25 Jahre vereinigtes Deutschland: Das Versprechen der blühenden Landschaften

Nr. 40 –

25 Jahre nach dem Ende der DDR bleibt Ostdeutschland in einem fragilen Zustand. Der «freie Markt» und der von der Politik initiierte Strukturwandel schaffen mehr Probleme, als sie lösen. Doch bei einer Fahrt durch das Bundesland Brandenburg stösst man auch auf erstaunliche Entwicklungen.

Ständig reisen Studiengruppen an, um das hier praktizierte Modell zu studieren: Hühner auf dem Biobauernhof in Brodowin nahe der polnischen Grenze. Foto: Franziska Rutscher

Frauke Petry weiss, wie sie einen Saal für sich einnimmt. Die Vorsitzende der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) spricht an diesem Septemberabend im Bürgersaal der Brandenburger Gemeinde Neuenhagen zum Thema «Asylchaos stoppen». Petry appelliert an das Nationalgefühl: Deutschland müsse endlich souverän werden und sich weder von der EU noch von den USA vorschreiben lassen, was es zu tun habe. Petry schürt Ängste: Allein in Libyen würden «zwanzig Millionen auf gepackten Koffern sitzen». Petry sät Neid: Asylsuchende würden so viel bekommen wie Hartz-IV-EmpfängerInnen und dazu noch Gratis-WLAN. Petry betreibt Kulturkampf: Der Islam sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Und sie erinnert die Anwesenden an die gemeinsame Vergangenheit: Die Asyldiskussion in den Medien erinnere sie an die DDR, weil alle Zeitungen dasselbe schrieben. Am Schluss ihrer Rede stehen die meisten der etwa 300 ZuhörerInnen auf und spenden ihr tosenden Applaus.

Frauke Petry und ihre Partei sind eine der unangenehmeren Seiten, auf die man bei der Reise durch das flächenmässig grösste der neuen Bundesländer stösst. Brandenburg ist die Hochburg der AfD, die Partei gewann bei der Landtagswahl im Herbst 2014 über zwölf Prozent der Stimmen. Sie kann von der latenten Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung profitieren. Von Leuten, denen die Wende jahrelange Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von der Sozialhilfe gebracht hat. Denn auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das Gebiet der ehemaligen DDR noch nicht auf dem Wohlstandsniveau Westdeutschlands angelangt – trotz geschätzter Transferleistungen von bislang über einer Billion Euro. Die «blühenden Landschaften», die «Wendekanzler» Helmut Kohl der ostdeutschen Bevölkerung versprochen hatte, sind bis heute vielerorts Illusionen geblieben. Der «freie Markt» hat zu vielen Fehlentwicklungen geführt, staatliche Strukturpolitik oftmals völlig falsche Anreize gesetzt.

Allerdings ist gerade eine Gemeinde wie Neuenhagen ein atypisches Beispiel. Neuenhagen gehört zum sogenannten Speckgürtel um Berlin. Anders als in den meisten anderen Teilen des neuen Bundeslands hat hier die Bevölkerungszahl wegen der Nähe zur Hauptstadt seit 1999 um ein Drittel zugenommen. Und die AfD ist hier alles andere als breit akzeptiert. Schon eine Stunde vor Beginn ihrer Veranstaltung demonstrierten vor dem Bürgersaal über hundert Menschen gegen die Fremdenfeindlichkeit der Partei. Viele hier zeigen sich Asylsuchenden gegenüber offen: So konnten vor kurzem rund fünfzig AsylbewerberInnen, die aus einem Flüchtlingsheim im nahen Hoppegarten ausziehen mussten, privat untergebracht werden.

Anthroposophische Idylle

Fährt man von Neuenhagen einige Dutzend Kilometer weiter Richtung Nordosten, so stösst man auf ein kleines Wunder: Hier, gut achtzig Kilometer nordöstlich von Berlin, schon ganz nahe an der polnischen Grenze, erstreckt sich im Dorf Brodowin ein gleichnamiger Biobauernhof auf der Fläche von 2000 Fussballfeldern oder 1400 Hektaren. Ein Hof, der 110 Menschen fest beschäftigt und in der Sommersaison zusätzlich rund 20 Arbeitskräfte einstellt. Ein Hof in einer bezaubernden, hügeligen Landschaft, mit Kuhweiden und Ackerflächen, abgegrenzt durch Hecken und Büsche.

Das Ökodorf Brodowin ist ein Beispiel dafür, in welche Richtung sich die Landwirtschaft Ostdeutschlands auch hätte entwickeln können. Geschäftsführer Ludolf von Maltzan sitzt an einem Cafétisch im Hofladen und erzählt dem Besucher, wie Brodowin zum Biolandbau kam: Angefangen habe es mit der Wende. Die DorfbewohnerInnen von Brodowin und Umgebung arbeiteten damals zumeist in zwei grossen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs). Einige im Dorf stellten sich die Frage, was im Kapitalismus aus ihrer Gegend denn nun werden sollte. Das Land der Genossenschaften war wieder in den Besitz der früheren BäuerInnen gelangt, doch die meisten wollten nicht selbstständige LandwirtInnen werden. Einige engagierte DorfbewohnerInnen formulierten das Ziel, möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten und die Natur in dieser Gegend schützen zu wollen. Eine Umstellung auf Biolandbau lag da eigentlich auf der Hand. Dass man sich dann auch gleich noch an die besonders strengen Richtlinien des biologisch-dynamischen Demeter-Verbands halten wollte, war dem besonders überzeugenden Referat eines eingeladenen Anthroposophen geschuldet.

«Das Ganze hätte ohne Geld aus dem Westen nicht funktioniert», sagt Ludolf von Maltzan. Fünfzehn Jahre lang habe der Betrieb nur Verluste gemacht. Erst seit wenigen Jahren sei er aus eigener Kraft über Wasser zu halten.

Brodowin ist inzwischen zum Modellfall geworden: 250 Busse fahren jedes Jahr mit Studiengruppen vor, die mehr über das Ökodorf erfahren wollen. Die Nähe zu Berlin ist für Brodowin entscheidend. Die Brodowiner Marke – ein Ochse mit Pflug – ist in der Grossstadt bestens bekannt. Über ein Biogrosshandelsunternehmen kommt Brodowin mit seinen Milchprodukten, Fleischerzeugnissen, Eiern, seinem Getreide, Gemüse und Öl in die grossen und kleinen Bioläden der Stadt; per Internet liefert das Unternehmen «Ökokörbe» direkt an die Haustür.

Geschäftsführer Ludolf von Maltzan betont, dass sich die Biobetriebe in der Gegend weniger als Konkurrenten denn als Kooperationspartner verstehen. Brodowin arbeitet mit rund fünfzig Zulieferern und Weiterverarbeitungsbetrieben zusammen. Es ist eine eigene Biowelt, die sich um Brodowin entwickelt hat.

60 000 Schweine mitten im Wald

«Brodowin liegt im Zentrum eines Riesennukleus», sagt auch der grüne Landtagsabgeordnete Axel Vogel, der die Entwicklung der Landwirtschaft Brandenburgs intensiv verfolgt. Was in der Gegend um Brodowin nach 1989 passiert ist, hält Vogel für eines der wenigen positiven Beispiele ländlicher Entwicklung in der ehemaligen DDR. Vierzig Prozent aller Betriebe in der Gegend produzierten heute nach biologischen Richtlinien. Es würden dort deutlich mehr Arbeitsplätze pro Hektare landwirtschaftlicher Fläche angeboten als in der konventionellen Landwirtschaft. Mitentscheidend für die Entwicklung der Gegend zu einem Öko-Valley war die Hochschule für nachhaltige Entwicklung im nahe gelegenen Eberswalde. Sie bildet eine Vielzahl von künftigen BäuerInnen aus, die in die Biolandwirtschaft wollen, und arbeitet unablässig an einer Vernetzung von ökologischen ProduzentInnen.

Fragt man Vogel nach weiteren positiven Entwicklungsbespielen, so kommt der grüne Politiker ins Grübeln. «Das Grundproblem sind die riesigen Güter, die nach der Wiedervereinigung vielfach nicht in kleinere Einheiten aufgeteilt wurden», sagt er. Die grossen LPGs seien bei der Überführung in die Privatwirtschaft vom Staat bevorteilt worden, klagt Vogel. Diese Nachfolgebetriebe würden zum grossen Teil konventionelle Landwirtschaft betreiben. Die AnteilseignerInnen kämen zudem inzwischen vielfach ins Pensionsalter und würden ihr Land und ihre Betriebe an grosse Kapitalgesellschaften verkaufen. Nicht nur Vogel, auch das brandenburgische Landwirtschaftsministerium spricht von einer dramatischen Entwicklung. Die Land- und Pachtpreise seien stark gestiegen, weil immer mehr landwirtschaftliche Fläche als Kapitalanlage dient. Der Agrarkonzern KTG Agrar etwa hat nach Schätzungen bereits 40 000 Hektaren Land rund um Berlin unter seine Kontrolle gebracht, neun Prozent der KTG-Aktien gehören der chinesischen Beteiligungsgesellschaft Fosun. Die KTG lehnte einen Besuch der WOZ auf einem ihrer Brandenburger Betriebe trotz frühzeitiger Anfrage ab. «Solche Firmen schaffen nur ganz wenige Arbeitsplätze», sagt Axel Vogel. «Die fahren mit dem Tieflader von Acker zu Acker, wo sie im Frühling mit schweren Maschinen innerhalb eines Tages das Feld bestellen und im Herbst dann wieder abernten.»

Doch die falsche Strukturpolitik geht noch viel weiter: So sind in Deutschland Biogasanlagen, die Strom produzieren, dank der «Energiewende» und entsprechender Bundesgesetze extrem lukrativ geworden. Wer Strom aus erneuerbaren Quellen ins öffentliche Netz einspeist, dem wird während zwanzig Jahren ein fester Preis garantiert. Aus diesem Grund wird im grossen Stil unter Einsatz von künstlichem Dünger und Pestiziden Mais angepflanzt und zu Biogas verarbeitet. «Auch mit Schweinescheisse hat man eine Lizenz zum Gelddrucken», sagt Vogel, denn auch damit wird Strom produziert. Die Mästereien in Brandenburg werden dementsprechend immer grösser. Das Schweinefleisch wird billig auf dem Weltmarkt verkauft. Vogel zeigt auf seinem iPad Google-Earth-Bilder von Tornitz bei Vetschau. Mitten in einem Wald sind hier grosse, lang gezogene Scheunen zu sehen: ein Mastbetrieb mit 50 000 Schweinen. «Und jetzt wollen sie sogar die Kapazität nochmals um 15 000 Schweine erhöhen.» Seit 1990 hat die Zahl der Menschen in Vetschau dagegen um ein Viertel abgenommen.

Die Zahl der Menschen nimmt ab, die der Schweine zu: Mastanlage in Tornitz bei Vetschau in Südbrandenburg. Foto: Animal Rights Watch

Dass man auch mit bescheidenen Mitteln und wenig Fläche erfolgreich Landwirtschaft betreiben kann, zeigt das Beispiel von Hanna und Johannes Erz aus Friedersdorf rund siebzig Kilometer östlich von Berlin. Die beiden Süddeutschen haben von 2009 bis 2012 in Eberswalde Ökolandbau und Vermarktung studiert und in Friedersdorf einen verlassenen Hof mit wenigen Hektaren Land gekauft. Hier züchten sie Hühner der Sussex-Rasse und bieten ihnen 24 Stunden am Tag Auslauf. Ein Hund sorgt für den Schutz vor Füchsen. Mit dem Hühnermist düngen sie Gemüsefelder, auf denen auch zwei Treibhäuser stehen. Eier und Gemüse fährt Johannes Erz dreimal pro Woche zusammen mit Bioprodukten von benachbarten Höfen direkt zu Berliner Bioläden und einigen Restaurants. Direkte Kundenbeziehungen sind ihm wichtig: «Dafür stehe ich gerne morgens um halb fünf Uhr auf.» Die beiden könnten eigentlich mit 4000 bis 5000 Euro an staatlichen Subventionen rechnen – doch sie verzichten bewusst auf eine entsprechende Eingabe und wollen unabhängig vom Staat bleiben. Vor kurzem haben sie nun einen weiteren Hof gekauft und planen für nächstes Jahr, noch zwei Leute anzustellen. Dann soll auch die Zahl der Hühner von jetzt rund 400 auf 800 verdoppelt werden.

Die sozialistische Planstadt

Von Friedersdorf sind es nur noch wenige Kilometer an die Oder, die die Grenze zu Polen markiert. Folgt man dem unter dem preussischen König Friedrich II. begradigten Strom Richtung Süden, so kommt man rund zwanzig Kilometer hinter Frankfurt an der Oder nach Eisenhüttenstadt, der ersten sozialistischen Planstadt der DDR: Hier baute der neue Staat in den fünfziger Jahren ein Stahlwerk mit vier Schmelzöfen und eine Wohnstadt für die ArbeiterInnen. Ein paar Jahre hiess der neue Ort Stalinstadt. Die Stadt steht heute zu grossen Teilen unter Denkmalschutz. Nicht aus billigen Betonplatten gefertigt, sondern mit Ziegelsteinen gemauert, besteht sie im Kern aus vier riesigen Wohnkomplexen, die jeweils grosszügige Hofstrukturen mit viel Freiflächen, Wiesen und Spielplätze für Kinder bilden. Ende der achtziger Jahre wohnten 53 000 Menschen in Eisenhüttenstadt, heute sind es noch 28 000. Mit der Wende entliess das Stahlwerk immer mehr Beschäftigte, neue Jobs gab es nicht. Viele später errichtete Plattenbauten am Rand der Stadt sind inzwischen wieder abgerissen worden. Die Kernstadt dagegen wird mit Geldern des Landes Brandenburg schrittweise saniert.

Beim Gang durch die Stadt fallen die vielen Skulpturen auf, die auf Plätzen stehen, aber auch Mosaike und Sgraffitos finden sich an den Fassaden. Die Stadt ist heute eine Art Freilichtmuseum für DDR-Kunst. In den Häusern wohnen zur Mehrheit RentnerInnen wie die siebzigjährige Barbara Struck. Sie sagt, nach allen Abzügen für Miete und Versicherungen blieben ihr gerade noch 120 Euro im Monat. Eisenhüttenstadt sei in der DDR-Zeit ein beliebter Wohnort gewesen, weil jeder schnell sowohl Arbeit als auch eine Wohnung bekam.

Wie das Schrumpfen der Wohnbevölkerung von Eisenhüttenstadt gestoppt werden kann, bleibt offen. Zwar raucht das Stahlwerk noch, doch statt der einst 16 000 Beschäftigten arbeiten nur noch knapp 3000 hier. Zählt man aber die Angestellten aller Zulieferbetriebe dazu, so hängt hier nach wie vor die Mehrheit der Arbeitsplätze vom Stahlwerk ab. Besitzer des Werks ist inzwischen der multinationale Konzern Arcelor-Mittal, der auf der ganzen Welt Stahlwerke besitzt. Was passieren würde, wenn der Konzern auf die Idee käme, das Werk wegen des tiefen Stahlpreises und der nachlassenden Nachfrage auf dem Weltmarkt zu schliessen, wagt man sich nicht auszudenken.

Von Eisenhüttenstadt ist in jüngster Zeit vor allem deshalb in der deutschen Presse zu lesen, weil sich hier das Brandenburger Erstaufnahmezentrum für AsylbewerberInnen befindet. Derzeit lebten rund 3000 AsylbewerberInnen in der Stadt, sagt Bürgermeisterin Dagmar Püschel (Die Linke). Püschel betont, dass es wegen der Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt bislang zu keinen rechtsradikalen Übergriffen gekommen sei. Die AfD dagegen, die in der Stadt bei der letzten Landtagswahl über zwanzig Prozent der Stimmen holte, spricht im Zusammenhang mit dem Erstaufnahmelager von «katastrophalen Zuständen» und suggeriert, viele Asylsuchende würden ohne triftige Asylgründe «auf unsere Kosten» in der Einrichtung leben. Püschel sagt, es gebe «besorgte Bürger», mit denen man aber reden könne. Zum Stadtfest Ende August lud Püschel auch die Flüchtlinge ein – und nichts sei passiert. «Es war ein gemeinsames Feiern.»

Frierende Flüchtlinge

Allerdings stört Püschel auch – ähnlich wie Frauke Petry –, dass die Medien alle dasselbe verbreiteten. Es gebe nur noch die Meinung «Wir schaffen das», vorgegeben von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das sei anmassend. 3000 Asylsuchende in Eisenhüttenstadt stellten eine grosse logistische Herausforderung dar. Ausserdem sei es fragwürdig, dass das Land Brandenburg die Menschen in Zelten unterbringe. Brandschutzbestimmungen würden nicht eingehalten. Man habe dem Bundesland angeboten, ein ehemaliges Schulgebäude zu benutzen, doch sei bislang nichts passiert.

Gespräche mit Flüchtlingen beim Eingang der grössten Zeltstadt des Erstaufnahmezentrums in Eisenhüttenstadt belegen, dass viele nachts in den Zelten frieren. «Die Verpflegung ist schlecht», beklagt zudem ein vierzigjähriger syrischer Lehrer, «ich bin den ganzen Tag hungrig.» Ein anderer zeigt seine im Krieg verstümmelte Hand und sagt, er könne deswegen nachts nicht schlafen, die Hand sei die ganze Zeit eiskalt. Er hat bereits seinen Rucksack gepackt und will jetzt versuchen, nach England zu gelangen.