Hundert Jahre Zimmerwald: «Überall lagen Papierfetzen herum»

Nr. 36 –

Angelica Balabanoff (1878–1965) zählte zu den InitiantInnen der Zimmerwald-Konferenz. SozialistInnen aus ganz Europa verabschiedeten dort ein Manifest gegen den Ersten Weltkrieg. Ein fiktives Gespräch mit der Berufsrevolutionärin.

Angelica Balabanoff (Porträt aus den zwanziger Jahren): «Aus Zimmerwald gingen die Delegierten in einer ganz anderen Stimmung, als sie gekommen, nach Hause!»

WOZ: Angelica Balabanoff, nach zähen Verhandlungen wurde an der Konferenz in Zimmerwald einstimmig ein Manifest angenommen, ein wortgewaltiger Aufruf gegen den Krieg und für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse. Wie war die Stimmung bei der Verabschiedung?
Angelica Balabanoff*: Die äussere Umgebung, in der die Abstimmung stattfand, entsprach der Stimmung, die unter den Sozialisten seit dem Kriege geherrscht hatte. Ein kleiner, dunkler, geschlossener, vollgerauchter Raum an einem traurigen, bewölkten Herbstabend. Die meisten Delegierten waren erschöpft, überall auf den Tischen lagen Papierfetzen herum – die Arbeit war vollbracht, aber die Müdigkeit war so gross, dass man eigentlich noch keine Freude über das Erzielte empfand. Aber die Hauptsache war verrichtet. Immerhin befreite das Bewusstsein erfüllter Pflicht alle vom Albdruck der Passivität.

Die Einigung muss für die Anwesenden ein grosser Erfolg gewesen sein.
Aus Zimmerwald gingen die Delegierten in einer ganz anderen Stimmung, als sie gekommen, nach Hause! Was als unmöglich hingestellt worden war, was man monatelang vergeblich hatte zustande bringen wollen, war erreicht. In einigen Tagen würde die Arbeiterschaft der Welt erfahren, dass leitende Revolutionäre aller Länder sich zum Kampf gegen den Krieg geeint hatten.

Während des Ersten Weltkriegs schlugen sich die sozialistischen Parteien vieler Länder auf die Seite ihrer kriegsführenden Regierungen. Welche Position nahm die Zimmerwalder Bewegung ein?
Das Hauptmerkmal bestand darin, dass sie auch während des Krieges die Idee des Klassenkampfes nicht aufgab, sondern darin das einzige Abwehrmittel gegen den Krieg erblickte. Auf den Trümmern der Zweiten Internationale, die bei Ausbruch des Krieges nicht nur politisch versagt hatte, sondern auch ideologisch den Klassenkampf aufgab und den Burgfrieden zur Richtschnur des sozialistischen Denkens und Handelns erhob, war Zimmerwald entstanden.

Die Zimmerwald-Konferenz hatte ihre Vorläufer, unter anderem eine internationalistische Frauenkonferenz vom März 1915 in Bern. Wieso ein Frauenkongress?
In diesem schweren Kampfe sollten die Frauen, da die Männer gewaltsam dem Klassenkampf entrissen waren, eine Avantgarde, die glorreiche Avantgarde bilden.

Die Schweiz eignete sich als neutraler Staat für sozialistische Zusammenkünfte. Und mit Robert Grimm spielte ein hiesiger Sozialist eine wichtige Rolle. Wie kam er dazu?
Es gab eine Zeit, Wochen und Monate, wo Grimm im Vordergrund der öffentlichen Meinung der ganzen Welt stand, sein Name auf den Lippen aller Zeitungsleser war. Grimm war weit über die engen Grenzen seines kleinbürgerlichen Vaterlandes tätig. Die Sehnsucht nach einem Überschreiten dieser engen Grenzen hatte Grimm als jungen Arbeiter nach Deutschland geführt.

Auch Sie führten als Berufsrevolutionärin ein rastloses Leben. Sie stammten aus einer wohlhabenden Familie in Kiew. Wie standen Sie zu Ihrer Familie, die Sie zu einer «höheren Tochter» erziehen wollte?
Schon als ganz junges Wesen hatte ich gegen meine bürgerliche Umgebung rebelliert und in meinen Angehörigen unbewusst und mittelbar die bürgerliche Gesellschaft mit aller ihr anhaftenden Lüge, Heuchelei und dem von mir so innig gehassten Konventionalismus bekämpft.

Sie verliessen Ihre Familie, um in Europa zu studieren, zuletzt in Rom beim Marxisten Antonio Labriola. In Italien gehörten Sie dann später zur Redaktion des «Avanti», des Zentralorgans der Sozialistischen Partei. Chefredaktor war Benito Mussolini. 1914 gab er in einem Artikel die Antikriegshaltung auf. Für diesen Verrat wurde Mussolini aus der Partei ausgeschlossen. Wie war Ihre Reaktion?
Ich sagte zu Mussolini: «Wenn man so etwas schreibt, geht man entweder ins Irrenhaus, oder aber man zieht die Konsequenzen und geht an die Front; in der Partei hat solches Zeug keinen Platz.» Dieser Mensch, dessen Stärke so allgemein bewundert und verschrien wird, ist der erbärmlichste Schwächling.

In die Schweiz kamen Sie ein erstes Mal, um italienische Einwanderer zu organisieren. Können Sie deren Arbeitsbedingungen beschreiben?
Diese italienischen Arbeiter, die eigentlich Emigranten waren, schienen mir nach dem russischen Volke die Erniedrigtsten, Enterbtesten, Ausgebeutetsten und deshalb Hilfsbedürftigsten zu sein. Ihnen durch sozialistische Propaganda das Gefühl für Klassenwürde beizubringen, war das Ziel, zu dem ich mich nach St. Gallen begab.

Sie waren in der Schweiz wiederholt politisch tätig. 1918 wurden Sie während des Generalstreiks mit anderen Revolutionären und Revolutionärinnen ausgewiesen. Wie hat sich die Ausschaffung damals abgespielt?
Wir wurden in anderthalb Dutzend Autos zusammengepfercht, die von je einem Panzerauto begleitet waren. Nun fing das Verrückteste an, was man sich überhaupt vorstellen konnte. Zwei Tage und eine Nacht wurden wir im Lande umhergejagt, ohne Ziel und ohne Zweck. Alle Industrieorte wurden gemieden: aus Furcht vor Demonstrationen zu unseren Gunsten!

Sie haben die Schweiz oft als kleinbürgerlich beschrieben. Worin bestand Ihr letzter Eindruck?
Eine Bemerkung, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde, fiel vor unserer Abfahrt. Nicht etwa ein Beamter, sondern ein Arbeiter rief dem deutschen Zugführer zu: «Lasst es dort vor Hunger krepieren, das Gesindel!»

Sie gingen nach Moskau, wo die Oktoberrevolution stattgefunden hatte. Wie wurden Sie dort empfangen?
Als ich, aus der Schweiz ausgewiesen, zu definitivem Aufenthalt nach Moskau kam, wurde ich sofort in die Agitation hineingezogen. Was der Russischen Revolution jener Zeitperiode einen strahlenden Nimbus verlieh, ist der Umstand, dass diejenigen, die sie leiteten, ihre Macht nicht missbrauchten.

Wie konnte es dann passieren, dass die Revolutionsregierung die Bodenhaftung verlor?
Man beging den grossen Fehler, der sich auch bitter rächte, sich den Massen gegenüber ganz autoritär zu verhalten, ihre Einstellung ganz mechanisch zu betrachten. Jemand ist aus theoretischem Grunde zu einer Lösung gekommen, einige Hundert haben das in der Zeitung gelesen und gutgeheissen, das sollte genügen, um den Massen das plausibel zu machen, was man ihnen bisher als auszurottendes Übel dargestellt hatte! Die Revolution kann keine Sklaven brauchen, keine resignierten Wesen.

Sie selbst waren als Sekretärin der Dritten Internationale tätig. Durch interne Machtkämpfe wurden Sie aber zunehmend an den Rand gedrängt.
Dieses erbärmliche System der Willkür, des Servilismus, der Demagogie hat der revolutionären Ideologie in den Augen ihrer Anhänger wie ihrer Feinde mehr geschadet, als die mächtigste Koalition der Arbeiterfeinde aller Länder das zu tun vermocht hätte. Denn durch dieses System ist der Geist der revolutionären Bewegung getroffen worden.

1920 kehrten Sie der Sowjetunion den Rücken. Dem Sozialismus sind Sie trotzdem ein Leben lang treu geblieben. Warum?
Der Mensch wird nicht nur dem anderen Menschen gegenüber frei sein, sondern auch der Natur gegenüber viel freier, selbstständiger, selbsttätiger. Darum kann es für einen nach Freiheit strebenden, stolzen Menschen kein anderes, kein fruchtbareres Kampffeld geben als den Sozialismus.

* Die Antworten von Angelica Balabanoff entstammen ihrem Buch «Erinnerungen und Erlebnisse» von 1927 (vergriffen).

Angelica Balabanoff

Heute weitgehend vergessen, war Angelica Balabanoff (1878–1965) eine der prägenden Frauen der ArbeiterInnenbewegung. Die begnadete Rednerin kannte die halbe Welt: Gemeinsam mit dem späteren faschistischen «Duce» Benito Mussolini arbeitete sie bei der sozialistischen Zeitung «Avanti». Mit Robert Grimm organisierte Balabanoff die Friedenskonferenz von Zimmerwald.

Später folgte sie Lenin in die Russische Revolution – um sie, mit eigenen Worten, als «erste Revolutionärin» wieder zu verlassen, «freiwillig, aus politisch-ethischen Gründen».

Zwei neue Manifeste : Das umstrittene Erbe von Zimmerwald

Im Berner Ort Zimmerwald trafen sich vom 5. bis zum 9. September 1915 prominente sozialistische GegnerInnen des Ersten Weltkriegs zu einer geheimen Konferenz, unter ihnen Lenin und Trotzki. In einem Manifest verurteilten sie die Kriegsunterstützung sozialistischer Parteien, die zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale unmittelbar vor Kriegsausbruch geführt hatte, und riefen die ArbeiterInnen zum Klassenkampf auf.

Zwei weitere Konferenzen folgten: die erste 1916 im bernischen Kiental, wo die Verweigerung der Kriegskredite im Zentrum stand, die zweite 1917 in Stockholm, wo zum internationalen Massenstreik aufgerufen wurde. Mit der Gründung der Dritten Internationale im März 1919 in Moskau hatte Zimmerwald gemäss Angelica Balabanoff «seine Schuldigkeit getan».

Gleich zwei Veranstaltungen erinnern am kommenden Wochenende an das friedenspolitische Erbe Zimmerwalds: Im Volkshaus Bern lädt am 4./5. September die Robert-Grimm-Gesellschaft zur Tagung, bekannter Gast ist Gregor Gysi von der deutschen Partei Die Linke. Im Progr in Bern treffen sich gleichzeitig die Jusos. Für beide Veranstaltungen ist je ein neues Zimmerwalder Manifest im Umlauf. Wie schon vor hundert Jahren sind hitzige Diskussionen zu erwarten. So kritisiert die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) den Entwurf der Robert-Grimm-Gesellschaft: Bei allen zivilen friedenspolitischen Forderungen handle es sich um ein «subtiles Argumentarium für Militärinterventionismus».

Rahel Locher, Kaspar Surber

www.zimmerwald1915.ch, www.juso.ch