Russische Avantgarde: Schwarze Sonne über Riehen

Nr. 41 –

Vierzehn KünstlerInnen veränderten mit der Ausstellung «0,10» vor hundert Jahren in St. Petersburg die Kunst radikal. Eine Hommage in der Fondation Beyeler erinnert auch an die Rolle der beteiligten Frauen.

«Nähkästchen», Öl und Collage auf Leinwand: Von Olga Rosanowa waren 1915 an der «letzten futuristischen Ausstellung der Malerei» elf Werke zu sehen. Bild: Öl und Collage auf Leinwand, 58 x 34 cm, 1915, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau

Hinter dem rätselhaften Titel «0,10» («null-zehn») der Ausstellung in der Galerie Nadeschda Dobytschin im russischen St. Petersburg stand kein Geringerer als Kasimir Malewitsch. Der umtriebige Maler war damals, im Dezember 1915, bereits 37 Jahre alt und von einem starken Sendungsbewusstsein geleitet. Ihm schwebte ein künstlerischer Sprung in eine neue geistige Dimension vor: Die gesamte abendländische Kunst wollte er auf den Nullpunkt reduzieren – dafür stand die Null.

Über die Bedeutung der Zahl «10» im Ausstellungstitel streiten sich die SpezialistInnen für die Russische Avantgarde bis heute. Die einen behaupten, «10» stehe für die TeilnehmerInnenzahl an der Ausstellung, obwohl es nach einigem Hin und Her schliesslich vierzehn KünstlerInnen waren. Die anderen vermuten, «null-zehn» sei mit Malewitschs Hang zu metaphysischer Numerologie zu erklären: «0» steht für Unendlichkeit, «10» bedeutet: Alles ist möglich.

Unbestritten ist, dass Malewitsch die Ausstellung nutzen wollte, um den von ihm entwickelten Suprematismus zu lancieren. Den Begriff leitete Malewitsch vom lateinischen «supremus» (das Höchste) ab, was seine Ansprüche auf die führende Rolle in der Kunst offenlegte. Andere Kunstrichtungen wie den in Russland verbreiteten Kubofuturismus bekämpfte er eifrigst. Deshalb fügte er «0,10» auch den Zusatztitel «Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei» bei: Erst im Frühling desselben Jahres hatte nämlich, ebenfalls in St. Petersburg, die Ausstellung «Tramway W – Die erste futuristische Ausstellung der Malerei» stattgefunden. Was die staunende Petersburger Presse zur Bemerkung veranlasste: «Die Pioniere des gestrigen Tages sind heute bereits vergreist.»

Kulturaustausch à la Putin

Zum Hundertjahrjubiläum richtet die Fondation Beyeler in Riehen der legendären St. Petersburger Ausstellung nun eine Hommage aus. Das Vorhaben, so Direktor Sam Keller, habe zeitweise derart unmöglich geschienen, dass es einem Selbstmordkommando gleichgekommen sei. Er spricht von einem schwierigen Projekt mit enormen Kosten, aber auch von einem aufregenden Abenteuer. Teil davon war bereits die Aufführung der futuristischen Oper «Sieg über die Sonne» an der Art Basel im Juni dieses Jahres, zu der Malewitsch 1913 das Bühnenbild geschaffen hatte. Doch offenbar geht zurzeit in Russland der Kulturaustausch mit westeuropäischen Ländern wie der Schweiz nicht mehr so einfach vonstatten wie auch schon. Da gibt es nichts mehr umsonst. Für die Fondation Beyeler lautete der Deal: Werke von Malewitsch und seinem damaligen Mitstreiter Wladimir Tatlin können nur im Tausch gegen Bilder von Paul Klee und Alberto Giacometti ausgeliehen werden.

Gastkurator Matthew Drutt, dessen Spezialgebiet die Russische Avantgarde ist, stöberte in jahrelanger Recherchearbeit in Museen, Archiven und privaten Sammlungen Kunstwerke und Dokumente auf. Und so ist dann doch noch alles gut herausgekommen, wie Sam Keller stolz berichtet: «Schliesslich ist es uns gelungen, Kasimir Malewitschs mythisches ‹Schwarzes Quadrat›, sozusagen die Mona Lisa des 20. Jahrhunderts, auszustellen – wenn auch in der dritten Fassung von 1929.» Das Original aus dem Jahr 1915 darf wegen seiner Fragilität Russland nicht verlassen.

Die Initialzündung der Moderne

Hinsichtlich der Zahl von Interpretationen liegt das schwarze Quadrat von Malewitsch unter den Kunstwerken der letzten hundert Jahre an einsamer Spitze. In seiner Wirkmächtigkeit steht es auf gleicher Stufe wie Pablo Picassos bahnbrechendes Bild «Les Desmoiselles d’Avignon» oder Marcel Duchamps «Grosses Glas». Unter dem Titel «Black Sun» zeigt das Beyeler Museum begleitend zur Rekonstruktion von «0,10» denn auch Kunstwerke aus dem 20. und 21. Jahrhundert, die mit dem «Schwarzen Quadrat» in Beziehung stehen, und versammelt damit atemberaubende Schätze von der klassischen Moderne bis zur Gegenwartskunst. Überzeugender könnte die epochale Bedeutung des «Schwarzen Quadrats» nicht demonstriert werden.

Eines der wenigen noch vorhandenen historischen Zeugnisse von «0,10» ist die Fotografie einer Saalecke der St. Petersburger Galerie. Sie zeigt suprematistische Bilder von Malewitsch, die über die ganze Wandfläche verteilt sind. Unter KunsthistorikerInnen gilt diese Fotografie als eine der interessantesten des 20. Jahrhunderts überhaupt. Kein Buch über Avantgardekunst, das auf die Reproduktion dieses Schwarzweissfotos verzichtete. Grund dafür ist das «Schwarze Quadrat», das in der oberen, östlichen Zimmerecke hängt. An diesem Ort befand sich traditionell die Gottesecke mit der Ikone, dem orthodoxen Heiligenbild. Bis heute wird darüber spekuliert, ob Malewitsch diese provokative Platzierung mit gotteslästerlicher Absicht vornahm oder ob er mit der Spiritualität seiner nicht gegenständlichen Kunst die Religion ersetzen wollte.

Mit Wladimir Tatlin war ein weiterer Künstler an «0,10» vertreten, der am Anfang unabsehbarer, bis heute anhaltender Entwicklungen stand: Tatlin gilt als Begründer des Konstruktivismus und der modernen Rauminstallation. Mit seinen Konterreliefs, einem von ihm erfundenen Begriff, sprengte er den Rahmen des traditionellen Bildes. Sein spannungsreiches Eckrelief von «0,10» ist noch erhalten und in Riehen aufgebaut. Sechs Seile, die über die Raumecke gespannt sind, erinnern an die Takelage von Segelschiffen. Hinter den Seilen und darin eingearbeitet befinden sich Blechplatten und Holzlatten. Dem Werk sieht man an, dass Tatlin jahrelang zur See fuhr, bevor er sich der Kunst zuwandte. Er war der Ingenieur unter den Avantgardisten und baute später den Flugapparat Letatlin, mit dem er nur mit Muskelkraft in die Luft abzuheben beabsichtigte, was allerdings nie gelang.

Vorboten der Oktoberrevolution

Die Atmosphäre politischer Unruhe nach der ersten Russischen Revolution von 1905 muss sich sehr anregend auf die St. Petersburger KünstlerInnen ausgewirkt haben. Mit ihren Provokationen in der Öffentlichkeit waren sie Vorboten der Oktoberrevolution 1917. Eine wichtige Rolle in der damaligen Kunstszene spielten auch Iwan Puni und Xenia Boguslawskaja. Das vermögende Künstlerehepaar lebte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs einige Zeit lang in Paris. Nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg vereinte es die kubofuturistischen MalerInnen und stachelte sie zu gegen das Establishment gerichteten Provokationen an.

Es waren Boguslawskaja und Puni, die die «Trambahn W»-Ausstellung im März 1915 initiiert hatten – sinnigerweise in einer von Zar Nikolaus II. unterstützten Institution, nämlich in der Kaiserlichen Gesellschaft zur Förderung der Kunst. Die Einnahmen aus den Eintritten gingen an einen Fonds für Künstler, die als Soldaten im Kriegsdienst verwundet worden waren.

Neuer Blick auf «0,10»

Nichts brachte die russischen AvantgardistInnen näher zusammen als der Akademismus in der Kunst, den sie alle ablehnten. Hinzu kamen persönliche Beziehungen, Liebesaffären und ideologische Bündnisse, die als Kitt wie auch als Zentrifugalkraft wirkten. Nach der Eröffnung von «0,10» indes kam es unter der Ausstellungsgruppe zu Intrigen, Rivalitäten, Streitereien und Beleidigungen. Ausserdem waren die Besprechungen in der Presse vernichtend. Die Ausstellung «0,10» galt als riesiger Misserfolg, aus dem nur Malewitsch und Tatlin als bleibende Grössen hervorgingen.

Doch Gastkurator Matthew Drutt hat für die Ausstellung in Riehen weitere Werke der St. Petersburger Ausstellungsgruppe zusammengetragen und im Katalog dokumentiert – und das ermöglicht eine neue Sicht auf «0,10»: Die Gruppe bestand nämlich zur Hälfte aus Frauen, deren Werke nicht weniger spannend sind als jene der männlichen Mitglieder. Olga Rosanowa beispielsweise war mit nicht weniger als elf Werken vertreten. Sie war jahrelang mit dem futuristischen Dichter Alexei Krutschonych liiert, der unter anderem das Libretto zur ersten futuristischen Oper «Sieg über die Sonne» verfasst hatte.

Nach der Oktoberrevolution leitete Rosanowa mit Alexander Rodtschenko die Unterabteilung für Kunst und Industriedesign des Volkskommissariats für Bildung. Sie publizierte in der Zeitung «Anarchie» und starb, erst 32-jährig, an Diphterie. Ihre Werke, wie auch die der anderen AvantgardistInnen, verschwanden während des Stalinismus aus den Museen. Moderne Kunst galt als dekadent und wertlos.

«Auf der Suche nach 0,10 – die letzte futuristische Ausstellung der Malerei» ist noch bis 10. Januar 2016 in der Fondation Beyeler in Riehen zu sehen.