Fluchthilfe auf der Balkanroute: In Tagen der offenen Korridore

Nr. 41 –

Ob «Schienenersatzverkehr» gewährleisten oder Tee kochen an der serbischen Grenze – Fluchthilfe nimmt viele Formen an. Unterwegs mit der Open Borders Caravan von der Schweiz bis nach Bapska an der serbisch-kroatischen Grenze.

Die Nächte sind am schlimmsten. Die Kälte fährt in die Knochen, es regnet, alles ist nass. Wir stehen unter windschiefen Partypavillons hinter Festbänken. Die Pavillons, die Zelte, der Matsch, die vielen Menschen, die Technobeats, die aus einem Polizeiauto wummern. Die Übermüdung, der Rausch der Schlaflosigkeit. Manchmal wähnt man sich fast an einem Festival. Die Stimmung ist jedoch eine andere. Kinder weinen im Dunkeln. Während am Tag auch mal Zeit für Scherze bleibt, zeichnen Angst, Stress und Erschöpfung die Gesichter der Ankömmlinge – oder besser: der Durchreisenden.

4000 bis 5000 Menschen pro Tag überqueren den Grenzübergang bei Bapska im serbisch-kroatischen Grenzgebiet. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, und sie sind auf dem Weg nach Europa. Männer, Kinder, Frauen. Allein reisend oder in Gruppen. Mit Gepäck oder nur den Kleidern, die sie am Leib tragen, die Füsse in Plastiksäcke gehüllt. Ein älterer Mann mit geröteten Augen und in zerschlissenen Sandalen bleibt am Stand stehen, trinkt behutsam einen Schluck Tee, kaut langsam einen Keks. Als kommentiere er das Wetter, sagt er: «Seit zwei Tagen habe ich nichts gegessen.»

Offene Korridore

Nur wenige Tage zuvor hatten sich etwas mehr als ein Dutzend Leute aus Zürich und Bern aufgemacht, um sich der von der Interventionistischen Linken (IL) aufgegleisten Open Borders Caravan anzuschliessen. Mit Autos voll mit Schlafsäcken, Wolldecken und Zelten. Und mit grossen Plänen. Die Karawane war als «Schienenersatzverkehr» angekündigt worden. Mit genügend Autos sollte vielleicht gar ein Korridor zu schaffen sein, um mehreren Hundert, ja vielleicht sogar Tausenden Leuten einen sicheren Grenzübertritt zu ermöglichen. Mit im Gepäck auch Seitenschneider und Handschuhe, um nötigenfalls Stacheldrahtzäune durchtrennen zu können. In Ljubljana traf man sich mit AktivistInnen aus Deutschland, Österreich, Italien und Slowenien und fuhr mit ihnen nach Botovo an der kroatisch-ungarischen Grenze. Als die Karawane ankam, war der Grenzzaun bereits zerschnitten. Von kroatischen Polizisten, hiess es.

Seit einigen Wochen schliessen und öffnen sich Europas Binnengrenzen innert weniger Stunden, entsprechend ändern sich auch die Reiserouten. In diesen Tagen waren die Grenzen der sogenannten Balkanroute offen. Den Korridor gab es bereits. Die Karawane löste sich wieder auf.

Wenn die Polizei wegschaut

Die Übriggebliebenen fuhren weiter an die kroatisch-serbische Grenze, nach Bapska. Ursprünglich der Meinung, keine humanitäre Hilfe leisten zu wollen – «das machen andere besser als wir» –, wurden die Freiwilligen aus der Schweiz in Bapska eines Besseren belehrt. Ohne die selbst organisierten HelferInnen aus Kroatien, Slowenien, Ungarn, Österreich, Schweden, Deutschland und der Schweiz, die an zwei Stationen neben der Strasse Essen und trockene Kleider abgeben, gäbe es hier keine Infrastruktur. Zwar sind offizielle Hilfswerke vor Ort. Doch das Uno-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), ohne Mandat von Kroatien, schreibt nur Berichte. Das Rote Kreuz verteilt Streichkäse und macht den freiwilligen HelferInnen das Leben schwer: Sie sollen sich bei ihnen registrieren, sonst dürften sie sich nicht an der Grenze aufhalten. Sie sollten auch kein Essen kochen, sondern nur «dry food» (Kekse und Cracker) ausgeben.

Später kommt die kroatische Gesundheitsministerin vorbei, verbietet ebenfalls das Kochen von Essen und einen Tag später gar das Kochen von Tee. Sobald sie weg ist, wird weiter Tee ausgegeben, nachts auch Essen. Die Polizei drückt jeweils beide Augen zu.

Fliegermützen aus Mazedonien

In Gruppen von der Grösse einer Carladung werden die Flüchtlinge über die Grenze gelassen und an den aufgebauten Zelten vorbeigeschleust. «Hello, how are you?», rufen die Flüchtlinge, «Welcome», rufen wir zurück – hilflose Gesten der Freundlichkeit in Momenten der totalen Überforderung.

Zeit für Gespräche bleibt nicht. Die Polizei treibt die Flüchtlinge vor sich her. Sie selbst wollen keinesfalls den nächsten Bus verpassen – wer weiss, wie lange die Grenzen noch offen bleiben, wo sie das nächste Mal stecken bleiben.

In Reisecars werden die Menschen vom Grenzübergang Bapska ins rund fünfzehn Kilometer entfernte Opatovac in ein Lager gebracht. Nach spätestens 24 Stunden geht es weiter in Zügen Richtung Ungarn, von dort weiter nach Österreich und Deutschland.

Während die Leute auf den nächsten Bus warten, geben die HelferInnen aus, was sie gerade haben: einen warmen Tee, eine Regenjacke, eine Decke, frische Socken. Vor allem Socken: ein unterschätztes Kleidungsstück, unentbehrlich für die Weiterreise, das Weitergehen zu Fuss. Im Notfall zieht man sie sich auch über die kalten Hände. Es frieren viele in diesen Tagen. Das Wetter ist so unberechenbar wie die Durchlässigkeit der Grenzen.

Auf der serbischen Seite ist eine Gruppe von TschechInnen vor Ort. Wir dürfen nicht zu ihnen, sie nicht zu uns. Und doch merken wir, wenn sie gut ausgerüstet sind. Dann kommen die Menschen mit Lunchpaketen und Wolldecken mit Leopardenmuster über die Grenze. Auch Objekte wandern und beschreiben Routen. Immer wieder kommen Männer an, die Fliegermützen mit Kunstfellfutter tragen, eine Art Schutzbrillen obenauf. Irgendwann frage ich nach. «Die haben wir in Mazedonien bekommen.» Auf «unserer Seite» werden kistenweise Kinderjacken mit der Aufschrift «Power Child» verteilt. Vielleicht sehe ich einmal irgendwo ein Power Child auf der Strasse. Dann weiss ich, welchen Weg nach Europa es genommen hat.

Manche sprechen kein Wort Englisch. Gespenstisch fast schon, wie still so viele Menschen sein können. Andere haben den Ami-Slang drauf. «That’s awesome, thanks, guys.» Wieder andere sprechen fliessend deutsch. «Es ist schlimm, was da draussen passiert. Es ist wirklich schlimm …», sagt einer und muss gleich weiter. «Ajmo! Go!», ruft die Polizei. «Jalla, jalla, schabaab!» – Los gehts, Jungs! –, rufen seine Freunde. Viele wissen nicht, wo sie hier genau sind, aber sie wissen, dass sie weiter wollen. Weiter nach Germany.