch gegen den linken Präsidenten Manuel Zelaya entstanden war, zu neuem Leben.

Rache an den politischen Gegnern

In El Salvador, dem direkten Nachbarn von Guatemala und Honduras, gibt es solche Massenproteste nicht. Trotzdem steht dort ein ehemaliger Präsident wegen Korruption vor Gericht: Francisco Flores, Staatschef von 1999 bis 2004, soll nach zwei schweren Erdbeben 2001 internationale Hilfsgelder in Millionenhöhe auf Privatkonten abgezweigt haben. Immerhin ist damit Korruption auf höchster Ebene öffentlich geworden. Entscheidend aber waren weder Staatsanwälte noch eine Volksbewegung. Den Prozess gegen Flores hat Mauricio Funes angeschoben, der Präsident der Jahre 2009 bis 2014. Sein Motiv: Rache an einem politischen Gegner, der ihm das Leben schwer gemacht hatte. Andere hochrangige und höchstwahrscheinlich ähnlich korrupte Politiker liess Funes dagegen ungeschoren. Er war im Parlament auf ihre Stimmen angewiesen.

Auch in Panama, Brasilien und Chile spielt politische Rache eine entscheidende Rolle im Feldzug gegen die Korruption. Juan Carlos Varela, der Präsident von Panama, war unter seinem Amtsvorgänger Ricardo Martinelli Vizepräsident und Aussenminister. Nach zwei Jahren wurde er im Streit entlassen. Heute sitzen mehrere Minister Martinellis wegen Korruptionsverdacht im Zusammenhang mit riesigen Bauvorhaben der Regierung in Untersuchungshaft, Martinelli selbst hat sich nach Miami abgesetzt. Man muss kein Mitleid haben mit den Inhaftierten. Die Beweise gegen sie sind erdrückend. Aber sie lägen mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht auf dem Tisch, hätte es nicht den Streit zwischen Martinelli und Varela gegeben.

In Brasilien zweifelt heute niemand mehr daran, dass über den staatlichen Ölkonzern Petrobras viele Millionen Dollar Schmiergeld geflossen sind – in einer Zeit, in der die heutige Präsidentin Dilma Rousseff Aufsichtsratsvorsitzende war. Bezahlt haben Unternehmer, die im Gegenzug überteuerte Aufträge bekamen; die Empfänger waren Petrobras-Manager und Parteikassen – auch die der regierenden Arbeiterpartei. Ärgerlich an der Aufarbeitung dieser Machenschaften ist nur, dass genau die Oppositionspolitiker die Amtsenthebung der Präsidentin anstreben, die selbst bis über beide Ohren in Korruptionsskandale verwickelt sind und zum Teil schon mehrmals, gegen entsprechende Geldzuwendungen, die Partei gewechselt haben. Da spielen sich die Böcke als Gärtner auf, und die Medienkonzerne, die vorher mit konservativen Regierungen pfleglich umgegangen waren, blasen ins selbe Horn.

Wen will man noch wählen?

In Chile sind es vor allem die beiden grossen rechten Medienkonzerne um die Tageszeitungen «El Mercurio» und «La Tercera», die sich als Saubermänner im Kampf gegen die Korruption gerieren. Sie haben ein windiges Spekulationsgeschäft des Sohns der sozialdemokratischen Präsidentin Michelle Bachelet aufgedeckt: Er hatte mit einem Grundstück – mutmasslich mit Insiderwissen – schnell ein paar Millionen Dollar verdient. Zudem hatte Bachelets Innenminister Rodrigo Peñailillo einem Bergbaukonzern nie erbrachte Dienstleistungen in Rechnung gestellt.

Im Vergleich zu anderen Korruptionsfällen sind das eher Skandälchen. Sie werden medial breitgetreten, um von einem vorher aufgeflogenen grossen Steuerbetrugsskandal abzulenken, in den die halbe Führungsriege der rechtspopulistischen UDI-Partei verwickelt ist. Kein Wunder, dass man auf Antikorruptionsdemonstrationen in Chile immer häufiger Transparente mit der Aufforderung «Que se vayan todos» sieht – alle Politiker sollen verschwinden.

Das ist nur allzu verständlich. Wen will man denn noch wählen? Die Nächsten, die zu den Urnen gerufen werden, sind die GuatemaltekInnen. Sie haben die Wahl zwischen Pest und Cholera. Nach einer kürzlich veröffentlichten Studie von Cicig werden alle Parteien des Landes entweder über Korruption oder von Drogenmafias finanziert. Gegen die linkspopulistische Kandidatin Sandra Torres ermittelt Cicig genauso wie gegen den Rechtspopulisten Manuel Balidzón. Die beiden gelten als FavoritInnen für die Präsidentschaftswahl am 6. September. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Mehrheit des Stimmvolks gar nicht erst wählt.

Eine Perspektive bietet das Fernbleiben freilich nicht. Immerhin aber ist mit den massenhaften Demonstrationen der Anfang einer – noch – ausserparlamentarischen Opposition gemacht. Ob mehr daraus wird, bleibt abzuwarten. Von den ersten Platzbesetzungen der Indignados in Spanien bis zu den ersten Wahlerfolgen des daraus entstandenen linken Sammelsuriums Podemos und seiner regionalen Verbündeten dauerte es vier Jahre. Die Protestbewegungen in Lateinamerika werden einen langen Atem brauchen.

Sonderfall Costa Rica

Es ist das einzige Land Lateinamerikas, in dem schon vor Jahren zwei ehemalige Präsidenten wegen Korruption ins Gefängnis geschickt wurden – und das von einer unabhängigen Justiz, ganz ohne Druck von der Strasse und ohne politische Ränkespiele. Rafael Ángel Calderón, Präsident von Costa Rica von 1990 bis 1994, wurde 2009 zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er zusammen mit sieben weiteren Regierungsfunktionären von einem finnischen Konzern acht Millionen US-Dollar Schmiergeld genommen hatte. Die Firma durfte im Gegenzug das öffentliche Gesundheitswesen mit medizinischem Gerät ausstatten. Die Strafe wurde später auf drei Jahre verkürzt.

Miguel Ángel Rodríguez, Präsident von 1998 bis 2002, wurde 2011 zu fünf Jahren Haft verurteilt, weil er sich im Zusammenhang mit der Vergabe einer Mobilfunklizenz mit über einer halben Million Dollar hat schmieren lassen.