Einbürgerungspraxis: Der Tag, an dem sich vieles entscheidet

Nr. 40 –

Die Geschichten von Gönül Calin und Belma Ganic sind Beispiele für die Willkür, die auch nach der Abschaffung von Urnenentscheidungen in den Gemeinden existiert. Mit fatalen Folgen.

Gönul Calin, nicht eingebürgert: «Meine Papiere sagen mir: Du hast hier nichts zu sagen.»

Gönül Calin sitzt auf dem schwarzen Sofa ihrer Blockwohnung und erzählt von einer Enttäuschung, die man vielleicht mit dem Verlassenwerden vergleichen kann. Da bist du glücklich mit jemandem, und plötzlich eröffnet er dir, dass seine Gefühle nicht ausreichen. Du fällst ins Bodenlose, bevor langsam die Verarbeitung folgt: Trauer, Wut, Akzeptanz, Neubeginn.

Bei Calin dauerte die Verarbeitung drei, vier Jahre. Zurückgewiesen wurde sie nicht von einem Mann, sondern von einem Dorf: Pfäffikon SZ, wo die 34-Jährige ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Ihre Kinder gehen heute in die gleiche Primarschule wie sie damals, und mit den Müttern mancher Gschpänli ist sie seit der Kindheit befreundet. Der soziale Kitt im Dorf sei gross, sagt Calin. Deshalb blieb sie. Und deshalb hatte sie nicht im Geringsten damit gerechnet, dass man sie ablehnen würde. «Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass die Einbürgerung klappt. Dafür hätte ich die Hand ins Feuer gelegt.»

Bessere Integration mit Pass

Calin ist eine von rund 700 ProbandInnen der weltweit ersten Studie, die gründlich untersucht, wie sich Einbürgerungsentscheide langfristig auf die soziale und politische Integration auswirken. Lanciert wurde sie von ForscherInnen um Dominik Hangartner, Leiter des Forschungsprojekts für Migration und Integration an der Uni Zürich. Als reales Laboratorium dienten jene 46 Gemeinden in der Inner- und der Ostschweiz, in denen es bis vor wenigen Jahren Usus war, die Eckdaten einbürgerungswilliger EinwohnerInnen mit den restlichen Abstimmungsgeschäften an die Haushalte zu verschicken. Sodass jeder ungeniert Nein ankreuzen konnte, wenn ihm Herkunft, Hautfarbe oder bloss die Nase einer Bewerberin nicht passte.

Die Willkür solcher Entscheide ermöglichte Hangartner und seinen MitarbeiterInnen objektive Vergleichswerte. Sie befragten Menschen, deren Gesuche zwischen 1970 und 2003 angenommen oder abgelehnt wurden (fast die Hälfte davon nur ganz knapp) und die sich zum Zeitpunkt ihres Einbürgerungsgesuchs bezüglich Aufenthaltsdauer und messbarer Integrationswerte (Sprache, Vereinsmitgliedschaften und so weiter) kaum unterschieden. Das Resultat der Studie lässt sich in drei Hauptaussagen zusammenfassen: Wer den Schweizer Pass erhielt, ist heute tendenziell signifikant besser integriert; je früher jemand eingebürgert wird, desto deutlicher ist der Effekt. Und: Je marginalisierter eine MigrantInnenengruppe ist, desto entscheidender ist die Einbürgerung für ihre erfolgreiche Integration.

Bevor die StimmbürgerInnen von Pfäffikon im Juni 2003 über Calins Einbürgerungsgesuch entschieden, musste sie sich an der Gemeindeversammlung präsentieren. Calin war nervös, aber guten Mutes. Sie hatte sich auf ihren Auftritt vorbereitet. Sich genau überlegt, was sie über sich und ihren Wunsch, Schweizerin zu werden, sagen würde. Ihre Notizen in den etwas klammen Händen, wartete sie an besagtem Sonntag, bis sie an der Reihe sein würde. Mit ihr, so Canil, bewarben sich «eine dunkelhäutige Familie und ein alter Schulkollege aus Exjugoslawien». Zu Wort kamen die BewerberInnen zu Calins Erstaunen nicht. «Als es um unsere Gesuche ging, stellte sich einer von der Gemeinde an den Hellraumprojektor. Er stand da und erzählte in zwei, drei Minuten mein Leben. Das war ein beschissenes Gefühl.» Eingebürgert wurde am Ende die Familie. Die anderen zwei Gesuche wurden knapp abgelehnt, das von Calin mit 51 Prozent der Stimmen.

Calin gehört zur dritten Einwanderergeneration. Ihre vier türkischen Grosseltern kamen in den sechziger Jahren als ArbeiterInnen in die Innerschweiz. Ihre Leben pendelten zwischen der alten und der neuen Heimat – die sich die Familie mit jeder Generationen mehr aneignete. Ihre Einbürgerung hielt Canil für reine Formsache.

Doch nach dem Negativentscheid war das plötzlich anders. Er stellte Selbstverständlichkeiten infrage, machte etwas mit dem Selbstbewusstsein der jungen Frau. Nach dem Urnenentscheid fühlte sie sich abgelehnt; geblieben ist ein diffuses Gefühl der Unsicherheit. Es sei vielleicht dumm, sagt sie. «Aber ich fühle mich mit meinem C-Ausweis nicht hundert Prozent sicher. Es bleibt immer die Angst, dass sich die Gesetze ändern könnten. Dass ich plötzlich meinen Aufenthaltsstatus verliere. Meine Papiere sagen mir: Du bist anders. Du gehörst nicht dazu. Du hast hier nichts zu sagen.»

Das Stimmrecht politisiert

Studienleiter Dominik Hangartner hat bei den Befragungen oft ähnliche Äusserungen gehört. «Das subjektive Gefühl, diskriminiert zu sein», sagt er, «ist bei den Teilnehmern mit einem Negativentscheid auffällig hoch.» 43 Prozent der ProbandInnen ohne Schweizer Pass gaben an, sich nicht gleichberechtigt zu fühlen. Bei den eingebürgerten TeilnehmerInnen waren es nur 13 Prozent. Eine Tatsache, die sich offenbar stark auf die Identifikation mit der Schweiz auswirkt. So planen etwa 83 Prozent aller eingebürgerten ProbandInnen, ihren Lebensabend in der Schweiz zu verbringen; bei den Abgelehnten sind es nur 60 Prozent. Nicht überraschend stellt die Studie zudem fest: Wer den Schweizer Pass bekam, eignete sich über die Jahre ein Wissen über die hiesige Politik an, das dem eines durchschnittlichen gebürtigen Schweizers entspricht – während die abgelehnten ProbandInnen um knapp dreissig Prozent schlechter abschnitten. Das Stimmrecht politisiert: Tendenziell gingen die eingebürgerten StudienteilnehmerInnen leicht häufiger abstimmen als der durchschnittliche «Eidgenosse».

Feuerwerk zur Ankunft

Belma Ganic war neunzehn Jahre alt, als die StimmbürgerInnen von Brunnen (ebenfalls Schwyz) ihr das Bürgerrecht erteilten. Es war der Abschluss einer Integrationsgeschichte, deren Happy End sich abgezeichnet hatte. Ganic, heute Projektleiterin bei der Basler Versicherung, lacht über die Symbolträchtigkeit ihrer Ankunft in der Schweiz – und erzählt dennoch ohne ironischen Unterton von den Feuerwerken, die an diesem 1. August am Sihlsee den Nachthimmel erleuchteten. «Das war wunderschön.»

Ganic war damals acht Jahr alt. Ihre aus dem Bosnienkrieg geflohene Familie verschlug es nach den ersten Monaten im Asylzentrum Einsiedeln nach Brunnen am Vierwaldstättersee. Sie und ihre Schwester gehörten Anfang der neunziger Jahre zu den ganz wenigen Ausländerkindern im Dorf. Man fiel auf, doch in der Schule sei die Herkunft bald kein Thema mehr gewesen. In Brunnen gab es keine Integrationsklassen. Ganic war meist die einzige Schülerin mit Migrationshintergrund – und profitierte davon: «Meine Schweizer Freundinnen wollten alle ans Gymi – ich habe mich leistungsmässig stark an ihnen orientiert.»

Ganic fühlte sich rasch als Schweizerin. Zur Einbürgerung entschloss sie sich, als im Politikunterricht über die baldige erste Abstimmung gesprochen wurde – an der nur sie nicht teilnehmen durfte. Es waren vor allem SchulkollegInnen und LehrerInnen, die ihr zum Schritt rieten – und im Dorf für sie weibelten. Komisch kam es ihr damals nicht vor, dieses direktdemokratische Votum zu ihrer Person. Immerhin herrschte beim Vorsprechen im Gemeindesaal eine freundliche Atmosphäre. Und die Sache ging, trotz einiger brieflicher Beschimpfungen, gut. Nach dem Gymnasium studierte Belma Ganic Wirtschaft. 31 ist sie heute und sagt: «Es gab auch in meinem Leben Diskriminierung – aber das Positive, das mir hier passiert ist, überwiegt ganz klar.»

Immer Fragen nach dem Bürgerort

Vielleicht wäre auch Gönül Calin bei der Einbürgerung auf mehr Wohlwollen gestossen, hätte sie statt des Realschulabschlusses eine steilere Schulkarriere vorzuweisen gehabt. Heute wiederum wirkt sich der Willkürentscheid erschwerend auf ihr berufliches Vorankommen aus. Calin arbeitet am Empfang einer Grossmetzgerei – ein Bürojob, den sie sich ohne KV, aber mit viel Fleiss angeeignet hat. Schreibt sie Bewerbungen, ist da immer diese eine Zeile im Lebenslauf, der ihr das Leben schwermacht: der Bürgerort. «Da steht dann statt Pfäffikon irgendeine türkische Stadt, und damit ist es meist schon gelaufen.» Auch jeder Vermieter verlangt bei der Bewerbung Auskunft über den Bürgerort. Calin hat sich angewöhnt, immer erst telefonisch nachzufragen; das weiche türkische C ihres Nachnamens spricht sie dabei hart aus, sodass sie auch Französin sein könnte – oder Bündnerin. Dennoch brauchte es vor zwölf Jahren acht Bewerbungen, bis es mit der Familienwohnung klappte. «So viele Bewerbungen – das war in dieser Zeit für Pfäffikon total unüblich.»

Lange wollte Calin nichts von einem zweiten Einbürgerungsversuch wissen. Zu tief sass der Schock. Zu sehr schmerzte die Zurückweisung. Dann folgten die Hochzeit und die Kinder. Calin hatte zu tun und entschied sich irgendwann, mit der Einbürgerung der gesamten Familie zu warten. Die Kinder sollten erst eingeschult werden. Sie sollten Freunde finden, ein soziales Netzwerk haben, sich gut integrieren. «Sie sind die vierte Generation. Und doch verlangt man das noch immer von uns.»

Belma Ganic, eingebürgert: «Das Positive, das mir hier passiert ist, überwiegt ganz klar.»

Mehr zur Studie von Dominik Hangartner und seinen Koautoren Jens Hainmueller und Giuseppe Pietrantuono auf www.citizenship.ch.

Diskriminierung hält an

Einbürgerungsentscheide an der Urne, wie sie Gemeinden in Schwyz, Nidwalden, Luzern, Appenzell, St. Gallen und Graubünden kannten, sind seit 2007 nicht mehr erlaubt. Dies, nachdem das Bundesgericht die Praxis 2003 als widerrechtlich erklärt hatte. Die Richter hatten sich auf das Diskriminierungsverbot gestützt und argumentiert, dass anonyme Abstimmungen ohne Begründungspflicht dagegen verstiessen. Darauf reformierten viele Kantone ihre Einbürgerungsgesetze. Abgeschafft wurden vielerorts nicht nur Urnenentscheide, sondern auch Einbürgerungen an Gemeindeversammlungen – eine Praxis, die vom Bundesgericht als heikel eingestuft wird.

Abgelehnt werden können Einbürgerungswillige an der Gemeindeversammlung zwar nur auf Antrag. Ist die Begründung dazu jedoch diskriminierend, kann sich der Betroffene nur mittels eines komplizierten Wegs durch die gerichtlichen Instanzen wehren. Rund ein Drittel aller Schweizer Gemeinden beharren dennoch auf dieser Praxis. Sie finden sich in Ob- und Nidwalden, Schwyz, Luzern, Uri, Graubünden, Thurgau, Baselland und Solothurn.